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Von der Weltzugewandtheit des Weltfremden

Über Ludwig Hohl*
...

"Ob man das, was ich schreibe, Prosa, Lyrik, Epik oder Philosophie nenne, ist
mir ganz gleich. Du kannst es meinetwegen nennen Isabella oder Victoria; wenn
du nur etwas davon verstehst." Das ist das Schöne an Ludwig Hohls Werk: Man kann
irgendwo, mit irgendetwas beginnen, man kann es aufschlagen und sich festlesen – und
plötzlich innehalten. Ludwig Hohl, der bei aller äußerlichen Bescheidenheit so noble,
überaus souveräne, charmante, charismatische Schweizer Dichter, hat Sätze von
klassischer Prägnanz geschrieben, seine Notizen sind von weltliterarischem
Rang; sie sind die kompromissloseste Gedankenprosa in der
schweizerischen Literatur des 20. Jahrhunderts.

Von Peter Hodina
(13. 08. 2008)

...




(c) Reinhard Winkler

Peter Hodina
peterhodina [at] hotmail.com

geboren 1963 in Salzburg.
Studium der Theologie, Philo-
sophie, Politikwissenschaft
und Publizistik in Salzburg.
Lebt und arbeitet als freier
Autor in Gallneukirchen
(Österreich) und Berlin.

Preise
Harder Literaturpreis
(2000). Förderpreis der
Rauriser Literaturtage (2004).

Veröffentlichungen
Die Meuterei der Lemminge
,
Essay (Hecht-Druck, 2001).

Homepage
Peter Hodina

 

 

 

 

Ludwig Hohl
(1904-1980)

 

 

 

 "So sind Sie nicht
Kommunist?" – "Nein, ich
bin es nicht. – "Also
Nationalist?" – "Nein, das
Gegenteil. Und drum bin
ich nicht Kommunist,
denn der Kommunismus
ist noch verstärkter Natio-
nalismus – "Was sind Sie
dann?!" – "Alpinist … Ich
steige auf die Berge und
blicke auf das Getümmel."

 

 

 

 

Netstal
(Kanton Glarus, Schweiz).
Geburtsort von Ludwig Hohl

 

 

 

Was von Valéry gesagt
wurde, er sei der größte
Schriftsteller ohne Werk,
ließe sich erst recht von
Ludwig Hohl sagen.

 

 

 

 

Ludwig Hohl.
Die Notizen oder
Von der unvoreiligen
Versöhnung.
Suhrkamp, 1984, 831 S.
ISBN: 3518375008
 

 

 

 

Schwimmen, Bergsteigen,
Schreiben – "Alles ist Werk."
Das Ziel der Mühen ist
Leichtigkeit, sie ist nicht
erzwingbar, doch man kann
ihr zuarbeiten. Berechen-
bar ist nichts.

 

 

 

 


(c) Schweizerisches
Literaturarchiv

 

 

 

"Wenn man über den
See schwimmt, allein, ist
das Schwierigste, jedenfalls
das Mühsamste, die Mono-
tonie zu ertragen, die
dadurch entsteht, daß
man lange Zeit nicht im
geringsten sieht, ob
man vorwärts kommt."

 

 

 

 

Ludwig Hohl.
Aus der Tiefsee.
Paris 1926.
Suhrkamp, 2004, 339 S.
ISBN: 3518415883
 

Klappentext:

Mitternachtsgesellschaft
sollte der Roman heißen,
den Ludwig Hohl über das
Bohemeleben im Paris der
zwanziger Jahre schreiben
wollte. Träumer, Trinker,
Schnorrer, verkannte Literaten,
Künstler, die unterhalb der
Armutsgrenze leben, sich
allablich in immer denselben
Cafes, Restaurants und Bars
am Montparnasse treffen und
von dort aus ihre Streifzüge
in die übler beleumundeten
Viertel antreten - Ludwig Hohl
war als Beobachter unter ihnen.
In Heften, die in seinem
Nachlass gefunden wurden,
schildert er die nächtlichen
Pariser Begegnungen mit
klarem Blick, zuweilen auch
ironisch und sarkastisch,
und bekundet dabei ein
außergewöhnliches Gespür
für Menschliches, Zwischen-
menschliches, Allzu-
menschliches. Ein geschlos-
sener Roman ist nie daraus
geworden. Hohls Vorsatz,
beim Schreiben stets die
Übersicht zu behalten und
Autobiografisches auszu-
klammern, wird bald hinweg-
gefegt: Was ihm zustößt,
überfordert ihn, sprengt sein
erzählerisches Ich, verweigert
sich der konventionellen
Romanform.


 

 

 

Wohl kaum ein Buch
der Weltliteratur eignet
sich so wenig zum
Auswendiglernen wie die
Hohlschen Notizen – das ist
meine Überzeugung, je
länger ich in diesem Buch
von Zeit zu Zeit
Einkehr halte.

 

 

 

 

Ludwig Hohl.
"Alles ist Werk."
Suhrkamp, 2004, 298 S.
ISBN: 3518415875
 

 

 

 

Die Zeichnungen, die
Hanny Fries, eine der
fünf Ehefrauen Hohls,
von ihm gemacht hat,
zeigen einen Mann, der
sich in seine eigenen Arme
bettet, der sich selbst aus
seinen Armen ein Nest
baut, um sich so
zu bergen.

 

 

 

 


(c) Schweizerisches
Literaturarchiv

 

 

 

 

"Ich will nie ins
Konventionelle, Blasse,
ins Tröstliche und Gefühl-
volle geraten. Ich will nie
das Runde, sondern die
Geister schärfen, zu ihrer
Stärke, ihrer eigenen
Handlung führen; auf
verschiedenerlei Arten."

 

 

 

 


(c) Schweizerisches
Literaturarchiv

 

 

 

Web-Tipp

ZEIT-Artikel über
Ludwig Hohl.

 

 

 

Hohl, ohne Schulabschluss,
ohne Studium außer dem
Selbststudium, stand sozial
buchstäblich vor dem Nichts.
Er musste in sich selber
schürfen und fündig werden,
ansonsten hätte er sich
aufgeben müssen.

 

 

 

 

"Ludwig Hohl - Ein Film
in Fragmenten"

Der Dokumentarfilm über
Ludwig Hohl entstand aus
einer langjährigen Freundschaft
des Filmautors Alexander J.
Seiler mit dem Schriftsteller.
Überwiegend im Sommer 1979
in Hohls Wohnung in Genf
gedreht, zeigt er mit spar-
samen Mitteln die wichtigsten
Stationen in Hohls Biografie.
Der Film lässt Hohl für sich
selber sprechen: im Alltag
seiner spartanischen Existenz,
im Gespräch und in lebendigen
Lesungen seiner Texte. Mit
der für Hohl typischen Unvor-
eiligkeit bringt der Film dem
Zuschauer jene Präsenz
nahe, die auch in seinem
Werk weiterlebt. (Aus:
Zweitausendeins
Filmlexikon).

 

 

 

 

"In diesem Stadium des
Schmerzes, und zwar
maximalen Schmerzes,
Schmerzes ohne irgendeine
Beimischung, kam es mich
auf einmal, geschehend wie
ein Vulkanausbruch, wieder
an: das Strahlende, nun
eben getötete Unterge-
gangene, elend Abge-
würgte des Abends: was
soll geschehen? wohin mich
wenden? Und so entstand
der Mut zu den Sätzen, in
die Einsamkeit hinein; in
die Einsamkeit, weil ich
die Sätze notgedrungen –
damit sie durchhielten,
hinübertrügen – hart wie
Stein machte."

 

 

 

 

 

Werner Morlang.
Die verlässlichste
meiner Freuden.
Nagel & Kimche, 2003, 392 S.
ISBN:
3312003105


Klappentext:

Der philosophisch-dichterische
Grenzgänger Ludwig Hohl
(1904-1980) hat sich so
überzeugend als Geheimtipp
qualifiziert, dass er es bis
heute geblieben ist. Namhafte
Kollegen von Albin Zollinger,
Frisch, Dürrenmatt bis zu
Canetti priesen sein Werk, viele
suchten das umraunte Genie
im Kellerloch persönlich auf.
So entstand eine anekdotisch
gespickte Legende, die Hohls
Erscheinung eher verfremdet
als beleuchtet. Werner
Morlangs Gespräche mit
Hanny Fries, Hohls Gefährtin,
eine Auswahl bislang unveröf-
fentlichter Briefe und eine
Vielzahl von Bildern, darunter
über zwanzig Porträts, die Fries
von ihm anfertigte, zeigen Hohl
als einen genialischen und
ungeheuer beharrlichen
Menschen.

 

 

 

Lange Wirksamkeit im
Stillen, private Gelehr-
samkeit, verbissene
Dissidenz, ein Aushalten
in der Isolation – im Bewusst-
sein jedoch, Großes und
Größtes für die Menschheit
geleistet zu haben.

 

 

 

   Meine Damen und Herren, ich wünsche einen guten Morgen!

Sie haben richtig gehört, sich nicht verhört. Einen guten Morgen! Ausgerechnet einen guten Morgen! Denn der Frühaufsteher Ludwig Hohl meinte:

"Der Abend ist eine schlechte Zeit für Vorträge. Warum nie am Morgen? Warum müssen die Leute zu Vorträgen kommen, wenn sie verbraucht, wenn sie nur noch geeignet sind zu Vergnügungen? Würden die Menschen früher aufstehn, wäre die Welt anders. Der Abend macht kommun, am Morgen ist jeder allein und muß schreiten."(1)

Wollen Sie trotz fortgeschrittener, abendlicher Stunde eine Weile mit mir schreiten und nachher vielleicht ein bisschen mit mir streiten?

