"Der Mensch scheint heute von der Angst
getrieben, etwas zu verpassen"

Der Alpenforscher Werner Bätzing im Aurora-Gespräch (1.Teil)

Der "Urlaub in den Alpen" ist ebenso wie die "Fahrt in den Süden" zu
einem europäischen Kulturphänomen ersten Ranges geworden. Auch wenn sich
seine Marktbedeutung seit Mitte der 1980iger aus verschiedenen Gründen verringert,
ist er eine ganz wesentliche Realität und bedarf deshalb einer ständigen
Neuorientierung und -bewertung.


Aurora-Magazin: Weit über 100 Millionen Gäste besuchen alljährlich die Alpen. Was ist so faszinierend an dieser Region?

Bätzing: Es gibt wenige Landschaften in Europa, die im Verlauf der Kulturgeschichte so starke Bilder hervorgebracht haben wie die Alpen. Dieses Hochgebirge mitten zwischen dicht besiedelten Kernräumen Europas - von Turin, Mailand, Genf oder München aus sieht man die schneebedeckten Alpengipfel - provozierte die Menschen stets besonders stark, sich über ihre Beziehung zur Natur Gedanken zu machen. Deshalb waren die Alpen seit der römischen Antike stets Projektionsfläche der städtischen Hochkulturen: Bis 1760 dominierte die Sicht der Alpen als "montes horribiles" - die Städter projizierten ihre Angst vor der Natur auf die Alpen und verdrängten sie in ihrer unmittelbaren Umgebung -, ab 1760 dominiert die Sicht der "schönen Landschaft": Die Industriegesellschaft verklärt und bewundert die Natur in den Alpen am Sonntag als Kompensation zu ihrer grenzenlosen Vernutzung am Werktag. Die Faszination der Alpen hängt nur mittelbar mit diesen Bergen zusammen - sie ist untrennbar mit den Wandlungen der europäischen Kulturgeschichte verbunden und dafür vielleicht ihr eindrucksvollstes Spiegelbild.

Aurora-Magazin: Was unterscheidet die Alpen von anderen Gebirgsregionen? Anders gefragt: Was haben die Alpen, was andere Gebirge nicht haben?

Bätzing: Der zentrale Unterschied ist wie schon angedeutet, dass die Alpen als relativ kleines Hochgebirge mitten zwischen sehr dicht besiedelten und wirtschaftlich sehr dynamischen Regionen liegen - diese Situation gibt es weltweit kein zweitesmal: In der Regel liegen die großstädtischen Zentren weit von den Hochgebirgen entfernt, oder, wo sie doch ganz in der Nähe liegen, z.B. die japanischen Alpen, sind die Hochgebirge praktisch unbesiedelt und ungenutzt. Weil die Alpen schon immer ganz zentral in Europa gelegen haben, zumindest seit den Zeiten des Römischen Reiches, vorher war das anders, wurde sie in die Wirtschafts- und Kulturentwicklung so stark eingebunden wie kein zweites Hochgebirge.

Aurora-Magazin: Sind die Gründe, warum die Menschen in die Alpen kommen, nach wie vor die gleichen oder hat sich hier etwas verändert?

Bätzing: Die Basis der Alpenbegeisterung und des gesamten Tourismus hing lange Zeit am "romantischen Alpenbild", in dem die Alpen als schöne oder erhabene Landschaft präsentiert wurden und das mit der Industriegesellschaft bzw. fast zeitgleich mit der Industriellen Revolution entstand. Mit dem Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft (Von einer solchen ist zu sprechen, wenn mehr als 50% der Erwerbstätigen im III.Wirtschaftssektor arbeiten, dies wird in Europa in der ersten Hälfte der 1970er Jahre erreicht.) ändert sich auch das Alpenbild: Die "schönen Alpen" verblassen, eine bloß schöne Landschaft wird langweilig und erregt nicht mehr. Aufregend im direkten Wortsinne sind jetzt nur noch direkte Körpersensationen und -empfindungen wie beim Abfahrtsskilauf, Mountainbiking, Paragliding usw. So werden die Alpen seit Mitte der 1980er Jahre zur Sportarenea umfunktioniert. Da aber solche körperlichen Sensationen auch woanders erlebt werden können, z.B. in Funparks oder Freizeitzentren, verlieren die Alpen ihre zuvor privilegierte und einmalige Position in Europa. Sie zehren zwar noch von ihrem Nachruhm, fangen aber an, sich in die "Normalität" einzureihen. Dies ist m.E. ein Grund dafür, dass der Alpentourismus seit etwa 1985 nicht mehr wächst, sondern stagniert und damit in Europa Marktanteile verliert.

