Meine
Damen und Herren, ich wünsche einen guten Morgen!
Sie haben richtig gehört,
sich nicht verhört. Einen guten Morgen! Ausgerechnet einen guten
Morgen! Denn der Frühaufsteher Ludwig Hohl meinte:
"Der Abend ist eine
schlechte Zeit für Vorträge. Warum nie am Morgen? Warum müssen die Leute
zu Vorträgen kommen, wenn sie verbraucht, wenn sie nur noch geeignet
sind zu Vergnügungen? Würden die Menschen früher aufstehn, wäre die Welt
anders. Der Abend macht kommun, am Morgen ist jeder allein und muß
schreiten."(1)
Wollen Sie trotz
fortgeschrittener, abendlicher Stunde eine Weile mit mir schreiten und
nachher vielleicht ein bisschen mit mir streiten?
Doch wir sind hier nicht
in Berlin, es ist mir schon bewusst. Sie fast alle sind nolens volens früh,
viel zu früh aufgestanden, ich weiß das wohl.
Der Morgen hat es in sich,
jeden Morgen finden wir uns in Fragmenten vor. "Jeden Morgen liest er sich
in Scherben auf. Und jeden Morgen setzen sich die Scherben wieder zusammen",
schreibt Hohl von sich in der dritten Person. Von jedem Menschen genau
genommen.(2) Auch das Hohlsche Werk ist ein geordneter Scherbenhaufen –
bestehend aus lauter Fragmenten. In allerdings antifragmentarischer
Absicht. Morgenstund’ hat Fragment im Mund.
Zuerst
bedarf es einer Vorabklärung: Kennen Sie den Begriff "Höhenkammliteratur"?
Ich jedenfalls kannte ihn bislang nicht. Ich fragte auch eine ganze Reihe
von Bekannten und Freunden in Berlin, ich fragte auch in Österreich nach,
ich telefonierte mit einer Kollegin aus der Schweiz, fragte
Literaturprofessoren, einen Berufsrezensenten, schließlich auch noch zwei
Deutschlehrer – sie alle konnten es mir nicht sagen. Mir war dieses
befremdliche Wort in einer längeren kritischen Abhandlung über jenen Dichter
begegnet, der heute zur Rede steht.
Ludwig Hohl war in seiner
Jugend ein begeisterter Bergsteiger, eine seiner wenigen veröffentlichten
Erzählungen heißt Bergfahrt. Bergsteiger haben es ja mit Höhenkämmen
zu tun. War es vielleicht das?
Hohls Pathos für die Berge
ist berühmt. "'So sind Sie nicht Kommunist?’ – nein, ich bin es nicht. –
'Also Nationalist?' – nein, das Gegenteil. Und drum bin ich nicht Kommunist,
denn der Kommunismus ist noch verstärkter Nationalismus – 'Was sind Sie
dann?!' – 'Alpinist… Ich steige auf die Berge und blicke auf das Getümmel.'"
So antwortet Ludwig Hohl in einem fiktiven Verhör einem ihn ausquetschenden
Polizisten.
Von
den Höhenkämmen auf das "Getümmel" herabblickend … Das wäre ja schon eine
Erklärung. Ich erinnerte mich an erst posthum von Hans Saner(3)
herausgegebene Notizen zu Martin Heidegger meines
Lieblingsphilosophen Karl Jaspers, wo dieser von sich und Heidegger
schreibt, sie beide seien die Einzigen, die einzigen Philosophen ihrer Zeit
von Relevanz, die gleichsam einander auf den "Firnen" begegnen würden. Das
klingt verdächtig jetzt nach "Höhenkamm", würde ich sagen.
Höhenkamm-Philosophie, Höhenkamm-Literatur – einerlei. Man mag dazu ja
stehen, wie man möchte, elitär ist es schon. Doch da drunten – seien wir uns
ehrlich – kann ja wirklich Dreck sein, z.B. brauner marschierender
Dreck. Was da unten unter den Nebeln, unter der Smog-Glocke sich befindet,
ist ja wirklich oft unersprießlich.
