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"Immer diese gegenseitigen Schuldzuweisungen!"

Veronika Bennholdt-Thomsen im Aurora-Interview

Die Beziehung zum Land ist gründlich gestört. Nun geht es aber gar nicht
darum, das Land durch eine Imagekampagne aufzuwerten, "sondern darum, es nicht
länger abgetrennt zu betrachten. Unser aller Wurzeln stecken in der Erde, von daher
kommt unsere Nahrung. Die Tatsache, dass dieses Bewusstsein immer mehr ausgemerzt
wird, in der Stadt, wie auf dem Land, ist ein gesamtgesellschaftliches Problem."

Von Hermann Maier
(01. 07. 2005)

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Veronika Bennholdt-Thomsen
itps@tgkm.uni-bielefeld.de

Ethnologin und Soziologin,
hat lange Jahre in Mexiko
gelebt und geforscht. Sie ist
Leiterin des außeruniversitären
"Instituts für Theorie und Praxis
der Subsistenz, e.V.", Bielefeld
und Honorarprofessorin an der
Universität für Bodenkultur,
Wien.

 Publikationen

There is an Alternative:
Subsistence and Worldwide Resistence to Corporate Globalization, hrsg. Zusammen mit Nicholas Faraclas u. Claudia von Werlhof, Zed Books, London/New York 2001;

FrauenWirtschaft. Juchitán – Mexikos Stadt der Frauen, zusammen mit Mechtild Müser und Cornelia Suhan, Frederking und Thaler Verlag, München 2000;

Das Subsistenzhandbuch.
Widerstandskulturen in Europa, Asien und Lateinamerkika, hrsg. zusammen mit Brigitte Holzer und Christa Müller, promedia Verlag, Wien 1999;

Eine Kuh für Hillary.
Die Subsistenzperspektive, zusammen mit Maria Mies, Verlag Frauenoffensive, München 1997.
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Aurora-Magazin: Frau Bennholdt-Thomsen, wie kommt man als Wissenschaftlerin dazu, sich mit Landwirtschaft zu beschäftigen?

Bennholdt-Thomsen: Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Zwar als Tochter des Dorfschullehrers, aber ich war immer auf den Höfen unterwegs, in den Ställen, auf den Feldern, bei den Bäuerinnen in der Küche. Das ist sicher ein Grund. Der andere ist mein Studium der Sozialanthropologie (Völkerkunde) in Mexiko. Die indianische Bevölkerung ist bäuerlich und ihre vordringlichsten Probleme hängen mit der Zerstörung ihrer Landwirtschaft durch die Entwicklungspolitik zusammen. Darüber habe ich geforscht. Und siehe da, bei uns in Europa ist die Lage ganz ähnlich.

Aurora-Magazin: Worin liegt Ihrer Meinung nach der Grund, dass sich so wenige Intellektuelle mit dem Thema Land bzw. Landwirtschaft befassen?

Bennholdt-Thomsen: Na ja, es bringt halt kein Prestige. An den Universitäten wird kaum über die ländliche Gesellschaft nachgedacht, sprich, die Agrarsoziologie ist im Aussterben, wie die Bäuerinnen und Bauern auch. Die haben auch kein Ansehen in der Gesellschaft und kaum Fürsprecher. Unsere Wissenschaften sind insgesamt fast ausschließlich technik- und fortschrittsgläubig, im modernen, d.h. aktuell im neoliberalen Sinn. In dieser Weise befasst man sich sehr wohl mit der Landwirtschaft, nämlich an den landwirtschaftlichen Hochschulen und Fakultäten. Die sind doch letztlich alle nur auf Produktions- und Profitsteigerung ausgerichtet.

Aurora-Magazin: Sie schreiben an einer Stelle etwas wie mir scheint Bemerkenswertes, nämlich dass "das größte Problem unserer Epoche darin besteht, dass wir über keinen befreienden Diskurs jenseits des sozialistischen und des bürgerlich-kapitalistischen verfügen. Beide sind städtisch, beide sind technikgläubig, beide sehen Freiheit nur jenseits des Reiches der Notwendigkeit, jenseits der Naturabhängigkeit." – Könnten Sie das noch etwas näher ausführen und skizzieren, auf welchen Grundlagen eine "zukünftige Gesellschaft" Ihrer Ansicht nach gebaut werden müsste.