Doch wir sind hier nicht in Berlin, es ist mir schon bewusst. Sie fast alle sind nolens volens früh, viel zu früh aufgestanden, ich weiß das wohl.

Der Morgen hat es in sich, jeden Morgen finden wir uns in Fragmenten vor. "Jeden Morgen liest er sich in Scherben auf. Und jeden Morgen setzen sich die Scherben wieder zusammen", schreibt Hohl von sich in der dritten Person. Von jedem Menschen genau genommen.(2) Auch das Hohlsche Werk ist ein geordneter Scherbenhaufen – bestehend aus lauter Fragmenten. In allerdings antifragmentarischer Absicht. Morgenstund’ hat Fragment im Mund.

   Zuerst bedarf es einer Vorabklärung: Kennen Sie den Begriff "Höhenkammliteratur"? Ich jedenfalls kannte ihn bislang nicht. Ich fragte auch eine ganze Reihe von Bekannten und Freunden in Berlin, ich fragte auch in Österreich nach, ich telefonierte mit einer Kollegin aus der Schweiz, fragte Literaturprofessoren, einen Berufsrezensenten, schließlich auch noch zwei Deutschlehrer – sie alle konnten es mir nicht sagen. Mir war dieses befremdliche Wort in einer längeren kritischen Abhandlung über jenen Dichter begegnet, der heute zur Rede steht.

Ludwig Hohl war in seiner Jugend ein begeisterter Bergsteiger, eine seiner wenigen veröffentlichten Erzählungen heißt Bergfahrt. Bergsteiger haben es ja mit Höhenkämmen zu tun. War es vielleicht das?

Hohls Pathos für die Berge ist berühmt. "'So sind Sie nicht Kommunist?’ – nein, ich bin es nicht. – 'Also Nationalist?' – nein, das Gegenteil. Und drum bin ich nicht Kommunist, denn der Kommunismus ist noch verstärkter Nationalismus – 'Was sind Sie dann?!' – 'Alpinist… Ich steige auf die Berge und blicke auf das Getümmel.'" So antwortet Ludwig Hohl in einem fiktiven Verhör einem ihn ausquetschenden Polizisten.

   Von den Höhenkämmen auf das "Getümmel" herabblickend … Das wäre ja schon eine Erklärung. Ich erinnerte mich an erst posthum von Hans Saner(3) herausgegebene Notizen zu Martin Heidegger meines Lieblingsphilosophen Karl Jaspers, wo dieser von sich und Heidegger schreibt, sie beide seien die Einzigen, die einzigen Philosophen ihrer Zeit von Relevanz, die gleichsam einander auf den "Firnen" begegnen würden. Das klingt verdächtig jetzt nach "Höhenkamm", würde ich sagen. Höhenkamm-Philosophie, Höhenkamm-Literatur – einerlei. Man mag dazu ja stehen, wie man möchte, elitär ist es schon. Doch da drunten – seien wir uns ehrlich – kann ja wirklich Dreck sein, z.B. brauner marschierender Dreck. Was da unten unter den Nebeln, unter der Smog-Glocke sich befindet, ist ja wirklich oft unersprießlich.

An Nietzsche auch wäre zu denken, an seine Aufenthalte im Oberengadin, an die Maler Segantini und Hodler, an den Graphiker Dario Wolf. Es zog sie in die Berge. Sie versprachen sich von den Bergen Klarheit, Reinheit, Überblick, Erhabenheit, das Ewige. Sogar noch Adorno holte sich (wie der Schweizerphilosoph, nach Hohl der größte, der weitum unbekannte Hans F. Geyer) in den Bergen den Tod. Also auch Höhenkamm-Malerei – neben Höhenkamm-Toden – scheint es zu geben, nicht wahr?

"Es muss etwas Größeres vor euch erstehen. Man ist nicht mit dem Montblanc auf du und du", schrieb Hohl in seinen Notizen.(4)

   Der Wunsch nach einem würdigen Widerstand. Nach dem Objekt, dem Gegen-stand, dem Entgegenstehenden, dem Nicht-Ich, an dem das Ich (mit dem deutschen Idealisten Fichte zu reden) sich misst, abarbeitet, ja sich gewinnt, sich konturiert und profiliert. Egal, ob es sich um das Bezwingen der Kletterwände und Berggipfel oder ob es sich um Literatur und Philosophie handelt, Hohl wird nicht müde zu betonen, dass es den "nie ausbleibenden Segen der Anstrengung" gäbe. Und überdies – es mag verblüffen – lautete eine seiner Maximen: "Alles ist Werk". Sogar das Ausruhen vom Werk ist noch Werk, das Atmen, das Tagebuch- und Briefeschreiben. Das Work-out am Körper: Hohl pflegte Hanteln zu stemmen und penibel Tag für Tag die gestemmten Gewichte zu notieren. Es hat etwas Rührendes oder Berührendes, wie Hohl trotz eines Einsiedlerlebens später, nachdem er schon jahrelang nicht mehr in die Berge gegangen war, sich neben dem Schreiben körperlich ertüchtigt. Auch diese Arbeit an seinem Körper ist "Werk". Sogar mit dem Alkohol explorativ, selbsterforschend umzugehen, kann "Werk" sein, die Balance zu finden und wiederzufinden, ist selbstverständlich "Werk". Wenn Träumen auch "Werk" bedeutet – und nichts stünde nach Hohl dem entgegen –, sieht man sich erinnert an das Wort "Traumarbeit" von Sigmund Freud.

Arthur Rimbaud sprach von den "fürchterlichen Arbeitern" der Moderne. Hohl gehört zu ihnen, da ist kein Zweifel.

Zurück jedoch zur Klärung des noch strittigen Begriffs einer "Höhenkammliteratur"! Ich musste auf einmal denken, dass es vielleicht ein spezifisch schweizerischer Begriff(5) sein könnte, eine Gruppe von Dichtern aus der Schweiz bezeichnend, deren Existenz mir entgangen sein mochte. Dichter, die es mit den in der Schweiz wie ja auch in Österreich anzutreffenden Höhenkämmen zu tun hätten, diese besängen etc. Ich wurde diesbezüglich nicht fündig. Was war es dann?

   Der Hohl-Kritiker verblüffte mich, indem er behauptete, Hohl gehöre nicht zur Höhenkammliteratur. Wer gehört denn eher dann zu dieser ominösen Höhenkammliteratur, musste ich mich erstaunt fragen. Schließlich – da in jedem Menschen auch ein Spielverderber steckt, zumal ein Spielverderber seiner eigenen Spiele – machte ich mich im Internet kundig. Wikipedia, die sogenannte "freie Enzyklopädie", von der man halten möchte, was man eben von ihr halten möchte, bringt sogar eine Definition, als handelte es sich bei "Höhenkammliteratur" um einen festen, allgemein eingebürgerten Begriff. Und diese Definition lautet folgendermaßen: "Unter Höhenkammliteratur, auch Hochliteratur genannt, versteht man die anerkannte, in Schule und Wissenschaft als hochstehend angesehene Literatur. Darunter fallen u.a. die Klassiker."

Nun war ich wirklich verblüfft. Ich musste dieses Wort "Höhenkammliteratur" – in dieser Bedeutung hier – sofort als vollkommen schwachsinnig empfinden. Es steht schlecht um unsere Schulen und Universitäten, schlecht um Feuilleton und Literaturkritik, wenn ein solches Wort unbefragt und unbezweifelt das Bürgerrecht in der Literaturanalyse genösse. Wenn so ein Wort vielleicht – welch ein Alptraum dies! – in Prüfungen von Schülern und Studierenden abgefragt würde. Ich vermute so eine Findigkeit von kreativ sein wollenden Schulfüchsen dahinter. Sie glauben, einen besonders witzigen, unterhaltsamen Begriff kreiert zu haben, um die dem gebräuchlichen Literaturunterricht manchmal anhaftende Langweiligkeit zu nehmen. Ich habe diesen Begriffs-Kreator vor Augen. Ich mache mir ein Bild von dieser Person. Vielleicht ist es sogar ein angesehener Germanist, vielleicht ein Mitglied einer Lehrplan-Kommission. Auf didaktischen Fachtagungen höre ich die Schulfüchse schon jenes unsägliche Wort zu einer Tatsache, die es nicht ist, breittreten und einzementieren.

