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Das Interview führte Franz Wagner |
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AM: Frau Schneider, wenn Sie mit Deutschen oder Österreichern sprechen, deren Wissen über Rumänien begrenzt ist, welche Klischees und Vorurteile über dieses Land begegnen Ihnen am häufigsten?Schneider: Am häufigsten wird die Korruption als ein allgemeines Merkmal für Rumänien angeführt. Die Rumänen werden als "şmecher" bzw. als schlitzohrig bezeichnet und immer wieder wird gesagt, dass man in dem Lande alles nur mit "Bakschisch", also mit Bestechungsgeldern erledigen könne. Auch Trägheit und zu wenig zupacken, d. h. die Dinge laufen lassen wie sie eben kommen, gehören bei vielen zum Bild der Rumänen. Man sollte aber nicht auf solche Klischees achten, die leider existieren, denn es gibt auch dort einen großen Facettenreichtum verschiedenster Menschen und Denkweisen und in letzter Zeit wirklich große und bemerkenswerte Anstrengungen für Verbesserungen, die von dem Willen einer Integration in die Europäische Union und von einer Anerkennung als europafähiger Partner geprägt sind. Viele Rumänen meinen: "wir wollen zurück nach Europa" und verstehen darunter Bindungen, die es früher aus der Geschichte heraus gegeben hat.
AM: Wirft man einen Blick in die hiesigen Zeitungen, wird viel über die Investitionstätigkeit westeuropäischer Unternehmen in Rumänien geschrieben, wobei hier besonders die industrielle, technische oder ökonomische Entwicklung des Landes im Fokus liegt. Über das "andere" Rumänien – zum Beispiel darüber, dass immer noch 96 % aller ländlichen Haushalte ohne Anschluss an eine Kläranlage sind – erfährt man abseits der üblichen Katastrophenmeldungen (Donau-Hochwasser,…) dagegen kaum etwas. In welchen Bereichen empfinden Sie die Diskrepanz zwischen täglicher Realität und öffentlicher Wahrnehmung am stärksten? Worüber sollte zuvorderst berichtet werden?
Schneider: Tatsächlich wird meist über wirtschaftliche Entwicklung, neue Niederlassungen ausländischer Firmen usw. berichtet. Weniger weiß man über die Landbevölkerung, die unter schwierigen Bedingungen lebt, ohne entsprechende Infrastruktur in den Dörfern und mit geringstem Einkommen. Hinzu kommt die Tatsache, dass es in den wenigsten Dörfern Trinkwasserversorgung gibt. Abwasserreinigung, Kläranlagen gibt es auch nicht. Ungeregelt ist meist auch die Müllentsorgung im ländlichen Raum, die große Umweltprobleme aufwirft und dringend einer Lösung bedarf. Dorfränder, Böschungen und vor allem Fließgewässer dienen als Müllkippe, weil immer noch die Mentalität besteht, dass das Wasser alles mitnimmt. Dass es aber auch irgendwo ankommen muss und dort Probleme bereitet, wird wenig berücksichtigt. Das Problem der Müllentsorgung hat jedoch, wie Untersuchungen zeigen, auch mit dem Umweltverhalten und dem geringen Umweltbewusstsein der Bevölkerung zu tun. Aktionen zur Bewusstseinsbildung fallen, wie auch meine persönliche Erfahrung zeigt, auf fruchtbaren Boden besonders bei der jungen Generation (Programme mit Schülern).
AM: Als Biologin setzen Sie sich bereits seit Jahrzehnten mit dem Ökosystem "Donau" auseinander. Es scheint, als hätten Sie eine besondere Beziehung zu diesem Fluss. Warum dieses lebenslange Interesse?
Schneider: Die Donau sowie das gesamte Einzugsgebiet der Donau ist von vielen Gesichtspunkten aus gesehen überaus interessant. Sie durchzieht vom Schwarzwald und dem Voralpenland, mit zahlreichen Nebenflüssen aus den Alpen, wie ein grünes Band Mittel- und Südosteuropa und durchquert auf ihrem Weg bis zur Mündung ins Schwarze Meer nicht nur unterschiedliche Naturräume, sondern auch unterschiedliche Sprach- und Kulturräume. Diese Vielfalt im geographischen, biologisch-ökologischen und kulturellen Bereich ist das, was die Besonderheit der Donau ausmacht, die so unterschiedliche Räume miteinander verbindet, und eine Einheit mit Vielfalt darstellt. Es ist die Verbindungsachse, die trennt und vereinigt und einfach vieles zu bieten hat.
