Werner Bätzing
wbaetz@geographie.
uni-erlangen.de
Jahrgang 1949,
Studium der
Evangelischen Theologie und
der Philosophie (1968-1974),
Ausbildung zum Sortiments-
buchhändler und Buchhersteller
und berufliche Tätigkeit in Berlin
(1976-1985), Studium der
Geographie und Philosophie an
der TU Berlin (1983-1987),
Assistent am Geographischen
Institut der Universität Bern
(1988-1995), seit 1995 Profes-
sor für Kulturgeographie an der
Universität Erlangen-Nürnberg.
Publikationen
Die Alpen (München
2003),
Kleines Alpen-Lexikon (München 1997), Monographie
über Gastein (1985), zwei
Monographien über ein sich
entsiedelndes Alpental in
Piemont (1988 und 1991).
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Aurora-Magazin: Weit über 100 Millionen Gäste besuchen alljährlich
die Alpen. Was ist so faszinierend an dieser Region?
Bätzing:
Es gibt wenige Landschaften in Europa, die im Verlauf der Kulturgeschichte
so starke Bilder hervorgebracht haben wie die Alpen. Dieses Hochgebirge
mitten zwischen dicht besiedelten Kernräumen Europas - von Turin, Mailand,
Genf oder München aus sieht man die schneebedeckten Alpengipfel -
provozierte die Menschen stets besonders stark, sich über ihre Beziehung zur
Natur Gedanken zu machen. Deshalb waren die Alpen seit der römischen Antike
stets Projektionsfläche der städtischen Hochkulturen: Bis 1760 dominierte
die Sicht der Alpen als "montes horribiles", der furchtbaren, unwirtlichen
Alpen - die Städter projizierten ihre Angst vor der Natur auf die Alpen und
verdrängten sie in ihrer unmittelbaren Umgebung -, ab 1760 dominiert die
Sicht der "schönen Landschaft": Die Industriegesellschaft verklärt und
bewundert die Natur in den Alpen am Sonntag, in der Freizeit als
Kompensation zu ihrer grenzenlosen Vernutzung am Werktag. Die Faszination
der Alpen hängt nur mittelbar mit diesen Bergen zusammen - sie ist
untrennbar mit den Wandlungen der europäischen Kulturgeschichte verbunden
und dafür vielleicht ihr eindrucksvollstes Spiegelbild.
Aurora-Magazin:
Was unterscheidet die Alpen von anderen Gebirgsregionen? Anders gefragt:
Was haben die Alpen, was andere Gebirge nicht haben?
Bätzing:
Der zentrale Unterschied ist wie schon angedeutet, dass die Alpen als
relativ kleines Hochgebirge mitten zwischen sehr dicht besiedelten und
wirtschaftlich sehr dynamischen Regionen liegen - diese Situation gibt es
weltweit kein zweitesmal: In der Regel liegen die großstädtischen Zentren
weit von den Hochgebirgen entfernt, oder, wo sie doch ganz in der Nähe
liegen, z.B. die japanischen Alpen, sind die Hochgebirge praktisch
unbesiedelt und ungenutzt. Weil die Alpen schon immer ganz zentral in Europa
gelegen haben, zumindest seit den Zeiten des Römischen Reiches, vorher war
das anders, wurde sie in die Wirtschafts- und Kulturentwicklung so stark
eingebunden wie kein zweites Hochgebirge.
Aurora-Magazin: Sind
die Gründe, warum die Menschen in die Alpen kommen, nach wie vor die
gleichen oder hat sich hier etwas verändert?
Bätzing:
Die Basis der Alpenbegeisterung und des gesamten Tourismus hing lange Zeit
am "romantischen Alpenbild", in dem die Alpen als schöne oder erhabene
Landschaft präsentiert wurden und das mit der Industriegesellschaft bzw.
fast zeitgleich mit der Industriellen Revolution entstand. Mit dem Übergang
von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft (Von einer solchen ist zu
sprechen, wenn mehr als 50% der Erwerbstätigen im III.Wirtschaftssektor
arbeiten, dies wird in Europa in der ersten Hälfte der 1970er Jahre
erreicht.) ändert sich auch das Alpenbild: Die "schönen Alpen" verblassen,
eine bloß schöne Landschaft wird langweilig und erregt nicht mehr. Aufregend
im direkten Wortsinne sind jetzt nur noch direkte Körpersensationen und
-empfindungen wie beim Abfahrtsskilauf, Mountainbiking, Paragliding usw. So
werden die Alpen seit Mitte der 1980er Jahre zur Sportarenea umfunktioniert.