   Es stimmt hinten und vorne nicht. Es passt nicht für Goethe & Co., zwar ist Goethe auf den Brocken gestiegen, Petrarca auf den Mont Ventoux, mancher schreibt auch Unter dem Vulkan, einer sprang sogar in den Vulkan (Empedokles, und sprang doch nicht), doch das reicht noch nicht, um die Höhenkämme – und sei es nur metaphorisch – für die E-Literatur herabzubemühen. – Und wäre "Höhenkammliteratur" das oben Definierte, dann tut man Ludwig Hohl damit schweres Unrecht, ihn (wer weiß, vielleicht weil er arm war!) aus dem illustren Kreis der heiter-ernsten großen Geister auszuschließen, ihn dessen nicht für würdig zu erachten. Hohl hatte die Klassik eminent viel bedeutet – Goethe war ein ständiger Bezugspunkt für ihn. Hohl hat selber Sätze von klassischer Prägnanz geschrieben, seine Notizen sind von weltliterarischem Rang; sie sind die kompromissloseste Gedankenprosa in der schweizerischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Bereits in seiner Jugend verstand sich Hohl "als letzten Stützpfeiler eines stürzenden Baus, als die letzte Treppenstufe im Abstieg von der Höhe der großen Kulturepoche der Zeit Goethes und Beethovens". Also unbedingt, wenn schon, in Dreiteufelsnamen "Höhenkammliteratur", so wäre die Hohlsche Literatur dann in dieser – allerdings (ich insistiere darauf) idiotisch bleibenden – Rubrik in allererster Reihe aufzuführen. Das bleibt im Einzelnen noch aufzuzeigen.

Nun kommt es aber noch lustig. Wikipedia führt auch den Gegensatz zu jener "Höhenkammliteratur" auf – und selten hat mir etwas so großen Spaß gemacht wie dieses. Es heißt nämlich, der Begriff "Höhenkammliteratur" (noch einmal: was für ein schludriger Begriff, im wissenschaftlich anspruchsvollen, überhaupt in jedwedem anspruchsvollen Sinn – ich werde nicht müde, das zu betonen – ganz unmöglicher Begriff – Begriffe sind etwas ganz anderes: Instrumente, etwas wirklich zu begreifen! ... "Höhenkammliteratur" ginge allenfalls als schlampige Metapher gerade noch durch, im allerseichtesten "Literarischen Quartett"), also Wikipedia schreibt – nun kommt es –: "Der Begriff wird als Gegensatz zur Trivialliteratur (Schemaliteratur) verwendet." Jetzt bin ich aber tatsächlich begeistert – und meine es nicht einmal ironisch. Die Trivialliteratur als eine "Schemaliteratur" zu bezeichnen, ist grenzgenial. Was langweilig einem Schema folgt, was nur im Rahmen des Klischees sich bewegt – nicht sich bewegt, sondern erstarrt ist, immer schon erstarrt war, was nur nachwatschelt wie im Experiment des Erforschers tierischen Verhaltens das Entenküken einer Mutter-Attrappe aus Holz auf Rädern oder schwimmend einem wurmstichigen Schiffchen folgt, das es für seine Mutter hält –, verdient zurecht als trivial bezeichnet zu werden. Die Versklavung an ein Schema – am schlimmsten die unbewusste Versklavung, mit der bewussten beginnt ja die Innewerdung dessen, die Möglichkeit des Transzendierens – ist nachgerade das Kriterium für Trivialität, wie am besten die Vertreter der experimentellen Literatur, sofern solche unter uns weilen, wissen. Und nicht selten sind gerade auch Klassiker nicht immer frei davon gewesen, sich des Schemas zu bedienen, geprägter Form, die nicht mehr oder nur mehr kümmerlich sich entwickelt. Wenn aus einstigen Revolutionären Konservative werden, "Dichterfürsten", "Fürstenknechte". Wir kommen also doch noch auf unsere Rechnung, Wikipedia sei es gedankt.

   Endlich zu Hohl zurück! Voll in Hohl hinein!

Es kann irgendwo, mit irgendetwas begonnen werden – es gibt viele Zutritte zu diesem Werk. Man kann es – ich meine nicht nur das mit Die Notizen betitelte Hauptwerk – irgendwo aufschlagen, immer wieder anderswo, das ist das Schöne an diesem Werk und sich festlesen, plötzlich innehalten.

"Nur der ist stark, der sagen kann: Ich gehe nicht in den Himmel; sondern wo ich hingehe, da wird der Himmel sein."(6)

Hier scheint nicht ein Schriftsteller des 20. Jahrhunderts zu sprechen, sondern ein Imperator, der ein Füllhorn ausschütten will, hier wird ein Prospekt eröffnet, wo einer geradezu sagt: Wo ich bin, ist das Glück. Hier hat einer den Eispickel hineingeschlagen in eine doch meistens so widrige, deprimable, durchschnittlich graue Welt. Was an Hohl so überrascht, ist sein einzigartiger Optimismus, darin ist er im 20. Jahrhundert nur Ernst Bloch verwandt. Dabei gab es in Hohls Biographie fürchterliche Momente, nein, lange Monate und Jahre, wenn nicht Jahrzehnte äußerster Verlassenheit, zudem war die materielle Not ein lebenslanger, an seinen Kräften nagender Begleiter.

Immer wieder findet Hohl neue Betrachtungen über das Arbeiten. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Hohl einem Pfarrershaus entstammt: einem reformiert-protestantischen. Der Soziologe Max Weber hatte in seinem religionssoziologischen Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus dargetan, wie sehr der calvinistische Werkgerechtigkeitsbegriff zur Herausbildung des modernen Industrialismus beigetragen hatte. Das Verhältnis von Werken und Gnade ist eines der wichtigsten Theologumena protestantischer Theologie: die Antwort Luthers fiel bekanntlich anders aus als die Calvins. Der erfolgreich Schaffende schafft sich auch Schätze im Himmelreich, so ist die reformierte Ansicht. Der Reiche ist Gottes Lieblingskind. Und alles ist gemeinerweise auch noch prädeterminiert, prädestiniert. Gott hat es schon vor der Schöpfung so gewollt.

   Ludwig Hohl glaubt diese Dinge jedoch nicht – oder sollten wir nicht besser sagen: diese Undinge? Doch Spuren seiner Herkunft finden sich allemal – am unverwischtesten in seinen frühesten Texten, im erst posthum herausgegebenen Jugendtagebuch oder in seinen ebenfalls posthum herausgegebenen Aufzeichnungen Aus der Tiefsee. Paris 1926. Später verschleift sich das. Es wird fast ein unbewusster Unterstrom, in säkularisierter Gestalt. Das Theologumenon – ob Werkgerechtigkeit oder Gnade, Anstrengung aus eigener Kraft, ja Selbsterlösung oder Geschenk, Erfüllt- und Durchpulstwerden, Durchgearbeitetwerden von Gott – ist einem Theologiekundigen sogleich erkennbar. Es bedarf hiezu keiner großen hermeneutischen Aufdeckungsarbeit, es liegt auf der Hand. Obendrein ist die Rigidität, mit der Hohl sich zum Arbeiten, das ihm meist schwer fiel, zwang, sowie das Rechenschaftablegen in Gestalt von nicht selten tagebuchartigen Notizen, ja das permanente Rechenschaftablegen über sein Leben, diese Sorge um sich selbst, um sein Seelenheil (salus animae), diese Selbstbekümmerung ein Beispiel für Gewissenserforschung, die jedoch nicht spezifisch christlich ist, sondern die auch die Pythagoreer beispielsweise schon kannten. Doch geschieht bei Hohl solches auch der angestrebten größtmöglichen Selbstverwirklichung wegen. Er will ganz einfach das für ihn sinnvollste Leben führen. Nichts Geringeres. Mit Geringerem gibt sich dieser Mensch nicht zufrieden.

Zur Veranschaulichung des Gesagten, betreffend jenes unterschwellig fortwirkenden Theologumenons von Werkgerechtigkeit und/oder Gnade, sei folgender Eintrag aus Nuancen und Details zitiert:

"BEIM ARBEITEN. Es kommt auf die große Orgel an – darauf, ob ihr Klang uns trage – ob sie da ist überhaupt. Große Orgel, ja. Oder Wald – die Grünheit der Zweige und Blätter, das plastisch im Morgen Stehende: an so einen Wald auch denke ich, wenn ich an die große Orgel denke. Denke? Ich denke nicht ihn, den Wald, und kaum an ihn: es fällt mir nur ein Einzelnes davon ein; und die große Orgel spielt eine Melodie, die ich nicht als Ganzes kann hören: kaum höre ich überhaupt ihre Klänge; es kommt nur darauf an, ob ihr Klang uns trage. Es ist vom sie Denken momentlang die Ahnung gewesen; eine Ahnung von Linien, so wie Rilke einmal redet: '…Konturen dämmern.'"(7)

   Dämmernde Konturen, "hereinbrechende Ränder", denen man zuarbeitet. Das scheint mir das Essenzielle von Hohls Bemühung zu sein: arbeiten, dass das Opus gelinge, das "Opus philosophorum". Dann brechen die Ränder herein, dann dämmern Konturen, dann ereignet sich das Weichbild der Gnade. "Wir wachsen in die Dinge hinein. Was ist Arbeiten? Ein bewusstes, ein willkürliches Fördern dieses Hineinwachsens."(8)

"Unsere Arbeit fordert gleichzeitig die Leichtigkeit der Liebe und den harten Druck des Taglöhners oder des Bergbauern."(9)