AM: Im Jahr 1990 erklärte die UNESCO das Donau-Delta zum Biospärenreservat, über die Hälfte des Gebietes ist als Weltnaturerbe ausgezeichnet. Was macht diesen gerade einmal 10.000 Jahre alten "Haufen Sand", der seit der letzten Eiszeit in das Schwarze Meer hineinwächst, zu etwas so Schützenswertem?
Schneider: Das Donau-Delta ist nicht allein ein "Haufen Sand" , sondern ein Komplex von Ökosystemen und Lebensräumen, der durch die Dynamik der Donau und des Schwarzen Meeres entstanden ist. Durch die Ablagerungen von Sedimenten an der Donaumündung entstand im Laufe von Jahrtausenden ein vielfältiges Mosaik, bestehend aus Wasserläufen, Seen mit ausgedehnten Seerosendecken und anderen Wasserpflanzen, riesigen Schilfflächen, zum Teil als Schwingdecken "Plaur" ausgebildet, schmalen Galerie-artigen Silberweidenwäldern, offenen Schlammflächen und in Meeresnähe ausgedehnte, fächerartig angeordnete Sanddünenkomplexe. Letztere bergen in den Dünentälchen von den Schwankungen des Grundwassers geprägte Hartholzauenwälder besonderer Art, bestehend vor allen aus Sumpfesche, Stiel- und Balkaneiche und ausgezeichnet durch Lianenreichtum und vielfältigen Einnischungsmöglichkeiten für Tiere. Die offenen Dünenkämme haben oft wüstenartigen Charakter und beherbergen an die extreme Trockenheit angepasste Arten wie Persische Winde, Meerträubchen, Kolchische Segge, verschiedene Flechtenarten u.a.m. Hier tummelt sich der Wüstenrenner, eine Eidechsenart der asiatischen Steppe, hier finden sich die Trichter des Ameisenlöwen und viele Insektenarten von hoher biogeographischer Relevanz. Mit seiner Vielfalt an Lebensräumen beherbergt das Donau-Delta eine hohe Artenvielfalt. Hier gibt es 1.668 Pflanzenarten, etwa 70 verschiedene Süßwasserfische, etwa 330 Vogelarten, darunter zahlreiche Reiherarten: Silber- und Seidenreiher, Purpurreiher, Nachtreiher, sowie Löffler, Brauner Sichler u.v.m. Das Donau-Delta ist der Lebensraum der größten europäischen Population des Rosapelikans, etwa 4.000 Brutpaare, und des Krauskopfpelikans mit etwa 100 Brutpaaren, und beherbergt 60% der Weltpopulation der Zwergscharbe (Kleiner Kormoran). Es ist auch das Überwinterungsgebiet von etwa 40.000 Rothalsgänsen (50% der Weltpopulation), die aus dem Gebiet der Taimyrä-Halbinsel an den Rand des Donau-Deltas kommen. Fischotter und Europäischer Nerz sind hier zu Hause. Von letzterem gibt es im Donau-Delta die europaweit größte Population. Die Aufzählung könnte noch mit vielen interessanten Arten fortgesetzt werden. Zu erwähnen wäre vielleicht noch die Vielzahl unterschiedlicher Insektenarten wie Schmetterlinge, Käfer, Heuschrecken, von denen bisher etwa 2.000 Arten erfasst sind, wobei ihre Zahl sicher noch viel höher liegt.
AM: In der Zeit des Ceauşescu-Regimes wurde ein umfassendes Programm zur "Nutzbarmachung" der Donau und seiner Mündungsgebiete ins Leben gerufen, das unter anderem große Produktionsstätten für Fisch, Schilf, Getreide, Holz und Baustoffe vorsah. Was ist heute von diesem Programm geblieben? Welche Fehler wurden damals gemacht?