Da aber solche körperlichen Sensationen auch woanders erlebt werden können,
z.B. in Funparks oder Freizeitzentren, verlieren die Alpen ihre zuvor
privilegierte und einmalige Position in Europa. Sie zehren zwar noch von
ihrem Nachruhm, fangen aber an, sich in die "Normalität" einzureihen. Dies
ist m.E. ein Grund dafür, dass der Alpentourismus seit etwa 1985 nicht mehr
wächst, sondern stagniert und damit in Europa Marktanteile verliert.
Aurora-Magazin:
Wie beurteilen Sie generell die Marktchancen des alpinen Tourismus für
die nahe Zukunft bzw. wie müsste ein zukunftsfähiger alpiner Tourismus
für Sie aussehen?
Bätzing:
Die aktuelle Situation ist dadurch geprägt, dass der Tourismus seit Mitte
der 1980er Jahre alpenweit nicht mehr wächst, dadurch insgesamt Marktanteile
verliert, und dass als Reaktion darauf derzeit dasjenige passiert, was im
Rahmen der Marktwirtschaft logisch und konsequent ist, nämlich massive
Vergrößerung der Betriebsstrukturen und massive Angebotserweiterungen. War
der alpine Tourismus lange Zeit sehr kleinbetrieblich strukturiert, so
bilden sich derzeit immer mehr Großstrukturen heraus - führend dabei die
"Compagnie des Alpes" aus Frankreich, der 12 Skistationen gehören - , die
die kleinen Anbieter, d.h. Einheimische mit Haupt- oder Nebenerwerb im
Tourismus und die kleinen Tourismusorte vom Markt verdrängen und die zur
einer Konzentration des Angebotes in immer weniger Händen und auch in
außeralpinem Kapitalbesitz führen. Dies wird begleitet von einem erneuten,
massivem Ausbau der touristischen Infrastrukturen (Bergbahnen, Skigebiete),
der im Jahr 1999 z.B. mit der Erschließung des Naturschutzgebiets "Wilde
Krimml" begann. Rein betriebswirtschaftlich dürfte sich dadurch die
wirtschaftliche Situation des Alpentourismus verbessern, aber
volkswirtschaftlich sieht es anders aus: Durch die Verdrängung der
einheimischen Anbieter vom Tourismusmarkt der Alpen sind die
regionalwirtschaftlichen Auswirkungen auf die Alpen negativ: Sie werden als
Lebens und Wirtschaftsraum nachhaltig geschwächt. Die zentrale Frage ist,
auf welche Weise die neuen Großanbieter die Alpen touristisch vermarkten
werden - dies erscheint mir derzeit noch völlig offen zu sein: Entweder sie
fahren die Strategie der Maximierung der technischen Attraktionen, was die
durchgehende Technisierung auch des Sommertourismus bedeuten könnte, oder
die Strategie von Fun und Event in Großstrukturen (Typ Ischgl, Sölden) oder
die Strategie des "mythischen Erlebnisses" der Alpen als inszenierter
Gegenwelt zur städtischen Realität Europas (so Vorschläge von Romeiß-Stracke
und anderer Experten), um die Alpen in Europa bzw. in der Welt neu als
Freizeitraum zu positionieren. Es ist aber auch denkbar, dass dies nicht
gelingt, und dann droht ein ruinöser Verdrängungswettbewerb in wesentlich
verschärften Strukturen als heute, so ähnlich wie er heute in der
Möbelbranche abläuft. Und dabei würden die Alpen im Konkurrenzkampf
touristisch "verramscht", dann würden "Sonderangebote" zu nicht
kostendeckenden Preisen so lange dominieren, bis die Angebotsstrukturen
entsprechend klein geworden sind. Da solche "Ausverkaufsstrukturen" jedoch
das Image des Alpentourismus schwer beschädigen und entwerten, kann dieser
Prozess sehr lange anhalten.Dagegen ist zu betonen, dass es sehr wichtig
ist, dass der Tourismus in den Händen der Einheimischen bleibt und nicht an
anonyme außeralpine Kapitelgesellschaften geht, weil er nur so in den
dezentralen regionalwirtschaftlichen Strukturen ein Baustein bleiben kann -
was die Basis für Umwelt- und Lebensraumverantwortung darstellt - und dass
seine kleinbetriebliche Struktur erhalten bleibt, die Voraussetzung für ein
"regionsspezifisches" Angebot ist. Ein regionales, unverwechselbares Angebot
zu schaffen und nicht austauschbare, globalisierte "Skierlebnistage", die
überall auf der Welt gleich aussehen, darum geht es. Das bedeutet jedoch
eine sehr starke Herausforderung für die lokalen und regionalen Akteure in
den Alpen.