Durch Arbeit jene Höhenregion zu erreichen, jenes Schwebende, wo alles wie von selber geht – das dürfte Hohls größte Lust gewesen sein, die Frucht der Bemühung. Jedoch: "Es darf nichts, was du tust, Vorbereitung sein."(10) – Bei diesem methodologisch ganz zentralen Satz Ludwig Hohls aus den Notizen – sie sind eigentlich an den jungen Künstler gerichtet, der "zu arbeiten begonnen"(11) hat, "nicht mehr im Rausche lebend"(12) – muss ich an ein anderes Diktum denken, nämlich das von Addison: "The whole man must move at once." Nur so wird das Willensfreiheitsdilemma durchschlagen: durch Mut, den Hohl für das Höchste hält. Durch die "Aktion", würde der französische Philosoph Maurice Blondel sagen. Indem man es ganz einfach tut – doch dieses Einfache ist das Schwierige, ist die Kunst. Hohl ist insbesondere der bestens geeignete Schriftsteller für junge Künstler. Ich kann mir einen Bildhauer denken, dessen Handexemplar der Hohlschen Notizen von Steinstaub ganz eingedeckt ist… Es ist ein Logbuch, für zwischendurch. Ein Vademecum, ein Lebensbegleiter – für zwischendurch, zur Selbstvergewisserung. Ein junger Mann(13) hatte Die Notizen sogar auswendig gelernt –, er wäre in dieser Reihe Dichter über Dichter der wohl geeignetste Referent gewesen. Doch wohl kaum ein Buch der Weltliteratur eignet sich so wenig zum Auswendiglernen wie die Hohlschen Notizen – das ist meine Überzeugung, je länger ich in diesem Buch von Zeit zu Zeit Einkehr halte. Dieses Grundbuch, dieser bewährte Freund zwischen zwei Buchdeckeln, hilft paradoxerweise – gegen seine Lehre, nicht vorzubereiten, endlich mit dem Vorbereiten, endlich mit den ansparenden Vorbereitungen aufzuhören – große Werke in der Welt und für die Welt, die erst noch entstehen werden, vorzubereiten. Es wird deshalb vielleicht noch einmal eine nicht nur literaturgeschichtliche, sondern sogar weltgeschichtliche Bedeutung bekommen. Es kann zu Taten, zu Taten, die aber verantwortet werden können, beflügeln. Es hat eine "rettende" Potenz.

"Ob der Wille, zu retten, so groß sei, dass er genügt, das ist die Frage", heißt es in Nuancen und Details.(14) Das verwundert. Ein Schriftsteller, der „retten" möchte – und manche behaupten, von ihm gerettet worden zu sein. Ist es aber Aufgabe des Künstlers, zu retten – egal, was? Kann das die Aufgabe des Künstlers sein? Ist das nicht vielmehr die Aufgabe des Seelsorgers, des Psychotherapeuten, des Psychagogen? Diese rettende Emphase ist manchen von Hohls Lesern zu aufdringlich.

   Hohl selber war der Rettung bedürftig. Die Zeichnungen, die Hanny Fries, eine der fünf Ehefrauen des Einsiedlers, von Hohl gemacht hat, sprechen eine nur zu deutliche Sprache. "Der schlafende Hohl" – eines ihrer Lieblingsmotive. Sie zeigen einen Mann, der sich in seine eigenen Arme bettet, der sich selbst aus seinen Armen ein Nest baut, um sich so zu bergen.(15) Am anderen Ende des Bettes eine Katze – Hohl liebte Katzen, sie waren mehr noch als die Frauen seine Lebensbegleiter, doch ein Frauenmensch war er –, die ihren Kopf dem so verzweifelt Schlafenden zuwendet, ob der wohl wieder werde … Doch auch wieder andere Bilder zeigen einen lässigen Hohl, der seine Beine in provisorischer, glücklicher Erschöpftheit von sich geworfen hat, der schlafend am Rücken liegt und sogar aus dem Schlaf heraus, gerade aus dem Schlaf heraus jeder Gewalt trotzen zu können scheint. Oder der sich mit lässiger Geste vor dem Spiegel rasiert, einen nackten Muskelmann, der seine Hantel hochstemmt.(16) Das Bergende des Gebirges – man ist versucht, sich zur Abwechslung einmal im Heideggerischen zu üben.

Selbstverständlich, von einem solchen Mann nicht anders zu erwarten, ist ihm die Homoerotik nicht Gegenstand der Abwehr. "Hohl betont nachdrücklich, dass er nicht homosexuell ist, obwohl er im Herbst 1929 eine solche Erfahrung macht, die für ihn vor allem einen geistigen Höhenflug darstellt. Er bezieht sich auf eine Tradition 'von ältesten Griechen und Sokrates bis Michelangelo und Nietzsche'."(17)  Schon 60 Jahre vor Joachim Köhler, der das Enthüllungsbuch Zarathustras Geheimnis schrieb, war Ludwig Hohl die homosexuelle Grundtextur von Nietzsches Leben und Werk aufgegangen. Dass er daraus aber kein Problem machte, gehört zu Hohls ziviler Modernität, zu seiner ironischen Diskretion. Die entscheidenden Fragen sind immer schon darüber hinaus gewesen. Oder doch nicht? Müssen wir heute anders darüber denken?

   Das andere Ufer ist gleichwohl ein Thema – nicht das andere Ufer, das Sie jetzt meinen. Hohl liebte neben dem Bergsteigen das Schwimmen. Noch in fortgeschrittenem Alter durchschwamm er, zeitlebens Kettenraucher und bisweilen berüchtigter Alkoholiker (unter Eingeweihten in der Schweiz schrieb man mitunter wegen Ludwig Hohl "Alkohohl"…), den Genfer See.

"Wenn man über den See schwimmt, allein, ist das Schwierigste, jedenfalls das Mühsamste, die Monotonie zu ertragen, die dadurch entsteht, daß man lange Zeit nicht im geringsten sieht, ob man vorwärts kommt; das Wasser ist überall dermaßen gleich (höchstens etwa ein Kork, ein Stück schwimmender Algen oder eine Blase spenden manchmal ein wenig Trost). Das jenseitige Ufer scheint nicht näher zu kommen, die dort fahrenden Autos, winzige Punkte, werden nicht größer; die Dinge auf dem verlassenen Ufer dagegen, wenn man einmal die ersten paar hundert Meter zurückgelegt hat, bleiben immer unverändert: die dicke Hügelwelle mit Wiesen, Weinbergen, Schloß und mächtigen Hainen. Besser wäre, nicht mehr hinzuschauen, wenn es nicht nötig wäre, um die Richtung zu bestimmen, und sich ganz der einförmigen Betätigung zu überlassen, im treuen Glauben, daß man dennoch vorwärts komme; in einem Zustand, der sich dem Träumerischen nähert. Einmal aber, doch wieder hinschauend und nicht nur meine Richtpunkte, sondern das weitere Ufer ins Auge fassend: Wer grüßt mich? Wer steht auf einmal da, weiß und hoch? Über die erste Hügelwelle und die folgenden Erhebungen weit hervorgetreten; den man in Ufernähe und noch ein großes Stück in den See hinaus nicht sehen kann; der Montblanc; schaut eine Weile schon mir friedlich zu."(18)

Schwimmen, Bergsteigen, Schreiben – "Alles ist Werk."(19) Das Ziel der Mühen ist Leichtigkeit, sie ist nicht erzwingbar, doch man kann ihr zuarbeiten. Berechenbar ist nichts. "Mysterium der Arbeit: Alles nach und nach zu erreichen, was gar nicht berechenbar war."(20) Die Freunde des Planens werden von Hohls Produktionslehre enttäuscht sein. Hohl schwimmt auf die Ränder zu, diese Ränder mögen hereinbrechen, ja er spricht gelegentlich sogar vom "Elfenreich", das dann erscheine, das sich jedoch verflüchtige, wenn man es festhalten, besitzen wolle. Hohl ist hart und weich zugleich.(21) Das ist ein Arbeiten mit Blick auf die Gnade, die Begnadung der Leichtigkeit, wenn alles nach anfänglichen Mühen wie von selber geht. So seien auch die großen Werke der Geistesgeschichte entstanden, meint Hohl. Hölderlin wird zitiert: "Wie auf… Wassertiefe der leichte/Schwimmer wandelt, so sind auch wir."(22)

   Doch darf man sich diese Gnade – es ist jedoch eine atheistische Gnade, wie überhaupt Hohl stets am Boden dieser Welt bleibt (auch das Elfenreich wird nicht auf esoterische Weise geglaubt, sondern ist ein metaphorischer Symbolismus für Zustände gesteigerter Sensitivität) – als nicht zu harmonisch vorstellen. Nicht Harmonie ist das Ziel; wird sie erreicht, dann nur vorübergehend. Hohl will, wie er sagt, "nie ins Konventionelle, Blasse, ins Tröstliche und Gefühlvolle geraten (…). Ich will nie das Runde, sondern die Geister schärfen, zu ihrer Stärke, ihrer eigenen Handlung führen; auf verschiedenerlei Arten."(23)