Bennholdt-Thomsen: Wir verfügen über keinen pro-bäuerlichen Diskurs. Damit ist sowohl die Weise gemeint, in der geredet wird, als auch die Weise, wie gehandelt wird, in der Politik wie beim Einkaufen. In Frankreich ist man wenigstens noch stolz auf den eigenen Käse, der, ganz bäuerlich, in jeder Region anders ist. Vor diesem Hintergrund sperrt sich auch die französische Politik gegen manche sinnlose Hygienevorschrift im Rahmen der WTO, die doch nur die großindustrielle Produktion und Vereinheitlichung fördert. Ich meine, dass die Franzosen deshalb auch in der Lage sind, ihr eigenes Kino, ihre Filme gegenüber der Vereinnahmung durch Hollywood zu schützen. Das hängt irgendwie zusammen. Auch unsere Gesellschaften in Österreich und Deutschland brauchen den bäuerlichen Eigensinn und die bäuerliche Vielfalt, dann ginge es uns besser. Da ist Österreich sowieso noch viel besser dran als Deutschland. Die Industrialisierung hat zur Proletarisierung geführt, zur Verwandlung der Arbeitenden in Lohnarbeiter/ Lohnarbeiterinnen. Darin ist zweifelsfrei eine Zurichtung der Menschen enthalten; sie werden viel stärker gleichgeschaltet, eben wie Rädchen in einer Maschine, die funktionieren müssen. Kein Wunder, wenn die Befreiungsidee ebenfalls davon infiziert ist. Das war die sozialistische Idee: Die gleichgeschalteten Massen sollten die Macht übernehmen. In so einem Denken kommt die Vielfalt der Menschen, der Natur, der Landschaften und eben der Bauern und Bäuerinnen nicht vor. Oder sie werden sogar als bedrohlich, weil vorgeblich rückständig empfunden. Das können wir selbst bei den aufgeklärtesten sozialistischen Denkern finden, wie z.B. bei Ernst Bloch oder André Gorz, wie eben schon beim alten Marx selbst. Sie wettern gegen Hierarchie, Macht und Herrschaft, dennoch glauben sie fest an den Maschinenfortschritt und ergo auch an die gleichgeschalteten Rädchen, an Zentralisierung und Produktionsschlacht. Was daran befreiend sein soll, habe ich nie verstanden.

Aurora-Magazin: Ist die "Grün-Bewegung" Ihrer Ansicht nach ein Ausdruck für einen positiven, richtigen "Diskurs der Befreiung"?

Bennholdt-Thomsen: Sie könnte es sein, oder besser gesagt, sie hätte es sein können. Denn so, wie sich die Entwicklung abzeichnet, sind die Grün-Bewegten dabei, entscheidende Chancen zu vertun. Es fehlt eine ernsthafte Fortschrittskritik, eine Kritik der Produktionssteigerung, wie eben beschrieben. Vor allem legt man sich keine Rechenschaft darüber ab, welche gravierenden Probleme in dem Glauben an "je-mehr, je-schneller, je-größer umso besser" enthalten sind. Und welche Probleme in den Austauschbeziehungen, der Art der Vermarktung. So wollen selbst viele Biobauern mit ihren Produkten unbedingt in den Supermarkt. Das wird zu einem Biobauern-Sterben führen, wie es auch sonst zum Bauernsterben geführt hat – und damit zur Verödung der Kulturlandschaft, zu ihrer Entfremdung zum Erlebnispark, ja insgesamt zu einem unglaublichen Kulturverlust. Schließlich wurzelt die europäische Kultur seit Jahrtausenden in der bäuerlichen Kultur.

Aurora-Magazin: Jeder einigermaßen vernünftig wirtschaftende Bauer bestellt heutzutage seine Felder mit dem Traktor, ist die Kritik an Technik und Städtischem nicht also in Wahrheit realitätsfern und rückwärtsgewandt? Anders gefragt: Ist dieses Reden vom "Unsegen der Stadt und der Maschinen" (wie es etwa bei Knut Hamsun, K.H. Waggerl und in jüngerer Zeit: Ivan Illich nachzulesen ist) nicht ein Neinsagen gegen eine Realität, die uns, sowohl in der Stadt als auch auf dem Land, lieb und teuer geworden ist?