An Nietzsche auch wäre zu
denken, an seine Aufenthalte im Oberengadin, an die Maler Segantini und
Hodler, an den Graphiker Dario Wolf. Es zog sie in die Berge. Sie
versprachen sich von den Bergen Klarheit, Reinheit, Überblick, Erhabenheit,
das Ewige. Sogar noch Adorno holte sich (wie der Schweizerphilosoph, nach
Hohl der größte, der weitum unbekannte Hans F. Geyer) in den Bergen den Tod.
Also auch Höhenkamm-Malerei – neben Höhenkamm-Toden – scheint es zu geben,
nicht wahr?
"Es muss etwas Größeres
vor euch erstehen. Man ist nicht mit dem Montblanc auf du und du", schrieb
Hohl in seinen Notizen.(4)
Der
Wunsch nach einem würdigen Widerstand. Nach dem Objekt, dem Gegen-stand, dem
Entgegenstehenden, dem Nicht-Ich, an dem das Ich (mit dem deutschen
Idealisten Fichte zu reden) sich misst, abarbeitet, ja sich gewinnt, sich
konturiert und profiliert. Egal, ob es sich um das Bezwingen der
Kletterwände und Berggipfel oder ob es sich um Literatur und Philosophie
handelt, Hohl wird nicht müde zu betonen, dass es den "nie ausbleibenden
Segen der Anstrengung" gäbe. Und überdies – es mag verblüffen – lautete eine
seiner Maximen: "Alles ist Werk". Sogar das Ausruhen vom Werk ist noch Werk,
das Atmen, das Tagebuch- und Briefeschreiben. Das Work-out am Körper: Hohl
pflegte Hanteln zu stemmen und penibel Tag für Tag die gestemmten Gewichte
zu notieren. Es hat etwas Rührendes oder Berührendes, wie Hohl trotz eines
Einsiedlerlebens später, nachdem er schon jahrelang nicht mehr in die Berge
gegangen war, sich neben dem Schreiben körperlich ertüchtigt. Auch diese
Arbeit an seinem Körper ist "Werk". Sogar mit dem Alkohol explorativ,
selbsterforschend umzugehen, kann "Werk" sein, die Balance zu finden und
wiederzufinden, ist selbstverständlich "Werk". Wenn Träumen auch "Werk"
bedeutet – und nichts stünde nach Hohl dem entgegen –, sieht man sich
erinnert an das Wort "Traumarbeit" von Sigmund Freud.
Arthur Rimbaud sprach von
den "fürchterlichen Arbeitern" der Moderne. Hohl gehört zu ihnen, da ist
kein Zweifel.
Zurück jedoch zur Klärung
des noch strittigen Begriffs einer "Höhenkammliteratur"! Ich musste auf
einmal denken, dass es vielleicht ein spezifisch schweizerischer Begriff(5)
sein könnte, eine Gruppe von Dichtern aus der Schweiz bezeichnend, deren
Existenz mir entgangen sein mochte. Dichter, die es mit den in der Schweiz
wie ja auch in Österreich anzutreffenden Höhenkämmen zu tun hätten, diese
besängen etc. Ich wurde diesbezüglich nicht fündig. Was war es dann?
Der
Hohl-Kritiker verblüffte mich, indem er behauptete, Hohl gehöre nicht
zur Höhenkammliteratur. Wer gehört denn eher dann zu dieser ominösen
Höhenkammliteratur, musste ich mich erstaunt fragen. Schließlich – da in
jedem Menschen auch ein Spielverderber steckt, zumal ein Spielverderber
seiner eigenen Spiele – machte ich mich im Internet kundig. Wikipedia, die
sogenannte "freie Enzyklopädie", von der man halten möchte, was man eben von
ihr halten möchte, bringt sogar eine Definition, als handelte es sich
bei "Höhenkammliteratur" um einen festen, allgemein eingebürgerten Begriff.
Und diese Definition lautet folgendermaßen: "Unter Höhenkammliteratur,
auch Hochliteratur genannt, versteht man die anerkannte, in Schule und
Wissenschaft als hochstehend angesehene Literatur. Darunter fallen u.a. die
Klassiker."