"Non multa!" – nicht vielerlei, nicht alles und gar nichts, nicht alles auf einmal. Das war nicht nur der Wahlspruch Schopenhauers, sondern auch Ludwig Hohls. In seinem Nachlass finden sich seine zerlesenen Bücher, z.B. die für ihn so wichtige Ethik Spinozas; Hohl hat nicht einer Lesegefräßigkeit, dem Unmaß nachgegeben, sondern eher nur weniges, dafür dieses dann gründlich und immer wieder gelesen. Immer wieder Einkehr bei den von ihm als Große, als Entscheidende, Maßgebliche Erkannten gehalten. Goethe vor allem – doch nicht alles von Goethe, beim Wilhelm Meister langweilte sich Hohl –, Spinoza, Paul Valéry, André Gide, Hölderlin, Karl Kraus, Proust, Lichtenberg, Montaigne (bewusst zähle ich sie nicht chronologisch – und keineswegs vollzählig – auf, denn diese Dichter-Denker bleiben für immer zeitgemäß, Zeitgenossen, im Reich der Geister "reichsunmittelbar"). Niemals ist eine solche Lektüre abschließbar. Stets können wir beim Wiederlesen Neues entdecken. Unvermutetes. Etwas, das ganz quer dann zu unseren Annahmen, Voreingenommenheiten steht. Autoren von Substanz bedürfen einer beständigen Wartung. Nicht nur sie lesend und wiederlesend zu warten wie eine edle, aber rostanfällige Maschine – der Rost unseres auf der Lauer liegenden Vergessens, dieser Erosion unseres Gedächtnisses, wenn aus unserem einstigen Eros Erosion wird, der Schimmel und Staub, der sich auf die Dinge legt. Nicht nur sie warten, sondern überhaupt warten. Die große Geduld – neben dem, was Hohl den "Löwenmut"(24) nannte, die Haupttugend. Geduldige und genaue, doch gleichfalls lässige und genießende Leser sollten wir auch bezüglich Hohls sein. Wiederkäuer, Ruminierer. Es kann nicht angehen, ein Leben, das in jahrzehntelanger Meditation und Reflexion zugebracht wurde, nunmehr mit einem einzigen Schwammstreich aufzusaugen und auszuwringen – und dann auch noch zu behaupten, dies wäre die Essenz von Hohls Leben und Werk. Es gibt kein Damit-zu-Ende-Kommen, sondern nur ein Beginnen und Wiederbeginnen, (mit Samuel Beckett zu sprechen: ein Scheitern und besser Scheitern). Nicht der Imperialismus eines anmaßenden Geistes, der die Dinge bezwingt und auf den letztgültigen, allgemeingültig sein wollenden Begriff bringt, und der doch koboldisch umtanzt bleibt nicht von Elfen, sondern Irrlichtern, "Furien des Verschwindens", der aufläuft an den "Sandbänken des Vergessens", hineinstürzt am Ende in den "Schacht der Erinnerung" (lauter Hegelsche Metaphern jetzt), in Demenz und Insolvenz. Die Lebendigkeit des Geistes lässt sich nicht nur an bewältigten Quantitäten messen. Sondern auch: an zustande gebrachten Lebensbalancen, Equilibrien, an Provisorien, Pionierstegen, Auslegerkanus wie bei den Austronesiern, an unseren wie auch immer fragilen Nussschalen, mit denen wir auf den Ozeanen – durch Kälte- wie Wärmeströme – navigieren (navigare et vivere necesse est!), am Sternenhimmel uns orientierend und doch manchmal glückselige Inseln wie durch ein Wunder punktgenau erreichend. Die anderen Ufer erreichend, deren Steilküsten – dann beginnt erst recht die Arbeit.

   Ludwig Hohl – das Heilmittel gegen Verzweiflung. Das ist ein Hauptpunkt. Hohl resümiert: "Die Notizen sind geschrieben worden in den drei Jahren 1934 bis 1936, während deren ich in Holland in größter geistiger Einöde lebte."(25) Von dieser Einöde, dieser Monotonie, dieser Verlassenheit sich ein Bild zu machen, ist überaus schwer. Hohl, ohne Schulabschluss, ohne Studium außer dem Selbststudium, stand sozial buchstäblich vor dem Nichts. Er musste in sich selber schürfen und fündig werden, ansonsten hätte er sich aufgeben müssen. Keine Schutzgeister, keine helfenden Hände. In Holland keine Berge, sich zu bergen. Kühe und Tulpen.

Und jetzt kommt das Große, geht ihm der Knopf auf, bricht die Blüte aus der Knospe, gegen die Kahlheit und Stummheit der Wände des Exils – bei einer werdenden Opern-Diva hätte man gesagt (mit Wayne Koestenbaum): Die Kehle ist ihr aufgegangen. (Auch an Luthers poetologisch viel zu wenig beachteten Intuition von der weltenbewegenden Wirksamkeit des Wortes möge am Rande erinnert sein – das protestantische Element in Hohls Biographie wurde schon angesprochen.) Statt zu verzweifeln, statt zu resignieren, statt sich unterzuducken, sich umzubringen oder als "verlorener Sohn" reuig zu den vor lauter Selbstgerechtigkeit verständnislosen Eltern, diesen Pfarrersleuten, die sich ganz pharisäerhaft des "missratenen Sohnes" schämten (ohne den von ihnen heute zurecht nicht mehr die Rede wäre!) heimzukehren, geht ihm die Sprache auf. In ihrer Macht. In ihrer Souveränität. Ihr Magma.

"Der Vorgang war fast immer so: Durch das Fest, die Überschwenglichkeit von Nacht und Abend wurde eine große Strahlung aufgerührt. Am Morgen kam die grausige Dusche, kam der gelbe, lethargisierende, tötende Nebel (nichts als beängstigendes Klagen, Schimpfen, Drohen; alle Abgründe aufreißend, vollständige Kluft mit der Welt zeigend), in die grimmigste Wüste, die schmerzlichste Öde hinaus verstoßend. In diesem Stadium des Schmerzes, und zwar maximalen Schmerzes, Schmerzes ohne irgendeine Beimischung, kam es mich auf einmal, geschehend wie ein Vulkanausbruch, wieder an: das Strahlende, nun eben getötete Untergegangene, elend Abgewürgte des Abends: was soll geschehen? wohin mich wenden? Und so entstand der Mut zu den Sätzen, in die Einsamkeit hinein; in die Einsamkeit, weil ich die Sätze notgedrungen – damit sie durchhielten, hinübertrügen – hart wie Stein machte. Die Wiederkehr des Strahlenden zu erzwingen, Wiederkehr gegenüber einer absolut abweisenden Welt ringsum, einer Welt wie lauter Mauern, wie nur Wüste, war wie ein Sprung ins Ungeheure; der es tat, mußte zum Letzten entschlossen sein (dem Stadium des entschlossenen Selbstmörders nicht unähnlich)."(26)

   Jetzt erst möchte ich einige biographische Daten einflechten. Sie nachreichen, in ihrer ganzen lexikalischen Dürre: Ludwig Hohl wurde am 9.4.1904 in Netstal (im schweizerischen Kanton Glarus) – wie wir schon hörten – als Sohn einer protestantischen Pfarrersfamilie geboren. Seine Schulzeit verbrachte er im Kanton Thurgau. Er besuchte ein Gymnasium in Frauenfeld, wurde aber der Schule verwiesen, weil er angeblich einen schlechten Einfluss – er war ein junger Subversant und Aufrührer, Bandenbildner – auf seine Mitschüler ausübte. Hohl blieb ohne Berufsausbildung, lebte in lebenslang bedrückenden materiellen Verhältnissen. Er war ein "masterless man", war sein eigener Meister, wurde nicht bemeistert, war Autodidakt. Von 1924 bis 1937 hielt er sich, statt den Schulabschluss nachzuholen und zu studieren oder sich eine sogenannte reguläre Arbeit zu suchen, im Ausland auf: Sieben Jahre verbringt er in Frankreich, hauptsächlich in Paris – er plant einen Roman zu schreiben, aber er wird nie einen Roman schreiben, ein Roman ist für ihn nur ein anachronistischer Umweg(27) –, danach ist er 1930/31 einige Monate in Österreich, übersiedelt schließlich in die Niederlande. Von 1931 bis 1937 hält er sich in Den Haag auf, wo der Grundstock des Notizen-Werks gelegt wurde. 1937 kehrt er in die Schweiz zurück, kurzfristig lebt er in Biel, dann lässt er sich endgültig als freier Schriftsteller in Genf nieder, wo er von 1954 bis 1975 in einer Kellerwohnung leben wird. Seine Produktivität erfolgt in Schüben, ist nicht kontinuierlich. Man könnte sagen, er habe sein Jugendwerk über Jahrzehnte sortiert und gesichtet, es zu veröffentlichen gesucht, seine Jahre sind darüber vergangen. Der Durchbruch gelingt erst sehr spät.

Hohl ist aber kein Privatgelehrter, der für sich selber hauptsächlich geschrieben hätte. Er versteht sich schon von Anfang an als Dichter. Er versuchte sich zuerst mit Gedichten, veröffentlichte einzelne davon ab 1923 in schweizerischen Zeitungen, publizierte mehrmals im Selbstverlag. Danach verlegte er sich vornehmlich auf Kurzprosa. Doch wer wäre scharf darauf, ein in einem Kleinstverlag erschienenes, armseliges Büchlein zu kaufen, das den Titel Drei alte Weiber in einem Bergdorf trägt?