Schneider: Die großen Umgestaltungspläne des Überschwemmungsgebietes der Unteren Donau begannen noch vor Ceauşescu im Jahr 1963, als großflächige Trockenlegungen der ausgedehnten "Balta"-Gebiete vorgenommen wurden. Von den 5.402 km2 der Auen an der Unteren Donau oberstrom des Deltas wurden mehr als 4.500 km2 durch Dämme vom Strom getrennt und zu landwirtschaftlichen Zwecken trockengelegt oder in Fischzuchtanlagen umgewandelt. Die Umgestaltungsmaßnahmen betrafen auch das Delta (4.152 km2 Fläche ohne Lagunen-Komplex von Razelm-Sinoe), wo es zunächst zur Einrichtung von Schilfpoldern und Fischzuchtanlagen kam. 1983 wurden die Eindeichungs- und Trockenlegungsarbeiten mit verstärkter Intensität fortgesetzt. Dort wurden bis zur Wende insgesamt 97.409 ha Fläche eingedeicht, davon 39.974 ha für intensive Landwirtschaft. Mit dem Verlust des Überschwemmungsgebietes kam es zu einem drastischen Einbruch der Fischpopulationen. Die Untere Donau ist nämlich vorzugsweise der Lebensraum zahlreicher Cypriniden (Karpfenartiger), die zum Ablaichen vegetationsreiche, flach überflutete Flächen, die so genannte "intinsura" brauchen. Durch die Abtrennung der Auen gingen diese "Fischkinderstuben" verloren und damit auch fast das gesamte traditionelle Fischereiwesen an der Unteren Donau oberstrom des Deltas. Der großflächige Verlust an Wasserflächen durch Trockenlegen vieler Auenseen führte zu lokalen Klimaveränderungen, die unter anderem einen Einfluss auf die Landwirtschaft an den Terrassenhängen der Donau hatten. Der gestörte Wasserhaushalt in den Auen der Unteren Donau führte unter den Bedingungen des kontinentalen Klimas (mit hoher Verdunstung) zur Versalzung vieler Böden, so dass sie für die landwirtschaftliche Nutzung an Wert verloren oder unbrauchbar wurden. Die Versalzung traf auch auf die eingedeichten Flächen im Donau-Delta zu. Zudem war der Verlust der Auen als biologische Filter für Schadstoffe zu beklagen, die nun stromabwärts transportiert wurden und zu einem erhöhten Eintrag an belastetem Wasser ins Donau-Delta führten. Nicht zuletzt zeigte auch das Hochwasser des abgelaufenen Jahres, dass durch die Abtrennung der Auen dem Strom die Räume für Hochwasserretention genommen wurden und sich die Wassermassen ihren Weg zum Teil selbst suchten, wobei es zu verheerenden Folgen kam. Die wichtige Retentionsfunktion der Auen wurde außer Acht gelassen sowie auch ihre sonstigen Funktionen als Lebensraum für Tiere, als biologischer Filter, Klimaregler etc. Insgesamt wurde der Lebensraum vieler Arten drastisch reduziert oder ging vollends verloren. Dennoch waren im Delta zum Zeitpunkt der Wende große Flächen unversehrt geblieben. Von dem gesamten Umgestaltungsprogramm sind viele geschädigte Gebiete übrig geblieben, aber viele eingerichtete Polder werden auf Grund zu hoher Strom- und Pumpkosten sowie mangelnder Infrastruktur nicht mehr entsprechend der Bestimmung des Umgestaltungsplanes genutzt.
AM: Claudio Margris schreibt in seinem Buch "Donau. Biographie eines Flusses", dass sich die Bevölkerung des Deltas von über 21.000 im Jahr 1970 auf weniger als 15.000 im Jahr 1992 verringert habe. Warum damals dieser dramatische Rückgang? Wie war die Entwicklung nach 1992?