Aurora-Magazin: Wie beurteilen Sie generell die Marktchancen des alpinen Tourismus für die nahe Zukunft bzw. wie müsste ein zukunftsfähiger alpiner Tourismus für Sie aussehen?

Bätzing: Die aktuelle Situation ist dadurch geprägt, dass der Tourismus seit Mitte der 1980er Jahre alpenweit nicht mehr wächst, dadurch insgesamt Marktanteile verliert, und dass als Reaktion darauf derzeit dasjenige passiert, was im Rahmen der Marktwirtschaft logisch und konsequent ist, nämlich massive Vergrößerung der Betriebsstrukturen und massive Angebotserweiterungen. War der alpine Tourismus lange Zeit sehr kleinbetrieblich strukturiert, so bilden sich derzeit immer mehr Großstrukturen heraus - führend dabei die "Compagnie des Alpes" aus Frankreich, der 12 Skistationen gehören - , die die kleinen Anbieter, d.h. Einheimische mit Haupt- oder Nebenerwerb im Tourismus und die kleinen Tourismusorte vom Markt verdrängen und die zur einer Konzentration des Angebotes in immer weniger Händen und auch in außeralpinem Kapitalbesitz führen. Dies wird begleitet von einem erneuten, massivem Ausbau der touristischen Infrastrukturen (Bergbahnen, Skigebiete), der im Jahr 1999 z.B. mit der Erschließung des Naturschutzgebiets "Wilde Krimml" begann. Rein betriebswirtschaftlich dürfte sich dadurch die wirtschaftliche Situation des Alpentourismus verbessern, aber volkswirtschaftlich sieht es anders aus: Durch die Verdrängung der einheimischen Anbieter vom Tourismusmarkt der Alpen sind die regionalwirtschaftlichen Auswirkungen auf die Alpen negativ: Sie werden als Lebens und Wirtschaftsraum nachhaltig geschwächt. Die zentrale Frage ist, auf welche Weise die neuen Großanbieter die Alpen touristisch vermarkten werden - dies erscheint mir derzeit noch völlig offen zu sein: Entweder sie fahren die Strategie der Maximierung der technischen Attraktionen, was die durchgehende Technisierung auch des Sommertourismus bedeuten könnte, oder die Strategie von Fun und Event in Großstrukturen (Typ Ischgl, Sölden) oder die Strategie des "mythischen Erlebnisses" der Alpen als inszenierter Gegenwelt zur städtischen Realität Europas (so Vorschläge von Romeiß-Stracke und anderer Experten), um die Alpen in Europa bzw. in der Welt neu als Freizeitraum zu positionieren. Es ist aber auch denkbar, dass dies nicht gelingt, und dann droht ein ruinöser Verdrängungswettbewerb in wesentlich verschärften Strukturen als heute, so ähnlich wie er heute in der Möbelbranche abläuft. Und dabei würden die Alpen im Konkurrenzkampf touristisch "verramscht", dann würden "Sonderangebote" zu nicht kostendeckenden Preisen so lange dominieren, bis die Angebotsstrukturen entsprechend klein geworden sind. Da solche "Ausverkaufsstrukturen" jedoch das Image des Alpentourismus schwer beschädigen und entwerten, kann dieser Prozess sehr lange anhalten.Dagegen ist zu betonen, dass es sehr wichtig ist, dass der Tourismus in den Händen der Einheimischen bleibt und nicht an anonyme außeralpine Kapitelgesellschaften geht, weil er nur so in den dezentralen regionalwirtschaftlichen Strukturen ein Baustein bleiben kann - was die Basis für Umwelt- und Lebensraumverantwortung darstellt - und dass seine kleinbetriebliche Struktur erhalten bleibt, die Voraussetzung für ein "regionsspezifisches" Angebot ist. Ein regionales, unverwechselbares Angebot zu schaffen und nicht austauschbare, globalisierte "Skierlebnistage", die überall auf der Welt gleich aussehen, darum geht es. Das bedeutet jedoch eine sehr starke Herausforderung für die lokalen und regionalen Akteure in den Alpen.