   Das erzählerische Werk Ludwig Hohls ist insgesamt recht schmal, doch es zeigt seine enorme Begabung auch auf diesem Gebiet. Es sind nur ein paar Probestücke – an denen Hohl übrigens jahrelang feilte –, die jedoch unter Beweis stellen, dass er, auf Augenhöhe mit Kafka, erzählen konnte. Bergfahrt heißt seine bekannteste und geschlossenste Erzählung.(28) Es sind leider nur ein paar von ihm erbrachte Meisterstücke von großer Eindrücklichkeit, von beklemmender Realistik, abgründigem Symbolismus. Zeugnisse der materiellen wie der Seelennot, der Bewährung in Extremsituationen. Es spiegelt sich darin die reale Notsituation unseres Autors wider – so heißt es in einer Skizze mit dem Titel Und eine neue Erde – über einen Maler Andreas W.: "Und so hatte er an den Grenzen der Nacht sich sein Haus eingerichtet, zuäußerst, an der Kante, wo die Welt plötzlich abbricht, um ins Nichts zu versinken. Sie gewährte ihm keinen andern Platz. Der Sprung in die Nacht, ja, diese Möglichkeit wäre ihm geblieben, aber er sagte: 'Wir dürfen nicht', und hat sich dort sein Haus eingerichtet."(29)

Hohls Hauptschaffenszeit setzte ein mit dem Beginn der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. In den holländischen Jahren ist der Hauptteil des Notizen-Werks entstanden, der Autor, in äußerster Abgeschlossenheit, begann mit der Niederschrift seiner Soliloquien. Doch ist er dabei stets ein präziser Beobachter der Außenwelt. Äußerlich auf Tauchstation, verkapselt wie kein Zweiter, arbeiten die Eindrücke dieser Außenwelt an und in ihm. Er laboriert an dieser Außenwelt. Doch auch die Innenwelt, vor allem über den Traum, beliefert ihn mit einem schier unerschöpflichen Stoff. Man hat als Leser nicht den Eindruck, dass er in seinem eigenen Safte schmort und sich in eine Falle gesetzt hat, die über ihm zugeklappt ist. Freilich vermisst er – sowohl in den Pariser Jahren als auch im flachen Holland – seine Schweizerberge.

   In Paris – damals war er ja noch ein sehr junger Mann – marschiert er nächtens um die Grenzlinien der Arrondissements, und zwar sämtlicher zwanzig. Eine eigene, eventuell provinzielle Methode, eine Weltstadt zu erkunden. Die Welt, die Halbwelt auch fällt über ihn herein, doch er macht es so "wie die schrägen Regen tun" (um Majakowski zu zitieren), er übt sich in distanzierter Selbstbewahrung. Andere in seiner Lage wären zugrunde gegangen oder hätten aufgegeben, sind zugrunde gegangen und haben aufgegeben. Nicht so der disziplinierte Arbeiter Ludwig Hohl. Alles Erlebte wird ihm zum Stoff der Gestaltung, Durchgestaltung, selbst das scheinbar Unbedeutendste – gerade diesem widmet er sein Augenmerk. Seine damaligen Lieblingslokale in Paris sind auch Treffpunkte der internationalen Künstlerszene. Doch das Mondäne scheint Hohl nicht zu interessieren, er ist kein Adabei und biedert sich nicht bei den Berühmtheiten an, wird nicht ihr Adlatus. Er ist keine Eckermann-Natur. Auch unternimmt er nichts, durch Knüpfen eines Beziehungsnetzes seine prekäre soziale Lage – heute würde man es nennen: sein "Prekariat" – zu verbessern. Er muss sogar manchmal seine Kleidungsstücke veräußern. Mit seiner damaligen Lebensgefährtin, die tatsächlich im Familiennamen Luder heißt (Hohls Mutter hingegen ist eine geborene Zweifel), macht er sich auf stundenlange Wege zu Trödelläden, den Koffer mit alten Klamotten schleppend. Solche Erfahrungen hält er mit unverwechselbarem Sozialrealismus, das Groteske nicht scheuenden Verismus fest. Ulrich Stadler meint: "Er muß einem Großteil der französisch und englisch (bzw. amerikanisch) sprechenden Prominenz in der europäischen Kunst- und Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts begegnet sein. Aber er erwähnt keinen. Auch die Namen der schon mehr oder weniger berühmten deutschsprachigen Schriftsteller wie Walter Hasenclever, Joseph Roth, Franz Hessel und Walter Benjamin werden nicht genannt."(30)

Hohl war 1926 geradezu Stammgast der Rotonde, dort hatten Leute wie Trotzki und Modigliani verkehrt, und zur gleichen Zeit wie Hohl waren hier häufig Picasso, Alberto und Diego Giacometti sowie die Surrealisten zu Gast. Der damals erst knapp 22 Jahre alte Hohl erwähnt diese Prominenten mit keinem Wort. Sie scheinen für ihn nicht zu existieren. Er, der ein so feines Sensorium für alle Vorgänge um ihn herum besitzt, eine Späher-Begabung, die sich selbst unsichtbar zu machen versteht, will nicht von fremden Häuptern das eine oder andere Lorbeerblatt herunterzupfen, um sein armseliges Süppchen damit zu würzen. Besser diese Suppe der Widrigkeiten und Epiphanien des Alltags dann beschreiben! (31)

   Einen Roman vermochte Ludwig Hohl aus seinen Pariser Aufzeichnungen aus jenem Jahr am Rande der Zeit, 1926, zwar nicht zu formen, doch so erfahren wie "mehr über das nächtliche Paris der zwanziger Jahre und mehr über den jungen Hohl, als dies der Fall wäre, wenn es dem Autor gelungen wäre, subjektive Ansprüche und objektive Gegebenheiten in ein konventionelles, mehr oder weniger gefälliges Arrangement zu pressen."(32) Das wäre eben dann – "Schemaliteratur" geworden.

Müßig, diese Blickfeldeinschränkung zu beklagen. Hohl wird sich später – auch infolge zunehmender Not – immer mehr einkellern. Mit den holländischen Jahren setzt dieser konzentrative Prozess ein und wird jenes Notizen-Werk zeitigen, für das Hohl schließlich berühmt geworden ist – und bleibend. Die Vorgeschichte – um mit Joseph Conrad zu sprechen: "the long foreground" – sollte kenntlich oder wenigstens ahnbar geworden sein.

"Hohl hat seine zwischen 1934 und 1936 geschriebenen Notizen fast lebenslang immer wieder 'umgebaut', korrigiert, kommentiert, eliminiert, ergänzt. Insgesamt bildeten sie für ihn so etwas wie ein grandioses Gerüst zu einem noch grandioseren Werk, das freilich immer imaginär bleiben musste, weil schon der Gerüstbau ihn alle Kraft kostete. Was von Valéry gesagt wurde, er sei der größte Schriftsteller ohne Werk, ließe sich erst recht von Ludwig Hohl sagen, der dieses Dilemma aber klug kompensierte, indem er den herkömmlichen Werkbegriff kurzerhand aufkündigte und schlechterdings alles zum Werk erklärte: ‚Alles: ob ich eine Stelle eines Schriftstellers unterstreiche oder herausschreibe, einen Brief sende, etwas notiere, etwas denke, eine Stellung nehme … alles ist Werk’."(33)

   In einer lustigen Stunde äußerte er folgendes zum literarischen Gattungsproblem:

"Ob man das, was ich schreibe, Prosa, Lyrik, Epik oder Philosophie nenne, ist mir ganz gleich. Du kannst es meinetwegen nennen Isabella oder Victoria; wenn du nur etwas davon verstehst."(34)

Also ich will es mal zur Abwechslung beherzigen, aus einer von Hohl inspirierten Laune heraus, und Isabella oder Victoria nennen. Wie ist Isabella oder Victoria konfiguriert? Sie sollte doch ein schönes Mädchen sein oder zu einer bewundernswürdigen Dame heranwachsen, oder?

Der von Hohl überaus geschätzte Vorsokratiker Heraklit von Ephesos hatte ja gesagt: "Ein Haufen aufs Geratewohl hingeschütteter Dinge ist die schönste Ordnung." Gerade das aber hätten Hohls Notizen am wenigsten sein wollen.

"(…) das Werk – was immer es sei – kann nicht richtig erfaßt werden, bevor man seine Einheitlichkeit erfaßt hat. Es ist nicht eine Sammlung von Aphorismen."(35)

   Berühmt sind die Fotografien, die Ludwig Hohl in seiner Höhle zeigen, mit den vielen Zetteln, die er – er ist ein ordentlicher Mensch gewesen, nicht nur Frühaufsteher, sondern sogar ein ordentlicher Mensch! – zur besseren Übersicht an Wäscheleinen mit Wäscheklammern befestigte. Doch ist Hohl nicht unbedingt ein Mann der Waschküchen gewesen: "Lieber will ich denn doch schmutzige Wäsche tragen, als viel von Wäsche reden" – auch Sätze solch eher platter, handgreiflicher Art stehen manchmal in den Notizen.(36) Man darf es sich dann doch wieder nicht zu erhaben vorstellen, das wäre verkehrt.