Schneider: Der Bevölkerungsrückgang war auf den Mangel an Arbeitsmöglichkeiten zurückzuführen und auf den Mangel an weiterführenden Schulen. In den meisten Orten gab und gibt es nur die ersten vier Klassen, danach müssen die Kinder in größere Orte gehen, um die weiterführenden Schulen zu besuchen. Es gab und gibt nur zwei größere Ortschaften im Delta: Sulina (etwa 5.000 Einwohner, aber gegenwärtig eher weniger) und Chilia (etwa 2.000, ebenfalls eher weniger). Es wurden große staatliche Fischfarmen eingerichtet, die das traditionelle Fischereigewerbe einengten und die Arbeitsmöglichkeiten reduzierten. Der Bevölkerungsschwund im Donau-Delta setzte sich auch nach der Wende fort, so dass zur Zeit die Einwohnerzahl mit etwa 8.000 angegeben wird. Viele sind noch in ihren Herkunftsorten im Delta gemeldet, wohnen aber nicht mehr dort. Besonders für die jungen Leute gibt es keine Arbeit, außerdem ist das schwere, entbehrungsreiche Leben im Donau-Delta ein Grund für das Ausweichen auf andere Möglichkeiten. "Die Kinder sollen es besser haben", heißt es. Diese Entwicklung ist nur dann zu stoppen, wenn es für die Bevölkerung im Delta Alternativen gibt, die es lohnend machen, dort zu bleiben.
AM: Was kann man tun, um zu verhindern, dass immer mehr Junge aus der Delta-Region in die Städte abwandern? Eine Option wäre etwa die des Ökotourismus: Einheimische Fischer, die ihre Gäste in kleinen Booten durch das Delta führen…
Schneider: Die Option Ökotourismus mit Naturbeobachten und Genießen des einfachen Lebens und der Ruhe der Deltaweiten kann einige Verbesserungen für die Region bringen, aber nur wenn es gute Alternativmöglichkeiten gibt und lokale Initiativen unterstützt, die es lohnen machen, dort zu bleiben. Dazu gehört, dass man die Einwohner unterstützt, ihre Häuser besser auszustatten, die sanitären Möglichkeiten zu verbessern, die Wasserversorgung regelt, die gesamte Infrastruktur in den Dörfern verbessert und nicht jeder Einkauf nur in Tulcea getätigt werden kann. Des weiteren sollte man auch die lokalen Fischer unterstützen und bevorzugen, die Preise für angebotenen Fisch sollten korrekt festgelegt werden, der Fischmarkt sollte frei sein und sich nach Angebot und Nachfrage regeln. Auch sollte der Zugang der lokalen Bevölkerung zu den Ressourcen – natürlich mit bestimmten Umweltauflagen – frei sein und Nutzungsmöglichkeiten bevorzugen, die sowohl der Bewahrung der Biodiversität als auch der Ressourcennutzung durch die lokale Bevölkerung zugute kommen. Der Ökotourismus sollte auch dahingehend unterstützt werden, dass die lokalen Produkte den Touristen angeboten werden können, z.B. selbstgemachter Käse (es gibt Schafzucht und traditionelle Rinderhaltung). Da der Ökotourismus nur für die Sommermonate interessante Möglichkeiten bietet, sollte man über zusätzliche Arbeitsmöglichkeiten für die Bewohner des Deltas nachdenken, zu denen auch das Aufleben traditioneller Handwerkstätigkeiten (z. B. Flechten von Matten und Körben) gehört. Der Ökotourismus hat bereits einige Verbesserungen gebracht. Viele Einwohner, besonders am Sulina-Arm sowie auf der rechten Seite des Sf. Gheorghe-Arms, haben sich kleine Pensionen gebaut und eingerichtet, sozusagen Familienbetriebe, die von Touristen gern angenommen werden. Allerdings hat auch diese Bautätigkeit ihre Kehrseiten, vor allem dann, wenn die Architektur der Bauten nicht der traditionellen Bauweise angepasst ist. Es müsste vielmehr auf eine vernünftige Raumplanung geachtet werden.
AM: Welche Rolle spielt die Donau als Trinkwasserquelle? Haben die Rumänen überwiegend Zugang zu sauberem Trinkwasser?