Aurora-Magazin: Die Tourismuswirtschaft bemüht immer noch das romantische, das „schöne" Alpenbild. Als Felix Mitterer mit seiner „Piefke-Saga" auf die negativen Seiten des Massentourismus hinzeigte und wieder mal bewusst machte, dass es in den Alpen vieles gibt, was gar nicht so heil ist, protestierte man (vor allem nach dem vorher nicht geplanten 4. Teil) heftig gegen diese Form der Alpendarstellung. Was sind für Sie die richtigen Antworten auf Alpenkritiken wie die von Mitterer?

Bätzing: Ich persönlich halte die Piefke-Saga für eine sehr realitätsnahe Darstellung von relevanten Teilen des österreichischen Alpentourismus: In zahlreichen Gemeinden und Betrieben hat die "Goldgräberzeit" des Massentourismus (1955-1985) dazu geführt, dass man alle Werte über Bord geworfen hat - ich habe dies als Phänomen der "Verdrängung" bezeichnet -, um ja nur möglichst schnell von der ärmlichen und armseligen Vergangenheit wegzukommen, und sich allein um die finanzielle Dimension gekümmert. Dass der Alpentourismus heute nicht überzeugend dasteht, hängt auch daran, dass dort, wo er endogen, also von Einheimischen und einheimischem Kapital gestaltet wurde, wo er also eigentlich die besten Voraussetzungen gehabt hätte, kein spezifisches, einmaliges, unverwechselbares Angebot entwickelte, sondern lediglich anonyme, regionsunspezifische Angebote bot, die sich gerade von denen der Großbetriebe nicht unterscheiden bzw. die das gleiche Angebot in schlechterer Qualität machen. Glücklicherweise gibt es eine Reihe von Betrieben und Tourismusgemeinden in den Alpen, die trotzdem spezifische Angebote entwickelt haben und damit demonstrieren, dass es durchaus andere Möglichkeiten gibt.

Aurora-Magazin: Muss nicht jede Kritik am Alpentourismus bedenken, dass es hier für diesen Wirtschaftszweig keine vergleichbare Alternative gibt?

Bätzing: Diese Sichtweise war lange Zeit richtig, aber ich bin der Meinung, dass sie seit 1980-1990 nicht mehr zutrifft: Die Alpen sind verkehrsmäßig so gut erschlossen, die neuen technischen Möglichkeiten (EDV-Entwicklung, Internet usw.) so dezentralisierbar und die Verstädterung der Tallagen der Alpen ist so weit vorangeschritten, dass die Alpen nicht mehr völlig abseits liegen und daher neue wirtschaftliche Möglichkeiten besitzen. Aber die zentrale Frage besteht nicht im OB sondern im WIE: Ich bin nicht dafür, dass die Verstädterung der Alpen weiterhin stark zunimmt und immer mehr Alpentäler erfasst, sondern dafür, dass die Alpen ein dezentral-flächenhafter Lebens- und Wirtschaftsraum bleiben. Dazu braucht es die Kombination mehrerer Einkommen aus den Bereichen Land-/Forstwirtschaft, Handwerk, EDV-Arbeitsplätze, öffentliche Dienstleistungen und eben auch aus dem Tourismus. Aber im Rahmen dieses Konzeptes eines multifunktionalen Raumes braucht es den Tourismus nicht als Monostruktur, sondern als ein Standbein in Kombination mit anderen.

Aurora-Magazin: Soll man in den Alpen nun weitere (touristische) Infrastruktur schaffen oder sind die Alpen genügend erschlossen?