Nun war ich wirklich
verblüfft. Ich musste dieses Wort "Höhenkammliteratur" – in dieser Bedeutung
hier – sofort als vollkommen schwachsinnig empfinden. Es steht schlecht um
unsere Schulen und Universitäten, schlecht um Feuilleton und
Literaturkritik, wenn ein solches Wort unbefragt und unbezweifelt das
Bürgerrecht in der Literaturanalyse genösse. Wenn so ein Wort vielleicht –
welch ein Alptraum dies! – in Prüfungen von Schülern und Studierenden
abgefragt würde. Ich vermute so eine Findigkeit von kreativ sein wollenden
Schulfüchsen dahinter. Sie glauben, einen besonders witzigen, unterhaltsamen
Begriff kreiert zu haben, um die dem gebräuchlichen Literaturunterricht
manchmal anhaftende Langweiligkeit zu nehmen. Ich habe diesen
Begriffs-Kreator vor Augen. Ich mache mir ein Bild von dieser Person.
Vielleicht ist es sogar ein angesehener Germanist, vielleicht ein Mitglied
einer Lehrplan-Kommission. Auf didaktischen Fachtagungen höre ich die
Schulfüchse schon jenes unsägliche Wort zu einer Tatsache, die es nicht ist,
breittreten und einzementieren.
Es
stimmt hinten und vorne nicht. Es passt nicht für Goethe & Co., zwar ist
Goethe auf den Brocken gestiegen, Petrarca auf den Mont Ventoux, mancher
schreibt auch Unter dem Vulkan, einer sprang sogar in den
Vulkan (Empedokles, und sprang doch nicht), doch das reicht noch nicht, um
die Höhenkämme – und sei es nur metaphorisch – für die E-Literatur
herabzubemühen. – Und wäre "Höhenkammliteratur" das oben Definierte, dann
tut man Ludwig Hohl damit schweres Unrecht, ihn (wer weiß, vielleicht weil
er arm war!) aus dem illustren Kreis der heiter-ernsten großen
Geister auszuschließen, ihn dessen nicht für würdig zu erachten. Hohl hatte
die Klassik eminent viel bedeutet – Goethe war ein ständiger Bezugspunkt für
ihn. Hohl hat selber Sätze von klassischer Prägnanz geschrieben, seine
Notizen sind von weltliterarischem Rang; sie sind die kompromissloseste
Gedankenprosa in der schweizerischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Bereits
in seiner Jugend verstand sich Hohl "als letzten Stützpfeiler eines
stürzenden Baus, als die letzte Treppenstufe im Abstieg von der Höhe der
großen Kulturepoche der Zeit Goethes und Beethovens". Also unbedingt, wenn
schon, in Dreiteufelsnamen "Höhenkammliteratur", so wäre die Hohlsche
Literatur dann in dieser – allerdings (ich insistiere darauf) idiotisch
bleibenden – Rubrik in allererster Reihe aufzuführen. Das bleibt im
Einzelnen noch aufzuzeigen.
Nun kommt es aber noch
lustig. Wikipedia führt auch den Gegensatz zu jener "Höhenkammliteratur" auf
– und selten hat mir etwas so großen Spaß gemacht wie dieses. Es heißt
nämlich, der Begriff "Höhenkammliteratur" (noch einmal: was für ein
schludriger Begriff, im wissenschaftlich anspruchsvollen, überhaupt in
jedwedem anspruchsvollen Sinn – ich werde nicht müde, das zu betonen – ganz
unmöglicher Begriff – Begriffe sind etwas ganz anderes: Instrumente,
etwas wirklich zu begreifen! ... "Höhenkammliteratur" ginge
allenfalls als schlampige Metapher gerade noch durch, im allerseichtesten
"Literarischen Quartett"), also Wikipedia schreibt – nun kommt es –: "Der
Begriff wird als Gegensatz zur Trivialliteratur (Schemaliteratur)
verwendet." Jetzt bin ich aber tatsächlich begeistert – und meine es nicht
einmal ironisch. Die Trivialliteratur als eine "Schemaliteratur" zu
bezeichnen, ist grenzgenial. Was langweilig einem Schema folgt, was nur im
Rahmen des Klischees sich bewegt – nicht sich bewegt, sondern erstarrt ist,
immer schon erstarrt war, was nur nachwatschelt wie im Experiment des
Erforschers tierischen Verhaltens das Entenküken einer Mutter-Attrappe aus
Holz auf Rädern oder schwimmend einem wurmstichigen Schiffchen folgt, das es
für seine Mutter hält –, verdient zurecht als trivial bezeichnet zu werden.