Aurora-Magazin:
Die Tourismuswirtschaft bemüht immer noch das romantische, das "schöne"
Alpenbild. Als Felix Mitterer mit seiner "Piefke-Saga" auf die negativen
Seiten des Massentourismus hinzeigte und wieder mal bewusst machte, dass
es in den Alpen vieles gibt, was gar nicht so heil ist, protestierte man
(vor allem nach dem vorher nicht geplanten 4. Teil) heftig gegen diese
Form der Alpendarstellung. Was sind für Sie die richtigen Antworten auf
Alpenkritiken wie die von Mitterer?
Bätzing:
Ich persönlich halte die Piefke-Saga für eine sehr realitätsnahe Darstellung
von relevanten Teilen des österreichischen Alpentourismus: In zahlreichen
Gemeinden und Betrieben hat die "Goldgräberzeit" des Massentourismus
(1955-1985) dazu geführt, dass man alle Werte über Bord geworfen hat - ich
habe dies als Phänomen der "Verdrängung" bezeichnet -, um ja nur möglichst
schnell von der ärmlichen und armseligen Vergangenheit wegzukommen, und sich
allein um die finanzielle Dimension gekümmert. Dass der Alpentourismus heute
nicht überzeugend dasteht, hängt auch daran, dass dort, wo er endogen, also
von Einheimischen und einheimischem Kapital gestaltet wurde, wo er also
eigentlich die besten Voraussetzungen gehabt hätte, kein spezifisches,
einmaliges, unverwechselbares Angebot entwickelte, sondern lediglich
anonyme, regionsunspezifische Angebote bot, die sich gerade von denen der
Großbetriebe nicht unterscheiden bzw. die das gleiche Angebot in
schlechterer Qualität machen. Glücklicherweise gibt es eine Reihe von
Betrieben und Tourismusgemeinden in den Alpen, die trotzdem spezifische
Angebote entwickelt haben und damit demonstrieren, dass es durchaus andere
Möglichkeiten gibt.
Aurora-Magazin:
Muss nicht jede Kritik am Alpentourismus bedenken, dass es hier für
diesen Wirtschaftszweig keine vergleichbare Alternative gibt?
Bätzing:
Diese Sichtweise war lange Zeit richtig, aber
ich bin der Meinung, dass sie seit 1980-1990 nicht mehr zutrifft: Die Alpen
sind verkehrsmäßig so gut erschlossen, die neuen technischen Möglichkeiten
(EDV-Entwicklung, Internet usw.) so dezentralisierbar und die Verstädterung
der Tallagen der Alpen ist so weit vorangeschritten, dass die Alpen nicht
mehr völlig abseits liegen und daher neue wirtschaftliche Möglichkeiten
besitzen. Aber die zentrale Frage besteht nicht im OB sondern im WIE: Ich
bin nicht dafür, dass die Verstädterung der Alpen weiterhin stark zunimmt
und immer mehr Alpentäler erfasst, sondern dafür, dass die Alpen ein
dezentral-flächenhafter Lebens- und Wirtschaftsraum bleiben. Dazu braucht es
die Kombination mehrerer Einkommen aus den Bereichen Land-/Forstwirtschaft,
Handwerk, EDV-Arbeitsplätze, öffentliche Dienstleistungen und eben auch aus
dem Tourismus. Aber im Rahmen dieses Konzeptes eines multifunktionalen
Raumes braucht es den Tourismus nicht als Monostruktur, sondern als ein
Standbein in Kombination mit anderen.
Aurora-Magazin:
Soll man in den Alpen nun weitere (touristische) Infrastruktur schaffen
oder sind die Alpen genügend erschlossen?