Schneider: Im Einzugsgebiet der Donau sind etwa 22 Millionen Menschen mit ihrer Trinkwassernutzung von der Donau abhängig. An der Unteren Donau beziehen alle größeren Städte ihr Trinkwasser aus dem Fluss. Die Stadt Tulcea am Donau-Delta entnimmt ihr Trinkwasser ebenfalls der Donau. Dafür gibt es auch Aufbereitungsanlagen, die aber dringend vergrößert werden müssen. Abwasserreinigung, Kläranlagen gibt es jedoch kaum oder von zu geringer Kapazität, so dass Abwässer zum großen Teil in die Donau eingeleitet werden. In den Dörfern entlang der Unteren Donau wird das Trinkwasser eher aus Gebieten der Donauterrasse entnommen. Dort gibt es überall Trinkwasserbrunnen. Allerdings gibt es in den Dörfern keine oder kaum eine zentrale Trinkwasserversorgung mit Wasserleitungen zu den Häusern. In einigen Orten ist man gerade dabei, Trinkwasserleitungen zu legen. Für die Bevölkerung des Donau-Deltas war das Donauwasser die einzige Trinkwasserquelle. Auch heute noch sieht man bei einigen Gehöften große Behälter aus Kalkstein, in die das Wasser hineingeschüttet wurde, um es zu filtern. In manchen Deltadörfern gibt es Brunnen, deren Trinkwasser heilig ist und daneben ein Kreuz steht, weil das Wasser darin so wertvoll ist. In wenigen Dörfern des Deltas wurden Trinkwasserleitungen gelegt (Mila 23), an die sich die Bewohner anschließen können. Heute wird das Trinkwasser ins Delta meist in Wasserkästen aus der Stadt gebracht. Die größten Investitionen sind im Bereich Trinkwasserversorgung und Abwasserreinigung erforderlich und es gibt bereits viele diesbezügliche Anstrengungen und konkrete Projekte.
AM: Im Jahr 2000 unterzeichneten die Umweltminister von Rumänien, Bulgarien, Moldawien und der Ukraine das Projekt "Grüner Korridor", eine Vereinbarung zum Schutz der unteren Donau und des Deltas, das bisher größte Renaturierungsvorhaben in Europa. Wie verträgt sich dieses Vorhaben mit dem im Jahr 2004 von der Ukraine begonnenen Bau des Bystroe-Kanals, der in Zukunft direkt durch einen Teil des Mündungsgebietes führen soll?
Schneider: Der Bystroe-Kanal stellt für die Donaumündung aus ökologischer Sicht ein Problem dar. Untersuchungen zeigen deutlich, dass der Bystroe-Kanal längerfristig negative Auswirkungen auf das Ökosystem Donau-Delta/Donau haben wird. Diese betrifft vor allem die Störe, die aus dem Schwarzen Meer Donau aufwärts wandern. Diese brauchen für ihre Wanderung im wahrsten Sinne des Wortes einen freien, natürlichen Korridor. Der Bystroe-Arm des sekundären Deltas am Chilia-Arm ist Teil dieses Korridors. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass z. B. der als Schifffahrtskanal ausgebaute Sulina-Arm im Donau-Delta für die Störwanderung verloren gegangen ist und von den Störarten gemieden wird. Leider belegt das Problem Bystroe, dass die Integration von Umweltproblemen in einem solchem Vorhaben nicht berücksichtigt wird. Der Bystroe-Kanal ist nur eine kurze Strecke, zieht jedoch weitere Maßnahmen nach sich, die den gesamten Chilia-Arm betreffen werden, wenn das Vorhaben der Ukrainer, eine eigene Schifffahrtsstraße auf dem Chilia/Kilija-Arm zu haben, verwirklicht wird oder wenn ein geplanter Anlenkungsdamm ins Meer hinaus gebaut wird. Dabei könnte es dann zu Problemen veränderter Ablagerung und auch zu Erosion an anderer Stelle der Küste kommen. Der Bystroe-Kanal ist keine dauerhafte Lösung für die Schifffahrt, da er immer wieder ausgebaggert werden muss. Zur Zeit werden große Geldsummen genannt, die für den Bystroe-Kanal verwendet werden sollen, die Baggerung allein verschlingt jedoch nicht soviel Geld und es scheint, dass das Geld für andere Zwecke verwendet wird.
AM: Wo liegt Ihrer Ansicht nach die Grenze zwischen einer angemessenen wirtschaftlichen Nutzung der Donau als "Wasserstraße" und einem schonenden Umgang ihrer natürlichen Ressourcen – etwa am Beispiel des von der EU ins Leben gerufenen "Trans European Network for Transport"?