Die Versklavung an ein Schema – am schlimmsten die unbewusste Versklavung,
mit der bewussten beginnt ja die Innewerdung dessen, die Möglichkeit
des Transzendierens – ist nachgerade das Kriterium für Trivialität,
wie am besten die Vertreter der experimentellen Literatur, sofern solche
unter uns weilen, wissen. Und nicht selten sind gerade auch Klassiker nicht
immer frei davon gewesen, sich des Schemas zu bedienen, geprägter Form, die
nicht mehr oder nur mehr kümmerlich sich entwickelt. Wenn aus einstigen
Revolutionären Konservative werden, "Dichterfürsten", "Fürstenknechte". Wir
kommen also doch noch auf unsere Rechnung, Wikipedia sei es gedankt.
Endlich
zu Hohl zurück! Voll in Hohl hinein!
Es kann irgendwo, mit
irgendetwas begonnen werden – es gibt viele Zutritte zu diesem Werk. Man
kann es – ich meine nicht nur das mit Die Notizen betitelte Hauptwerk
– irgendwo aufschlagen, immer wieder anderswo, das ist das Schöne an diesem
Werk und sich festlesen, plötzlich innehalten.
"Nur der ist stark, der
sagen kann: Ich gehe nicht in den Himmel; sondern wo ich hingehe, da
wird der Himmel sein."(6)
Hier scheint nicht ein
Schriftsteller des 20. Jahrhunderts zu sprechen, sondern ein Imperator, der
ein Füllhorn ausschütten will, hier wird ein Prospekt eröffnet, wo einer
geradezu sagt: Wo ich bin, ist das Glück. Hier hat einer den Eispickel
hineingeschlagen in eine doch meistens so widrige, deprimable,
durchschnittlich graue Welt. Was an Hohl so überrascht, ist sein
einzigartiger Optimismus, darin ist er im 20. Jahrhundert nur Ernst
Bloch verwandt. Dabei gab es in Hohls Biographie fürchterliche Momente,
nein, lange Monate und Jahre, wenn nicht Jahrzehnte äußerster Verlassenheit,
zudem war die materielle Not ein lebenslanger, an seinen Kräften nagender
Begleiter.
Immer wieder findet Hohl
neue Betrachtungen über das Arbeiten. Es sollte nicht unerwähnt
bleiben, dass Hohl einem Pfarrershaus entstammt: einem
reformiert-protestantischen. Der Soziologe Max Weber hatte in seinem
religionssoziologischen Werk Die protestantische Ethik und der Geist des
Kapitalismus dargetan, wie sehr der calvinistische
Werkgerechtigkeitsbegriff zur Herausbildung des modernen Industrialismus
beigetragen hatte. Das Verhältnis von Werken und Gnade ist eines der
wichtigsten Theologumena protestantischer Theologie: die Antwort Luthers
fiel bekanntlich anders aus als die Calvins. Der erfolgreich Schaffende
schafft sich auch Schätze im Himmelreich, so ist die reformierte Ansicht.
Der Reiche ist Gottes Lieblingskind. Und alles ist gemeinerweise auch noch
prädeterminiert, prädestiniert. Gott hat es schon vor der Schöpfung
so gewollt.
Ludwig
Hohl glaubt diese Dinge jedoch nicht – oder sollten wir nicht besser sagen:
diese Undinge? Doch Spuren seiner Herkunft finden sich allemal – am
unverwischtesten in seinen frühesten Texten, im erst posthum herausgegebenen
Jugendtagebuch oder in seinen ebenfalls posthum herausgegebenen
Aufzeichnungen Aus der Tiefsee. Paris 1926. Später verschleift sich
das. Es wird fast ein unbewusster Unterstrom, in säkularisierter Gestalt.