Am Beispiel Ludwig Hohls lässt sich zeigen, dass eigentlich gar nicht viel dazu gehört, zu einem "Außenseiter" abgestempelt zu werden. Man braucht sich nur aus der Gesellschaft zurückzuziehen, um mit diesem Stigma bedacht zu werden. Vor allem, wenn man im finanziellen Sinn nicht vermögend ist. Trotzdem etwas zu wollen und etwas Anspruchsvolles zu wollen und sich nicht von außen, einem Arbeitsamt eine Tätigkeit vorschreiben zu lassen(37), gilt auch heute noch und heute wieder als Skandalon. "Kannst du leben von deiner Literatur?" – das ist auch heute eine oft, eine zu oft gestellte Frage an Autoren. Ludwig Hohl konnte von seiner Literatur nicht leben, doch heute beschäftigt er Verlage, Literaturwissenschaftler, Archivare, Ausstellungsmacher, es gibt auch eine rührige Ludwig-Hohl-Stiftung inzwischen. Der Autor selbst nagte am Hungertuch. Seine Eltern – die reformierten Pfarrersleute – schämten sich zeitlebens ihres missratenen, erfolglosen und daher gottunwohlgefälligen Sohnes und ließen ihn das auch bei jedweder sich bietenden Gelegenheit wissen, was ihn sicher schwer depravierte, diminuierte und deprimierte. Jeder anständige Mensch sei in Lohn und Brot. Ludwig hingegen privatisierte. Wann würde das je enden?(38)

   Auch bei Anhängern der sogenannten "Kritischen Theorie" oder auch bei Marxisten, ebenso bei Freunden der Psychoanalyse, überhaupt bei allen, die das Individuum vom Gesellschaftlichen her verstehen, statt umgekehrt das Gesellschaftliche vom Individuum her, stößt dieses absonderliche Lebensprojekt eines Außenseiters, eines "puer aeternus" auf wenig Gegenliebe. Es muss ihnen als Verstiegenheit eines unreifen Charakters erscheinen, der sich weder therapieren noch sozialisieren ließ. Bislang hat der Name Ludwig Hohl noch nicht Eingang in die Geschichte der Philosophie gefunden, obwohl er zur einen Hälfte dort hinein gehört. Hohl war Autodidakt, er hatte sich selbst zum Lehrer. Er hatte nicht einmal einen ordentlichen Schulabschluss, geschweige denn ein akademisches Studium absolviert. Wer war er denn? Wie konnte er sich zu solchem vermessen?

Die Trivialisierung, Banalisierung folgt solchem besserwisserischen Moralisieren auf dem Fuß. Hohl habe es sich unnötig schwer gemacht, nicht alle Chancen, die sich ihm boten, genützt, er habe sich der Sozialisierung entzogen, und sein Unglück sei am Ende und zuallererst auch auf seine Sturheit, seine Eigenbrötlerei zurückzuführen. Es sei diese forcierte Subjektivität, der sich Hohl verschrieb, eine Form "falschen Bewusstseins". Oder eines antiquierten Bewusstseins. Er hätte die kleinbürgerlichste der kleinbürgerlichen Existenzen geführt. Elend und pathetisch gelebt. Um mit dem Individualanarchisten Max Stirner zu reden: als "Kotsasse", als einer, der in seinem eigenen Kot, in seinem Kellerloch sitzt und sich dort einbunkert, dort Gedankengebilde thesaurierend. Ein verschwenderischer Sparmeister, ein "fürchterlicher Arbeiter". Im Grunde sei das Scheinarbeit gewesen; zwar ist der Begriff des Arbeitens bei Hohl ein zentraler – wenn nicht sogar der zentrale –, aber dies sei keine gesellschaftliche Arbeit. Es sei der zum Scheitern verurteilte Versuch, sich in Selbstbestimmung zu behaupten, eine nur mehr ins Leere laufende Geste dieser Selbstbestimmung. Deshalb auch die vielen Wiederholungen, Affirmationen in Hohls Werk. Abstieg und Elend des Bürgertums, Verfallsform, Sackgasse. Ein Lehrstück dessen, wie man es nicht macht. Wie man es nicht machen dürfe. Der Soziologe schließt die Akten, der Fall Ludwig Hohl ist für ihn erledigt. Glasklar.

   Doch hören wir lieber, was Hohl über Das Engagement des Schriftstellers schreibt:

"Darüber, daß der Schriftsteller sozial engagiert ist, besteht für mich seit langem kein Zweifel. Allein, daß er in einer Sprache sich äußert, ist ein Beweis dafür. Denn ohne die andern – gleichviel in welcher Art, in welchem Grade die andern da seien, ob sie nur gedacht seien z.B. – würde die Sprache nicht existieren. Wenn ein Mensch ganz allein wäre, freilich eine undenkbare Vorstellung und ein unmöglich durchzuführender Test –, würde er allmählich, über kurz oder lang, aufhören zu schreiben, aufhören zu sprechen, in sich selbst zu sprechen, 'zu sich selbst' zu sprechen (das 'zu sich selbst' ist nur eine Fiktion), zu denken. Er würde schließlich – wahrscheinlich über Stufen wie Wahnsinn und Verblödung – aufhören, zu sein. Denn der soziale Trieb ist, neben dem Ernährungstrieb, der mächtigste Trieb des Menschen. (…) Also sind, aus einer gewissen Distanz gesehen, alle Werke, möge es sich um Drama oder Epik, um Gedichte oder Philosophie (etc.) handeln, nichts als Briefe an einen Freund (einen fernen vielleicht wohl, einen nur vorgestellten; dennoch Briefe an einen Freund oder Freunde, – an die Menschen). (Und das Gerede vom Elfenbeinturm wäre eine der größten Sinnlosigkeiten, die je geredet wurden, wenn es das Gesamte des Künstlers und nicht nur eine Einzelheit beträfe.)"(39)

Und Hohl verortet den Schriftsteller, damit sich selbst – wenigstens im Jahre 1972 – auf der Seite der politischen Linken:

"Daß alle Schriftsteller heute unter den politisch mehr oder weniger links Gerichteten zu finden sind, steht für mich außer Frage. Daß auf der entgegengesetzten Seite, heute, noch Schriftsteller von einiger Bedeutung existieren, – das kann ich mir nicht vorstellen."(40)

Doch dann kommt ein für Hohl charakteristisches Selbstzitat: "Was wäre das für ein Sozialismus, wenn man in den andern nur die andern, nicht sich selber sieht?"(41)

Das sind doch klare Gedanken, die ein Licht auf die Hohlsche Klausur werfen. Der Hohl-Keller wäre demnach, um mit unserem Einsiedler zu reden, nicht "das Gesamte des Künstlers", sondern "nur eine Einzelheit", etwas durch die Umstände Bedingtes, Akzidentielles, nicht Substantielles. Überdies bedarf das Bild des Inklusen, des scheinbar Weltflüchtigen dringend einer Richtigstellung: Hohl war, wie wir heute wissen, ein sehr der Geselligkeit bedürftiger, ja ein eminent liebesbedürftiger Mensch. Das 2003 bei Nagel & Kimche erschienene Buch von Werner Morlang Die verlässlichste meiner Freuden. Hanny Fries und Ludwig Hohl zeigt uns einen äußerst kommunikativen, überhaupt nicht menschenfernen oder menschenfeindlichen Hohl.(42) Keinen eskapistischen Weltflüchtigen, sondern einen Bohemien. Er war – das dürfen wir nicht außer Acht lassen – fünfmal verheiratet, mit dem Resultat einer Tochter. Eher untypisch für einen Asketen.

   Das Historische Lexikon der Schweiz behauptet, dass Ludwig Hohl "der Erfolg Zeit seines Lebens versagt" geblieben sei, obwohl doch auch zwei Auszeichnungen darin vermerkt sind (1970 Schillerpreis, 1980 Petrarca-Preis).(43) Es darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass Hohl in seinen letzten Lebensjahren und posthum doch immerhin im bedeutendsten deutschsprachigen Verlag publiziert wurde. Siegfried Unseld besuchte Hohl in der Genfer Kellerwohnung und war von dem doch bei aller äußerlichen Bescheidenheit so noblen, so überaus souveränen, charmanten, charismatischen Höhlenmenschen sogleich angetan und erlöste ihn aus seiner Verzauberung. Die Katastrophe mit dem Artemis-Verlag (10 Jahre hindurch musste Hohl mit diesem Verlag prozessieren, der den Autor um die Publikation des zweiten Bandes der Notizen geprellt hatte – Hohl gewann schließlich den Prozess, aber wie kraftaufzehrend war dieses Prozessieren für den notleidenden Hohl gewesen!), diese von Hohl so genannte "Katastrophe mit Artemis" war dann doch im späten Neustart bei Suhrkamp – Hohl wurde zum Hausautor: nahezu alles, was von Hohl sich veröffentlichen ließe, würde bei Suhrkamp erscheinen (wie bei Thomas Bernhard, wie bei Hans Erich Nossack oder Hermann Lenz, wie bei Hohls Landsmann Robert Walser) – zu einem stillen Triumphzug geworden. Immerhin erschienen Die Notizen sogar an prominentester und prononciertester Stelle – sozusagen am "Höhenkamm" deutschsprachiger Nachkriegs-Literaturgeschichte, wie eine Krone (keine Bettlerkrone mehr!) auf Samt gebettet – als Band 1000 der Suhrkamp-Taschenbücher (jedoch kurz nach Hohls Tod, Hohl starb am 3.11.1980 und wurde am Genfer Prominentenfriedhof Plainpalais bestattet), was die besondere Signifikanz dieses Werks als eines Schlüsselwerks unterstreicht. Vielleicht ist es gestattet, den späten, so verdienten, ihm so zu gönnenden Erfolg Hohls mit dem späten, dafür dann durchschlagenden Erfolg Arthur Schopenhauers zu vergleichen. Lange Wirksamkeit im Stillen, private Gelehrsamkeit, verbissene Dissidenz, ein Aushalten in der Isolation – im Bewusstsein jedoch, Großes und Größtes für die Menschheit geleistet zu haben.