Schneider: Leider ist es auch bei diesem Projekt so, dass diejenigen, die die Entscheidung für TENs-T treffen, sich nicht mit den Ökologen an einen Tisch setzen, um gemeinsam Lösungen zu finden, die naturverträglich und auch für die Schifffahrt tragbar sind. Wenn die Schifffahrt nicht an die Flussbedingungen der Donau angepasst wird, ist langfristig eine nachhaltige Beeinträchtigung für die Umwelt zu erwarten. Die Donau bietet Alternativen durch ihre große Strombreite, so dass sie mit flacheren, breiteren Schiffen größerer Länge befahren werden könnte ohne dass Flussbettveränderungen durchgeführt werden müssten, auch wenn niedrigere Wasserstände vorhanden sind (Anpassung der Schifffahrt an den Fluss und nicht des Flusses an die Schifffahrt). Auf der Donau gibt es im Vergleich zum Rhein einen viel geringeren Verkehr. Wo auf dem der Rhein bei Duisburg 100 Millionen Tonnen Fracht transportiert werden und bei Karlsruhe-Mannheim etwa 40 Millionen, so sind es auf der Unteren Donau 6-10 Millionen Tonnen, eine Ziffer, die auch für den serbischen Abschnitt Gültigkeit hat. Außerdem müsste der Schiffsverkehr auf der Donau auch in Relation mit den anderen Verkehrsmitteln LKW und Eisenbahn gesehen werden. Man kann jedoch den Verkehr auf dem Rhein nicht mit dem auf der Donau vergleichen. Für die untere Donau würde es ein eigenes regionales Konzept brauchen, dass sowohl der Schifffahrt als auch den Umweltbelangen Rechnung trägt. Auch wäre noch zu erwähnen, dass für jede Maßnahmenplanung eine Umweltverträglichkeitsstudie gemacht werden muss (Strategic Environmental Assessment), und zwar aufgrund einer integrierten Untersuchung, die sowohl dem Transport als auch den Umweltbelangen Rechnung trägt. Außerdem gibt es verschiedene legale Instrumente, die ebenfalls berücksichtigt werden müssen. Nach der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie müssen auch stark veränderte Wasserkörper einem potentiell guten Zustand zugeführt werden.
AM: Ein Lehrsatz der Ökologie besagt, dass sich in "katastrophenreichen" Landschaften wesentlich mehr Arten ansiedeln können. Dem steht aber das Bedürfnis des Menschen nach mehr Schutz, insbesondere vor den regelmäßigen Donau-Hochwässern, entgegen. Wie kann es trotz allem ein Miteinander von Mensch und Natur an der Donau geben? Was passiert zum Beispiel, wenn es durch Dammbauten oder Kanälen zu keinen regelmäßigen Überschwemmungen mehr kommen kann? Welche Auswirkungen hätte das für die Natur?
Schneider: Es ist bekannt, dass der Fluss und seine Aue ein dynamisches System bilden und gerade die Dynamik und die Vielfalt der Kleinlebensräume die Arten- und Habitatvielfalt bedingt. Die Menschen haben in früheren Zeiten auch mit dem Fluss und meist in Einklang mit ihm gelebt. Die Ortschaften wurden meist am Rand der Niederterrasse gebaut, sowie es beispielsweise an der Unteren Donau auch deutlich wird. Erst durch die Trennung der Auen vom Strom und der Trockenlegung konnte man in die Auen bauen. Gerade aber der Verlust an Auen bzw. an Retentionsraum für den Fluss hat große Hochwasserprobleme heraufbeschworen. Bedingt durch die Hochwasserereignisse des Jahres 2006 hat ein Umdenkprozess begonnen und es wurden in Rumänien Pläne entworfen, wie man die Hochwassersicherheit vergrößern könne. Um die Ortschaften, die gefährdet sind, weil die Terrasse zu niedrig ist oder weil man in die Auen gebaut hat, müssen Ringschutzdeiche errichtet werden. Dort wo es möglich ist, müssen die Dämme jedoch geöffnet und die Auen wieder mit dem Strom verbunden werden, um Flächen zur Hochwasserrückhaltung zu schaffen, was sowohl der Natur als auch dem Menschen zugute kommen wird. Immer lauter und bestimmter wird über das Konzept "mehr Raum für Flüsse" nachgedacht und verhandelt. Das Ausbleiben der Überschwemmungen führt zu Veränderungen vor allem im Wasserhaushalt, bringt einen Verlust typischer Lebensräume, führt z.B. an der unteren Donau zu Versalzung und Versteppung, zu Klimaveränderungen etc. Schließlich verschwindet der Lebensraum zahlreicher Arten.