Bätzing: Was die Erschließung der Alpen mit Seilbahnen und Skigebieten betrifft, so sind sie so stark damit erschlossen, dass der weitere Ausbau die Konkurrenzsituation drastisch verschärft, was kontraproduktiv ist. Aber viele Gemeinden und Täler, die entweder gar keinen Tourismus haben, ca. 40% aller Alpengemeinden gehören dazu, oder deren Tourismus nur in Ansätzen besteht, wären gut beraten, ein Tourismusangebot in umwelt- und sozialverträglichen Formen als komplementäre Einkommensquelle aufzubauen. Allerdings wäre es aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten her undenkbar, wenn diese Gemeinden mit den etablierten Tourismusgemeinden im Angebot konkurrieren wollten, deshalb müssen sie sich auf einen nicht-technisierten Tourismus konzentrieren, dessen Stärke auf seinem Orts- und Regionsbezug besteht.

Aurora-Magazin: Mit dem steigenden Umweltbewusstsein kam im Tourismus die Idee vom „sanften Tourismus" auf. Wie kann man sich einen sanften Sommer- bzw. Winterurlaub konkret vorstellen?

Bätzing: Das klassische Beispiel für einen "sanften Tourismus" ist der Weitwanderweg "Grande Traverasata delle Alpi/GTA" in Piemont (Informationen: www.gtaweb.de): Der Weg benutzt ausschließlich bestehende, traditionelle Wege, die meist kaum noch genutzt werden und daher dafür hergerichtet, also aufgewertet werden müssen, und er ist so konzeptioniert, dass am Ende jeder Tagesetappe ein Dorf oder Weiler liegt, in dem man in einer einfachen Unterkunft übernachtet (kleine lokale Pension, ehemals leerstehende Gebäude, die dafür hergerichtet wurden u.ä.). Damit wird eine Tourismusstruktur geschaffen, die vollständig von Einheimischen aufgebaut und betreut wird, die vom wirtschaftlichen Ertrag direkt profitieren (Effekt für Anbieter), und die Wanderer erleben durch die Wegführung die Alpen aus der Perspektive der Bauern und der Einheimischen und nicht aus der touristischen Sicht wie bei einer Alta Via (Effekt für Nachfrager). Im Winter wäre ein sanftes Angebot der Aufenthalt in einem lokalen Gasthaus oder einem Hotel von Einheimischen und die Ausübung von Langlauf und von Skitouren ohne mechanische Hilfen, aber unter Berücksichtigung der umweltverträglichen Routengestaltung.

Aurora-Magazin: Wenn man an Phänomene wie das Aprésski denkt, fragt man sich: Wollen die Alpentouristen überhaupt einen sanften Urlaub? Sind Aktivitäten wie das Wandern oder das bloße Schauen nicht altmodische Tätigkeiten?

Bätzing: Sieht man sich die Nachfrageergebnisse von sanften Angeboten im Alpenraum an, dann muss man leider feststellen, dass dieses Angebot keine relevante Rolle spielt. Allerdings hängt das m.E. nicht direkt damit zusammen, dass die Menschen keinen sanften Urlaub wollen, sondern es ist komplizierter: Der postmoderne Mensch erscheint mir heute sehr stark durch die Angst getrieben zu sein, etwas zu verpassen oder etwas nicht optimal genug zu erleben. Dies führt dazu, dass bevorzugt Urlaubsorte aufgesucht werden, die ein komplettes Angebot bieten, in denen man alle möglichen Alternativen im Urlaub realisieren kann. Konkrete Untersuchungen zeigen dann, dass die meisten Menschen am Urlaubsort gar nicht diese umfassenden Möglichkeiten realisieren, sondern die "klassischen" Verhaltensweisen faulenzen, essen gehen, spazierengehen, leichte Wanderungen u.ä. praktizieren, was m.E. etwas sehr Positives ist. Insofern wären sie eigentlich an einem Ort ohne die umfassenden Möglichkeiten besser aufgehoben, aber dies würde bedeuten, dass sie von vornherein die bewusste Entscheidung fällen, die anderen Möglichkeiten nicht zu realisieren. Das riecht jedoch in unserer postmodernen Gesellschaft als Einschränkung der Freiheit, als Verzicht, als Zurücknahme - und gerade das will man ja im Urlaub nicht. Deshalb ist es derzeit so schwer, einen sanften Tourismus besser zu vermarkten.


Das Interview führte Hermann Maier
(hmann@gmx.at)

 


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