"Vati,
du holst mir meine Bücher, und ich hol dir deine Zeitschriften. Deal?" Und
schon begibt sich meine Lavinia zum Zeitschriftenregal. Es ist nicht das
erste Mal.
Sie kehrt eine Minute später mit The Walrus, Newsweek,
The Economist, The New Yorker und noch einer dünnen Zeitschrift zurück,
die, wie sie meint, quite empfehlenswert aussehe. Stimmt. Ein Blick
rein kann nicht schaden.
Doch zunächst geht’s Richtung Kinderabteilung. Ich hole
gleich mal ein paar tolle Kinderbücher, die von meinem väterlichen
Standpunkt betrachtet quite empfehlenswert aussehen. Durchaus
empfehlenswert. Und jetzt lesen wir, was das Zeug hält. Reading time @
Chapters. Hugendubel auf gut Kanadisch.
Meine Tochter Lavinia ist die einzige gebürtige
Kanadierin in der Familie. The real deal. The one and only. From coast to
coast to coast gibt es keinen einzigen Grizzly, keinen Bieber, keinen
Moose, keinen Ahorn und keinen Fluss, der so sehr kanadisch sei wie meine
Lavinia. Okay, zugegeben, diese Formulierung ist vom Modus her a little bit
Französisch; na ja, a bisserl, doch das gehört zur Sache. N’est ce pas?
Als sie geboren wurde, wohnten "wir anderen" schon seit
fast zehn Jahren in Toronto. Anno 1998 hatte es mich nämlich mit Frau und
Kleinkind nach Kanada verschlagen. Mein Sohn Theodor war damals fast zwei.
Jetzt studiert er an der University of Toronto. Zu der einen oder der
anderen Party des German Department hab ich ihn ja schon ab Mitte der
Nullerjahre öfters mal mitgenommen, nur so, damit er sich von klein auf
bestens im Dickicht der U of T auskenne. Auf den akademischen Alltag in der
nahen, fernen nordamerikanischen Wildnis.
Man
schreibt das Jahr 2019. Abgesehen von der Politik ist alles in bester
Ordnung. In der prächtigen Provinz Ontario kam nämlich kürzlich –
höchstwahrscheinlich infolge einer zeitweiligen geistigen Vernebelung der
Wählerschaft – ein furchtbarer Depp an die Macht. Doug Ford. Politician with
no reason. Direkt aus dem Steinalter. Welch böser Traum!
Ein Albtraum am Lake Ontario? Nein. Bloß miese Realität.
Alltag auf Widerruf. Tagespolitik. Was soll's.
Unsere Großen Seen sind immer noch großartig, unser
CN-Turm immer noch hoch genug, der Sky Dome (seit geraumer Zeit Rogers
Center genannt) ist immer noch himmlisch, meine Tochter Lavinia immer noch
die beste Fährtenleserin weit und breit. In der Tat eine waschechte
Kanadierin. Ein waschechter Waschbär im Dickicht.
Derzeit schreibt Lavinia gerade an ihrer neuen Story:
Eine elegante Katze, deren Namen ich inzwischen leider schon wieder
vergessen habe, ist eines Tages irgendwo in North York, Toronto spurlos
verschwunden. Alarmstufe Rot! Ein gewiefter französischstämmiger Hund namens
Pierre spürt die Katze auf. Bald wird alles wieder gut. Vive le Quebec! Vive
le Canada! Also hatte es doch eine Spur gegeben. Ich denke, Pierre
ist der beste Privatdetektiv weit und breit.
Man
schreibt das Jahr 2014. "I’m going on a trip on my favourite rocket ship,
flying through the sky, little Einstein", singt meine gerade mal
siebenjährige Tochter Lavinia in einer flotten Boeing 747 unserer guten
alten Air Canada. München liegt hinten, wo die g’schätzten Bayern ihr
sagenhaft cooles bayerisches Bier trinken und ihrer Freistaatlichkeit
gedenken, der Atlantische Ozean tief unten, wo die Blauen Wale Wal-Tennis
spielen, die extra von Tadoussac, Quebec, den ach! … wundersam heimeligen
Sankt-Lorenz-Strom flussabwärts geschwommen sind, um uns zu sehen, und
Toronto winkt am Horizont. Gleich da. Hi!
Heimat bist du großer Söhne. Okay, großer Töchter und
Söhne. That’s it. Dies ist die Heimat meiner Tochter. Das kommt: Dies ist
meine Heimat. My home and native land. Wahlheimat par excellence. Es gibt
keinen festeren Bund zwischen Land und Leuten, es gibt keine höheren Bäume,
keinen reineren Wein, ja keinen besseren Ort zum Lesen, zum Atmen, als man
es nördlich der Großen Seen miterleben darf. Margaret Atwood, Michael
Oondatje, Yann Martel und so weiter.
Der Erie stürzt über die allerprächtigsten Fälle der Welt
in den Niagara River. Der Niagara River, über ihm die Niagara Parkway, eine
der prächtigsten Straßen der Welt, mündet in den Lake Ontario, the greatest
of our Great Lakes. Dieser wiederum spendet unserem guten alten
St.-Lorenz-Strom so viel Wasser, dass sich der Strom flussabwärts von der
idyllischen Île D`Orléans zu einem zunehmend breiten Trichter ausweitet,
der, wie sich bald genug herausstellt, den Wunsch hegt, ein Ästuar zu
werden; ab Tadoussac (etwa 200 weitere Kilometer "down the river") tummeln
sich darin fröhliche Blaue Wale. Allesamt schön brav und multikulturell.