AM: Einer Untersuchung zufolge kamen 1980 noch knapp 80.000 ausländische Touristen ins Delta, im Jahr 1993 dann nur noch etwa 7.000. Warum kam es damals zu diesem starken Besucherschwund? Hat sich die Zahl der Reisenden heute wieder erholt?
Schneider: In den achtziger Jahren wurden viele Gruppenreisen organisiert. Das war zu der Zeit als beispielsweise auch Neckermannreisen ans Schwarze Meer stattfanden, die dann auch ins Donau-Delta führten. Später, als die Bedingungen für Ausländer immer strenger wurden, blieben die Touristen weg. Im Zuge der Umgestaltungspläne für das Donaudelta wurden die Besucher dann eher ferngehalten. Die Zahl der Reisenden hat sich heute einigermaßen erholt, hält sich jedoch auf relativ niedrigem Niveau. Ursache dafür sind steigende Preise, teure Hotels und teilweise nicht so gute Dienstleistungen. Für die Rumänen sind Angebote für Auslandsreisen viel besser und begehrenswerter, erstens weil man bis Ende der Ceauşecsu-Ära nicht reisen konnte und nun die Möglichkeit hat, und zweitens, weil die ausländischen Angebote attraktiver und preiswerter sind als im eigenen Land. Ökotourismus hingegen ist für Ausländer, die Rumäniens Natur kennen lernen wollen, sehr attraktiv.
AM: Wie können die einheimischen Bewohner des Deltas vom Tourismus profitieren, wenn die meisten Besucher noch immer in den großen Städten übernachten und dann nur auf einen Sprung ins Naturschutzgebiet kommen? Der überwiegende Teil der Einnahmen geht doch vor allem an die Reiseveranstalter oder an Führer, die sich nicht aus der ansässigen Bevölkerung rekrutieren.
Schneider: Große Busreisen, die nur als Tagesausflug gedacht und mit Übernachtungen im Hotel verbunden sind, finden immer weniger Statt. Der Trend geht schon zu kleineren Reisen und Nutzung von Hausbooten. In dem Fall hat die lokale Bevölkerung aber auch wenig davon. Es müssen, wie schon erwähnt, auch für die lokale Bevölkerung Alternativen geboten werden, die es ihnen ermöglichen, im Tourismusgeschäft besser mitzumachen.
AM: Welche Maßnahmen halten Sie für nötig, damit das Donaudelta auch in Zukunft als gemeinsamer Lebensraum für Tier und Mensch erhalten werden kann?
Schneider: Maßnahmen zur Stärkung des Umweltbewusstseins, des Bewusstseins für die Werte des Donaudeltas und ihren Schutz; Erarbeitung von Lösungen, die Naturschutz und nachhaltige Nutzung der Ressourcen verbinden; Zugang der lokalen Bevölkerung zu den Ressourcen und deren geregelte Nutzung; ein gut geregeltes Kontrollsystem für die Ressourcennutzung und den Tourismus, um Übergriffe auszuschalten; Eindämmung des wilden Motor-Schnellboottourismus und bessere Kontrolle der Zugänge solcher Motorboote und der im Delta genutzten Wege (auf manchen Kanälen geht es zu wie auf der Autobahn); besserer Schutz der Kernzonen des Biosphärenreservats mit funktionierenden Kontrollmechanismen (einschließlich Kampf gegen Wilderei); bessere Abstimmung der Biosphärenreservatsverwaltung mit den lokalen und regionalen Behörden; Einbindung der lokalen Bevölkerung in Entscheidungsprozesse: Informations- und Kommunikationsveranstaltungen.
AM: Frau Schneider, vielen Dank für das Interview!