Bennholdt-Thomsen: Jein. Weder die Stadt noch Maschinen sind in meinen Augen ein Unsegen, sondern es sind diese Städte und diese Maschinen. Jede Gesellschaft baut sich ihre Städte und ihre Maschinen nach ihren Vorstellungen und Visionen. Das Problem sind die Megastädte, ist das Auto, dieses unsinnigste Massentransportmittel aller Zeiten (Millionen fahren mit ihrem eigenen Auto in dieselbe Richtung, dann steht es in extra gebauten Hochhäusern und zubetonierten Plätzen, den ganzen Tag lang herum usw.), die schlechte, hierarchische Beziehung zwischen Stadt und Land und so fort. Mit anderen Worten, andere Städte und andere Technologie ist möglich, wir müssen sie nur denken.

Aurora-Magazin: Wie müsste man vom Land reden, um ihm gerecht zu werden? Und welches "Reden vom Land können Sie nicht mehr hören?"

Bennholdt-Thomsen: Ich kann die gegenseitigen Schuldzuweisungen von Stadt und Land nicht mehr hören: Von Bauern /Bäuerinnen an DIE Konsumenten – damit meinen sie die dort in der Stadt, und von den anderen, den StädterInnen an die Bauern, weil sie sie entweder für rückständig oder für Umweltverseucher oder Lieferanten vergifteter Nahrungsmittel (Nitrate, BSE ...) oder was weiß ich alles Schlechte halten. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Sind die Bäuerinnen und Bauern etwa keine Konsumenten? Was und wo kaufen die denn ein? Freilich unterliegen sie Zwängen, zumal der EU-Politik, aber sie stützen das Ganze doch auch durch ihre völlig irrationale Solidarität mit denjenigen VertreterInnen der eigenen Verbände, die für die Großen und die Industrie Politik machen, sodaß immer noch mehr kleine und – übrigens stets größere – mittlere Höfe aufgeben müssen. Um nur ein Beispiel zu nennen.

Aurora-Magazin: Allem Anschein nach waren die Menschen noch nie "städtischer" und "naturfremder" als heute. Selbst in Nationen wie Indien, in denen sehr viele Leute am Land und von der Landwirtschaft leben, hat das Landleben keinen sonderlichen Wert mehr. Glauben Sie persönlich, dass es in absehbarer Zeit zu einer "Wiederentdeckung" des Ländlichen, Regionalen und Bäuerlichen kommen wird?

Bennholdt-Thomsen: Ja! Kurz und bündig.

Aurora-Magazin: Maria Mies, Ihre wissenschaftliche Freundin und wichtige Subsistenztheoretikerin, meint, dass man das Land "kulturell und ökonomisch wieder aufwerten müsse". Wie könnte das Ihrem Ermessen nach gelingen?

Bennholdt-Thomsen: Ich bin mir nicht so sicher, dass ich das so ausdrücken würde. Maria Mies vermutlich auch nicht, bzw. das klingt etwas aus dem Zusammenhang gerissen. Da denkt man heutzutage doch ganz schnell an irgendwelche Werbe- oder Imagekampagnen. Die laufen sowieso bereits und sind völlig un-Sinn-ig. Es geht nicht darum, das Land aufzuwerten, sondern darum, es nicht länger abgetrennt zu betrachten. Unser aller Wurzeln stecken in der Erde, von daher kommt unsere Nahrung. Die Tatsache, dass dieses Bewusstsein immer mehr ausgemerzt wird, in der Stadt wie auf dem Land, ist ein gesamtgesellschaftliches Problem: So als würde das künstlich-technisch Hergestellte uns am Leben halten, so als könnte man Geld essen, so als bräuchten wir die Gentechnik, so als bräuchten wir Massenställe oder künstliche Besamung, damit am Schluß ein Stier 100 000 Nachkommen hat und eine Kuh schon nach 3 Jahren geschlachtet wird, weil sie so anfällig geworden ist. Aber gleichzeitig wird dann Werbung für Biodiversität gemacht, womöglich noch von demselben Pharmakonzern, der die Saatzuchtunternehmen aufgekauft hat und die Antibiotika für die Tierzucht bereit hält. Was für ein Zynismus, was für eine Volksverdummung!...

Aurora-Magazin: Frau Bennholdt-Thomsen, vielen Dank für das Gespräch!

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