Parc
Omega befindet sich etwa in der Mitte der "scenic route" von Ottawa nach
Mont Tremblant, dem "Bebenden Berg" im Massiv Laurentides. Ein paar
Kilometer von Château Montebello entfernt. Freilich könnte man dabei auch
Highway 417 nehmen. Richtung Osten. Bis Montreal, dem kanadischen
Königsberg. Und dann halt Autoroute 15 Richtung Norden. Aber in diesem Fall
würde man eben nicht an Parc Omega vorbei fahren.
Und in Parc Omega gibt’s Rentiere, Büffel, Bären, Wölfe,
Wildschweine und so weiter und so fort. Außer den Bären und den Wölfen läuft
alles, was vier Beine hat, frei über die Wildlife-Park-Straße. Was heißen
will: sämtliche "Insassen" außer den Karnivoren.
Besucht haben wir den Wildlife Park dreimal. Lediglich
das letzte Mal rammte ein g’schätzter Herr Büffel one unseren getreuen Chevy
Malibu. Seitwärts. Meine Tür. Alles gut?
Alles gut. Vor allem, weil der Motor, der aus ungeklärten
Gründen zu der Zeit seit einem Tag immer wieder mal "starb", um dann
jeweils problemlos "aufzuerstehen", uns nicht auf der Strecke bleiben ließ.
Merci, l’engine! Wie gesagt: Chevy. Unser braver, sparsamer, sanfter
Hatatitla. Made in Canada. Kein Bayerischer Mistkasten.
"Lifestyle change!", hatte Lavinia den Wölfen zugerufen,
als wir auf einem hölzernen Steg ein paar wenige Meter über ihnen entlang
liefen. Ein paar frische Blätter spendete sie auch. Just in case. Falls die
Wölfe sich mal urplötzlich entscheiden sollten, den vegetarischen Spezies
beizutreten. Man kann ja nie wissen.
Und
weiter geht’s! Mont Tremblant wartet schon auf uns. Kanadische
Anschauungsweise en français. Rundumadum. Berg und Tal. Anzuschauen überall.
Irgendwo im grünen Wald geht Pierre wohl gerade mal seinen Geschäften nach.
Spürsinn. Man schreibt das Jahr 2015. Über allen Wäldern
nördlich der Großen Seen ist ruh. Im Algonquin Park, Ontario spürest du kaum
einen Hauch. Die Seetaucher schweigen auf der Dollar-Münze. Eingeprägt à
jamais. Ins kollektive Bewusstsein aller Kanadier.
Lavinia im Conservation Center des Parks. Das Center ist
strategisch auf einer Anhöhe platziert. Von dort aus kann jeder mit ein
bisschen Glück die Wildlife beobachten. Drei Stunden von Toronto
entfernt. An der Highway 60. Folgt man der diskreten Landstraße, so taucht
irgendwann auch das schöne Ottawa am Horizont auf: our nation’s capital.
Denn wie schon Wildtöter einst mit Engagement festlegte: "O, Canada, we
stand on guard for thee."
For thee. Altenglisch. Freilich war’s dabei aber
nicht Wildtöter, doch Wache stehen wollen wir trotzdem unbeirrt weiter. This
is the true North strong and free.
Wir haben im Hidden Valley Resort Logis genommen. Wie es
ja schon der Name verrät, befindet es sich in einem recht gut verborgenen
Tal. Die nächstgelegene Stadt heißt Huntsville. Früher war das wohl eine
Ortschaft der Jäger.
Einen
Katzensprung down the road Richtung Huntsville befindet sich Deerhurst
Resort, wo einst (d.h. vor knapp zehn Jahren) die g’schätzten Vertreter der
G7 in aller Ruhe und Naturverbundenheit zusammentreffen durften, um
Grundlegendes zum wichtigen Welt-und-Umwelt-Thema "Nanu! Wos moch’n ma
jetzt?" abzuhaken, indes die restlichen Vertreter der G20 im guten alten
Toronto mit weniger profundem Gedankengut vorlieb nehmen durften.
Allerlei mehr oder weniger schweigsame Vögel wurden von
Lavinia in Algonquin Park gesichtet und auch gleich mal säuberlich
dokumentiert. In allen Wipfeln reichlich Material für "Show and Tell". Und
wenn es sonst gar keine waschechten Waschbären im Dickicht mehr gäbe, so
wären wir nichtsdestoweniger immer noch welche. Und zwar in orbe ultima.
Denn Kanadier sein, das heißt bei uns zuerst und vor allem eben auch:
Österreicher sein.
Action und show time. Show and tell. Erzähl mir was. Tell
a simple story. Im Dickicht. Da, wo der Dichter einst das Teil vom Ur-Theil
abhackte. Meine Lavinia? Mit dabei.
Lifestyle change. Spürsinn und Lifestyle change.
Und
auf einmal fällt mir ein, dass Lavinias Kätzchen, das sich dieser Tage
irgendwo in den unergründlichen Weiten unserer guten alten kanadischen
Wildnis verlaufen – oder eben auch "ver-klettert" – hatte (und jetzt mal
echt, also ein paar Millionen Seen, sowas ist nicht von der Hand zu weisen),
ja möglicherweise durchaus "la Belle Maguelone" sein könnte, die, so wissen
es die weisen Krieger an den Lagerfeuern, in den fernen Untiefen der
Zeitlichkeit von einem gewissen Pierre gefunden ward. Auf dass die beiden
forever more à jamais gemeinsam der untergehenden Sonne nachblicken. Pierre
de Provence. Pierre de Provence et la Belle Maguelone.
Holla, wir schreiben! We’re around. In der immerdar so
wundersam gemächlich ausklingenden Dinglichkeit des Gemüts. Canadian-style.
Was sonst? Es gibt uns. Es gibt uns ganz bestimmt. Es wird uns immer geben.