Die großen Werke können warten. Sie warten auch. Ihre Stunde kommt. Wenn es denn – und wäre es nur metaphorisch – den "Weltgeist" gibt, dann wäre nicht verwunderlich, wenn Ludwig Hohls Notizen sich inzwischen zuoberst im Marschgepäck dieses Weltgeists befänden. Es ist ein Bordbuch, ein Skizzenbuch, es enthält eine vollkommen transparente Methode, sich durch die Welt zu bewegen. Umso erfreulicher, wenn Ludwig Hohl in den letzten Jahren seines gegen fast übermenschliche Widerstände und Unbilden sich behauptenden Lebens der Widerschein, der Vor-Schein jenes Glücks noch zuteil wurde, in der Menschheit angekommen zu sein. Gibt es einen größeren, einen erhabeneren Erfolg? – So möchte ich mit einem Zitat von Francesco Petrarca schließen, das auch Schopenhauer hinsichtlich seines eigenen in Stürmen gereiften Lebenswerkes gerne gebrauchte: "Si quis, toto die currens, pervenit ad vesperam, satis est" ("Wenn jemand, der den ganzen Tag gelaufen, am Abend ankommt, ist´s genug").

Guten Abend!

 

Anmerkungen

* Vortrag, gehalten am 7.2.2008 in der von der Volkshochschule Linz in Zusammenarbeit mit der Grazer AutorinnenAutorenversammlung veranstalteten Reihe "Dichter über Dichter", im "Wissensturm" der Volkshochschule.

(1) Ludwig Hohl: Von den hereinbrechenden Rändern. Nachnotizen, Frankfurt a.M. 1986, S. 382.

(2) Ebd., S. 385.

(3) Der Name Hans Saner begegnet uns auch im Zusammenhang mit Ludwig Hohl; er hielt die Rede am Tag der Beerdigung, in: Johannes Beringer (Hg.): Ludwig Hohl, Frankfurt a.M. 1981, S. 158ff.

(4) Ludwig Hohl: Die Notizen oder Von der unvoreiligen Versöhnung, Frankfurt a.M. 1984, S. 221.

(5) Hohl lässt folgende Spitze gegen seine Landsleute los: „Die Schweizer sind stolz darauf, so schöne Berge geschaffen zu haben“ (ebd., S. 507).

(6) Ludwig Hohl: Daß fast alles anders ist, Frankfurt a.M. 1984, S. 74.

(7) Ludwig Hohl: Nuancen und Details, Frankfurt a.M. 1990, S. 62. – Das Bild der Orgel kehrt auch an anderer Stelle wieder, diese Orgel ist dort aber ein Organon der Welterweiterung: „Das wahre Arbeiten wäre wie die Melodie einer Orgel, wenn die Melodie einer Orgel mehr Orgeln und immer größere Orgeln erschüfe“ (Ders., Von den hereinbrechenden Rändern, S. 314).

(8) Ebd., S. 38.

(9) Ebd., S. 39.

(10) Ders., S. 761.

(11) Ders., Nuancen, S. 16.

(12) Ebd.

(13) Nämlich der hauptsächlich als Berner Chansonnier bekanntgewordene Mani Matter (1936-1972), der sogenannte Sudelhefte verfasste, denen nicht nur Lichtenberg, sondern auch Hohl Pate stand.

(14) Ders., Nuancen, S. 47.

(15) Vgl. Ders., Notizen, S. 146f.

(16) Vgl. Werner Morlang: Die verlässlichste meiner Freuden. Hanny Fries und Ludwig Hohl. Gespräche, Briefe, Zeichnungen und Dokumente, München/Wien 2003.

(17) Barbara Lafond: Ludwig Hohls Wahrnehmung von Welt. Über die unveröffentlichten "Epischen Grundschriften" (1926-1937), in: Text +Kritik, Heft 161, Ludwig Hohl, Januar 2004, S. 7-22, S.13.

(18) Hohl, Daß fast alles anders ist, S. 7. – Ebenfalls abgedruckt als letzter Text unter dem Titel Mühsal (Nr. 586) in: Ders., Von den hereinbrechenden Rändern, S. 439.

(19) Vgl. Peter Erismann/Rudolf Probst/Hugo Sarbach (Hg.): Ludwig Hohl "Alles ist Werk". Eine Publikation des Schweizerischen Literaturarchivs und von Strauhof Zürich Literaturausstellungen, Frankfurt a.M. 2004.

(20) Hohl, Nuancen, S. 76.

(21) "Du sollst die Elfen nicht an dich ziehen, du kannst sie nicht besitzen, nicht in deinen Schrank einschließen; sie vergehen, wenn du sie an dich ziehst. / (Und sollen sie dir für immer verloren sein? Wandle! Du wirst sie wiedersehen – wenn die Nächte gut sind)" (ebd., S. 53).

(22) In: Ders., Von den hereinbrechenden Rändern, S. 26. – Die von Hohl nicht ganz exakt, wohl aus dem Gedächtnis zitierte Zeile stammt aus Hölderlins Ode Dichtermuth (erste Fassung): "Denn, wie still am Gestad, oder in silberner / Fernhintönender Fluth, oder auf schweigenden / Wassertiefen der leichte / Schwimmer wandelt, so sind auch wir" (Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. 2, Stuttgart 1951, S. 62, Vers 9-12).

(23) Ders., Von den hereinbrechenden Rändern, S. 222f.

(24) Ebd., S. 16f.

(25) Ders., Notizen, S. 5.

(26) Ders., Von den hereinbrechenden Rändern, S. 228.

(27) "Um Leser zu fangen, muss man Romane schreiben. Um sie zu verlieren, muss man gut schreiben“, wird er in den Notizen festhalten (Ders., Notizen, S. 309).

(28) Vgl. Ders.: Bergfahrt, Frankfurt a.M. 1978.

(29) Ders.: Und eine neue Erde, Frankfurt a.M. 1990, S. 123.

(30) Ulrich Stadler: Nachwort, in: Ludwig Hohl: Aus der Tiefsee. Paris 1926, Frankfurt a.M. 2004, S. 329-337.

(31) Später, als reifer Mann, wird Hohl schreiben: Die Dichter "sollten jene Regionen aufsuchen, in jenen Regionen sich aufhalten, in denen noch Dunkelheit herrscht, damit von dort her wiederum der Strahl brechen könne" (Ders., Von den hereinbrechenden Rändern, S. 362). – Vgl. auch Peter Utz: Die Verwandlungskraft der Dämmerung. Ludwig Hohls Pariser Aufzeichnungen, in: Text + Kritik, Heft 161, S. 68-79.

(32) Ebd., S. 335.

(33) Peter Hamm: Gipfelsturm und Tiefseesog. Neues zum 100. Geburtstag des genialen Schweizer Außenseiters Ludwig Hohl, in: Die Zeit, 7.4.2004 (Nr. 16).

(34) Hohl, Von den hereinbrechenden Rändern, S. 27. – "Die die Grenze zwischen Kunst und Philosophie genau zu ziehen vermögen, sie müssen entweder mir ganz unvorstellbare Geister sein oder überhaupt keine Geister" (Ders., Notizen, S. 424).

(35) Ebd., S. 5f.

(36) Ebd., S. 525.

(37) "Ich habe Kapazitäten an einem einzigen Ort: in der Literatur; für nichts habe ich Talent oder auch nur eine schmale Möglichkeit. Die Leute verlangen alles von mir, nur das eine nicht: die Literatur" (Ders., Von den hereinbrechenden Rändern, S. 57).

(38) Vgl. Traugott Vogel: Würde und Unwürde der Armut. Über Ludwig Hohl, in: Beringer (Hg.), Ludwig Hohl, S. 163-185.

(39) Ders., Mut und Wahl. Aufsätze zur Literatur, Frankfurt a.M. 1992, S. 86.

(40) Ebd., S. 87.

(41) Ebd. – Hohl sieht sich zwar als Individualisten, doch versteht er sich zugleich als politisch, aber mehr auf indirekte Weise: "Meine Aktion, ganz dem Individuum zugewendet, schließt das Politische (innerlich) nicht aus; feindet es nicht an, anerkennt es als Ergänzung, als notwendig dort (das Politische ist für L.H. "dort", nicht hier – Anm. P.H.); ja, mehr noch, führt die Individuen geradezu zu ihm hin (…). (…) Aber ich wende mich an das Individuum; niemand ist weiter davon entfernt, eine Lehre für das kollektive Handeln, eine politische Lehre geben zu wollen, zu können“ (Ders., Von den hereinbrechenden Rändern, S. 222f.). – Hohl , hierin vermutlich wirklich etwas weltfremd, glaubt, dass die Besinnung auf die eigene Seele auf lange Sicht gesehen eine größere Aufgabe darstelle als politische Probleme zu lösen, die man sozialtechnologisch sogar verhältnismäßig sehr bald werde lösen können (ist das der spezifische Optimismus dieser Nachkriegsjahre gewesen?): "Man hat sehr großes Politisches zu erledigen. Daher kann man meine Schriften jetzt nicht lesen. Aber wenn die Hauptmasse des Politischen erledigt sein wird – wohl in sehr wenigen Jahren –, wenn man sich wieder zu besinnen anfangen wird ("wo, wer sind wir nun?"), dann – das scheint mir anzunehmen erlaubt – wird man wohl meine Schriften lesen“ (ebd., S. 223).

(42) Vgl. Morlang: Die verlässlichste meiner Freuden.

(43) Hohl erhielt 1970 und 1976 den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung, 1978 den einmalig verliehenen Robert-Walser-Centenar-Preis und im Todesjahr 1980 den Petrarca-Preis.

 

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