Das Theologumenon – ob Werkgerechtigkeit oder Gnade, Anstrengung aus eigener
Kraft, ja Selbsterlösung oder Geschenk, Erfüllt- und Durchpulstwerden,
Durchgearbeitetwerden von Gott – ist einem Theologiekundigen sogleich
erkennbar. Es bedarf hiezu keiner großen hermeneutischen Aufdeckungsarbeit,
es liegt auf der Hand. Obendrein ist die Rigidität, mit der Hohl sich zum
Arbeiten, das ihm meist schwer fiel, zwang, sowie das Rechenschaftablegen in
Gestalt von nicht selten tagebuchartigen Notizen, ja das permanente
Rechenschaftablegen über sein Leben, diese Sorge um sich selbst, um sein
Seelenheil (salus animae), diese Selbstbekümmerung ein Beispiel für
Gewissenserforschung, die jedoch nicht spezifisch christlich ist, sondern
die auch die Pythagoreer beispielsweise schon kannten. Doch geschieht bei
Hohl solches auch der angestrebten größtmöglichen Selbstverwirklichung
wegen. Er will ganz einfach das für ihn sinnvollste Leben führen. Nichts
Geringeres. Mit Geringerem gibt sich dieser Mensch nicht zufrieden.
Zur Veranschaulichung des
Gesagten, betreffend jenes unterschwellig fortwirkenden Theologumenons von
Werkgerechtigkeit und/oder Gnade, sei folgender Eintrag aus Nuancen und
Details zitiert:
"BEIM ARBEITEN. Es
kommt auf die große Orgel an – darauf, ob ihr Klang uns trage – ob sie
da ist überhaupt. Große Orgel, ja. Oder Wald – die Grünheit der Zweige
und Blätter, das plastisch im Morgen Stehende: an so einen Wald auch
denke ich, wenn ich an die große Orgel denke.
Denke? Ich denke nicht
ihn, den Wald, und kaum an ihn: es fällt mir nur ein Einzelnes
davon ein; und die große Orgel spielt eine Melodie, die ich nicht als
Ganzes kann hören: kaum höre ich überhaupt ihre Klänge; es kommt
nur darauf an, ob ihr Klang uns trage. Es ist vom sie Denken
momentlang die Ahnung gewesen; eine Ahnung von Linien, so wie Rilke
einmal redet: '…Konturen dämmern.'"(7)
Dämmernde
Konturen, "hereinbrechende Ränder", denen man zuarbeitet. Das scheint
mir das Essenzielle von Hohls Bemühung zu sein: arbeiten, dass das Opus
gelinge, das "Opus philosophorum". Dann brechen die Ränder herein, dann
dämmern Konturen, dann ereignet sich das Weichbild der Gnade. "Wir wachsen
in die Dinge hinein. Was ist Arbeiten? Ein bewusstes, ein willkürliches
Fördern dieses Hineinwachsens."(8)
"Unsere Arbeit
fordert gleichzeitig die Leichtigkeit der Liebe und den harten Druck des
Taglöhners oder des Bergbauern."(9)
Durch Arbeit jene
Höhenregion zu erreichen, jenes Schwebende, wo alles wie von selber geht –
das dürfte Hohls größte Lust gewesen sein, die Frucht der Bemühung. Jedoch:
"Es darf nichts, was du tust, Vorbereitung sein."(10) – Bei diesem
methodologisch ganz zentralen Satz Ludwig Hohls aus den Notizen – sie
sind eigentlich an den jungen Künstler gerichtet, der "zu arbeiten
begonnen"(11) hat, "nicht mehr im Rausche lebend"(12) – muss ich an ein
anderes Diktum denken, nämlich das von Addison: "The whole man must move at
once." Nur so wird das Willensfreiheitsdilemma durchschlagen: durch Mut,
den Hohl für das Höchste hält. Durch die "Aktion", würde der französische
Philosoph Maurice Blondel sagen. Indem man es ganz einfach tut – doch dieses
Einfache ist das Schwierige, ist die Kunst. Hohl ist insbesondere der
bestens geeignete Schriftsteller für junge Künstler. Ich kann mir einen
Bildhauer denken, dessen Handexemplar der Hohlschen Notizen von
Steinstaub ganz eingedeckt ist… Es ist ein Logbuch, für zwischendurch. Ein
Vademecum, ein Lebensbegleiter – für zwischendurch, zur
Selbstvergewisserung. Ein junger Mann(13) hatte Die Notizen sogar
auswendig gelernt –, er wäre in dieser Reihe Dichter über Dichter der
wohl geeignetste Referent gewesen. Doch wohl kaum ein Buch der Weltliteratur
eignet sich so wenig zum Auswendiglernen wie die Hohlschen Notizen –
das ist meine Überzeugung, je länger ich in diesem Buch von Zeit zu Zeit
Einkehr halte. Dieses Grundbuch, dieser bewährte Freund zwischen zwei
Buchdeckeln, hilft paradoxerweise – gegen seine Lehre, nicht vorzubereiten,
endlich mit dem Vorbereiten, endlich mit den ansparenden
Vorbereitungen aufzuhören – große Werke in der Welt und für die Welt,
die erst noch entstehen werden, vorzubereiten. Es wird deshalb
vielleicht noch einmal eine nicht nur literaturgeschichtliche, sondern sogar
weltgeschichtliche Bedeutung bekommen. Es kann zu Taten, zu Taten,
die aber verantwortet werden können, beflügeln. Es hat eine "rettende"
Potenz.