Bätzing:
Was die Erschließung der Alpen mit Seilbahnen und Skigebieten betrifft, so
sind sie so stark damit erschlossen, dass der weitere Ausbau die
Konkurrenzsituation drastisch verschärft, was kontraproduktiv ist. Aber
viele Gemeinden und Täler, die entweder gar keinen Tourismus haben, ca. 40%
aller Alpengemeinden gehören dazu, oder deren Tourismus nur in Ansätzen
besteht, wären gut beraten, ein Tourismusangebot in umwelt- und
sozialverträglichen Formen als komplementäre Einkommensquelle aufzubauen.
Allerdings wäre es aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten her undenkbar, wenn
diese Gemeinden mit den etablierten Tourismusgemeinden im Angebot
konkurrieren wollten, deshalb müssen sie sich auf einen nicht-technisierten
Tourismus konzentrieren, dessen Stärke auf seinem Orts- und Regionsbezug
besteht.
Aurora-Magazin:
Mit dem steigenden Umweltbewusstsein kam im Tourismus die Idee vom
"sanften Tourismus" auf. Wie kann man sich einen sanften Sommer- bzw.
Winterurlaub konkret vorstellen?
Bätzing:
Das klassische Beispiel für einen "sanften Tourismus" ist der Weitwanderweg
"Grande Traverasata delle Alpi/GTA" in Piemont (Informationen:
www.gtaweb.de): Der Weg benutzt
ausschließlich bestehende, traditionelle Wege, die meist kaum noch genutzt
werden und daher dafür hergerichtet, also aufgewertet werden müssen, und er
ist so konzeptioniert, dass am Ende jeder Tagesetappe ein Dorf oder Weiler
liegt, in dem man in einer einfachen Unterkunft übernachtet (kleine lokale
Pension, ehemals leerstehende Gebäude, die dafür hergerichtet wurden u.ä.).
Damit wird eine Tourismusstruktur geschaffen, die vollständig von
Einheimischen aufgebaut und betreut wird, die vom wirtschaftlichen Ertrag
direkt profitieren (Effekt für Anbieter), und die Wanderer erleben durch die
Wegführung die Alpen aus der Perspektive der Bauern und der Einheimischen
und nicht aus der touristischen Sicht wie bei einer Alta Via (Effekt für
Nachfrager). Im Winter wäre ein sanftes Angebot der Aufenthalt in einem
lokalen Gasthaus oder einem Hotel von Einheimischen und die Ausübung von
Langlauf und von Skitouren ohne mechanische Hilfen, aber unter
Berücksichtigung der umweltverträglichen Routengestaltung.
Aurora-Magazin:
Wenn man an Phänomene wie das Aprésski denkt, fragt man sich: Wollen die
Alpentouristen überhaupt einen sanften Urlaub? Sind Aktivitäten wie das
Wandern oder das bloße Schauen nicht altmodische Tätigkeiten?
Bätzing:
Sieht man sich die Nachfrageergebnisse von
sanften Angeboten im Alpenraum an, dann muss man leider feststellen, dass
dieses Angebot keine relevante Rolle spielt. Allerdings hängt das m.E. nicht
direkt damit zusammen, dass die Menschen keinen sanften Urlaub wollen,
sondern es ist komplizierter: Der postmoderne Mensch erscheint mir heute
sehr stark durch die Angst getrieben zu sein, etwas zu verpassen oder etwas
nicht optimal genug zu erleben. Dies führt dazu, dass bevorzugt Urlaubsorte
aufgesucht werden, die ein komplettes Angebot bieten, in denen man alle
möglichen Alternativen im Urlaub realisieren kann. Konkrete Untersuchungen
zeigen dann, dass die meisten Menschen am Urlaubsort gar nicht diese
umfassenden Möglichkeiten realisieren, sondern die "klassischen"
Verhaltensweisen faulenzen, essen gehen, spazierengehen, leichte Wanderungen
u.ä. praktizieren, was m.E. etwas sehr Positives ist. Insofern wären sie
eigentlich an einem Ort ohne die umfassenden Möglichkeiten besser
aufgehoben, aber dies würde bedeuten, dass sie von vornherein die bewusste
Entscheidung fällen, die anderen Möglichkeiten nicht zu realisieren. Das
riecht jedoch in unserer postmodernen Gesellschaft als Einschränkung der
Freiheit, als Verzicht, als Zurücknahme - und gerade das will man ja im
Urlaub nicht. Deshalb ist es derzeit so schwer, einen sanften Tourismus
besser zu vermarkten.
Aurora-Magazin:
Herr Bätzing, vielen Dank für das Gespräch!
Erstes Interview mit Werner Bätzing
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