"Ob der Wille, zu retten,
so groß sei, dass er genügt, das ist die Frage", heißt es in Nuancen und
Details.(14) Das verwundert. Ein Schriftsteller, der „retten" möchte –
und manche behaupten, von ihm gerettet worden zu sein. Ist es aber Aufgabe
des Künstlers, zu retten – egal, was? Kann das die Aufgabe des Künstlers
sein? Ist das nicht vielmehr die Aufgabe des Seelsorgers, des
Psychotherapeuten, des Psychagogen? Diese rettende Emphase ist manchen von
Hohls Lesern zu aufdringlich.
Hohl
selber war der Rettung bedürftig. Die Zeichnungen, die Hanny Fries, eine der
fünf Ehefrauen des Einsiedlers, von Hohl gemacht hat, sprechen eine nur zu
deutliche Sprache. "Der schlafende Hohl" – eines ihrer Lieblingsmotive. Sie
zeigen einen Mann, der sich in seine eigenen Arme bettet, der sich selbst
aus seinen Armen ein Nest baut, um sich so zu bergen.(15) Am anderen Ende
des Bettes eine Katze – Hohl liebte Katzen, sie waren mehr noch als die
Frauen seine Lebensbegleiter, doch ein Frauenmensch war er –, die
ihren Kopf dem so verzweifelt Schlafenden zuwendet, ob der wohl wieder werde
… Doch auch wieder andere Bilder zeigen einen lässigen Hohl, der seine Beine
in provisorischer, glücklicher Erschöpftheit von sich geworfen hat, der
schlafend am Rücken liegt und sogar aus dem Schlaf heraus, gerade aus
dem Schlaf heraus jeder Gewalt trotzen zu können scheint. Oder der sich mit
lässiger Geste vor dem Spiegel rasiert, einen nackten Muskelmann, der seine
Hantel hochstemmt.(16) Das Bergende des Gebirges – man ist versucht, sich
zur Abwechslung einmal im Heideggerischen zu üben.
Selbstverständlich, von
einem solchen Mann nicht anders zu erwarten, ist ihm die Homoerotik nicht
Gegenstand der Abwehr. "Hohl betont nachdrücklich, dass er nicht homosexuell
ist, obwohl er im Herbst 1929 eine solche Erfahrung macht, die für ihn vor
allem einen geistigen Höhenflug darstellt. Er bezieht sich auf eine
Tradition 'von ältesten Griechen und Sokrates bis Michelangelo und
Nietzsche'."(17) Schon 60 Jahre vor Joachim Köhler, der
das Enthüllungsbuch Zarathustras Geheimnis schrieb, war Ludwig Hohl
die homosexuelle Grundtextur von Nietzsches Leben und Werk aufgegangen. Dass
er daraus aber kein Problem machte, gehört zu Hohls ziviler
Modernität, zu seiner ironischen Diskretion. Die entscheidenden
Fragen sind immer schon darüber hinaus gewesen. Oder doch nicht? Müssen wir
heute anders darüber denken?
Das
andere Ufer ist gleichwohl ein Thema – nicht das andere Ufer, das Sie jetzt
meinen. Hohl liebte neben dem Bergsteigen das Schwimmen. Noch in
fortgeschrittenem Alter durchschwamm er, zeitlebens Kettenraucher und
bisweilen berüchtigter Alkoholiker (unter Eingeweihten in der Schweiz
schrieb man mitunter wegen Ludwig Hohl "Alkohohl"…), den Genfer See.
"Wenn man über den See
schwimmt, allein, ist das Schwierigste, jedenfalls das Mühsamste, die
Monotonie zu ertragen, die dadurch entsteht, daß man lange Zeit nicht im
geringsten sieht, ob man vorwärts kommt; das Wasser ist überall dermaßen
gleich (höchstens etwa ein Kork, ein Stück schwimmender Algen oder eine
Blase spenden manchmal ein wenig Trost). Das jenseitige Ufer scheint
nicht näher zu kommen, die dort fahrenden Autos, winzige Punkte, werden
nicht größer; die Dinge auf dem verlassenen Ufer dagegen, wenn man
einmal die ersten paar hundert Meter zurückgelegt hat, bleiben immer
unverändert: die dicke Hügelwelle mit Wiesen, Weinbergen, Schloß und
mächtigen Hainen. Besser wäre, nicht mehr hinzuschauen, wenn es nicht
nötig wäre, um die Richtung zu bestimmen, und sich ganz der einförmigen
Betätigung zu überlassen, im treuen Glauben, daß man dennoch vorwärts
komme; in einem Zustand, der sich dem Träumerischen nähert. Einmal aber,
doch wieder hinschauend und nicht nur meine Richtpunkte, sondern das
weitere Ufer ins Auge fassend: Wer grüßt mich? Wer steht auf einmal da,
weiß und hoch? Über die erste Hügelwelle und die folgenden Erhebungen
weit hervorgetreten; den man in Ufernähe und noch ein großes Stück in
den See hinaus nicht sehen kann; der Montblanc; schaut eine Weile schon
mir friedlich zu."(18)
Schwimmen, Bergsteigen,
Schreiben – "Alles ist Werk."(19) Das Ziel der Mühen ist Leichtigkeit, sie
ist nicht erzwingbar, doch man kann ihr zuarbeiten. Berechenbar ist nichts.
"Mysterium der Arbeit: Alles nach und nach zu erreichen, was gar nicht
berechenbar war."(20) Die Freunde des Planens werden von Hohls
Produktionslehre enttäuscht sein. Hohl schwimmt auf die Ränder zu, diese
Ränder mögen hereinbrechen, ja er spricht gelegentlich sogar vom
"Elfenreich", das dann erscheine, das sich jedoch verflüchtige, wenn man es
festhalten, besitzen wolle. Hohl ist hart und weich zugleich.(21) Das
ist ein Arbeiten mit Blick auf die Gnade, die Begnadung der Leichtigkeit,
wenn alles nach anfänglichen Mühen wie von selber geht. So seien auch die
großen Werke der Geistesgeschichte entstanden, meint Hohl. Hölderlin wird
zitiert: "Wie auf… Wassertiefe der leichte/Schwimmer wandelt, so sind auch
wir."(22)
Doch
darf man sich diese Gnade – es ist jedoch eine atheistische Gnade, wie
überhaupt Hohl stets am Boden dieser Welt bleibt (auch das
Elfenreich wird nicht auf esoterische Weise geglaubt, sondern ist
ein metaphorischer Symbolismus für Zustände gesteigerter Sensitivität) – als
nicht zu harmonisch vorstellen. Nicht Harmonie ist das Ziel; wird sie
erreicht, dann nur vorübergehend. Hohl will, wie er sagt, "nie ins
Konventionelle, Blasse, ins Tröstliche und Gefühlvolle geraten (…). Ich will
nie das Runde, sondern die Geister schärfen, zu ihrer Stärke, ihrer eigenen
Handlung führen; auf verschiedenerlei Arten."(23)
"Non multa!" – nicht
vielerlei, nicht alles und gar nichts, nicht alles auf einmal. Das war nicht
nur der Wahlspruch Schopenhauers, sondern auch Ludwig Hohls. In seinem
Nachlass finden sich seine zerlesenen Bücher, z.B. die für ihn so wichtige
Ethik Spinozas; Hohl hat nicht einer Lesegefräßigkeit, dem Unmaß
nachgegeben, sondern eher nur weniges, dafür dieses dann gründlich und immer
wieder gelesen. Immer wieder Einkehr bei den von ihm als Große, als
Entscheidende, Maßgebliche Erkannten gehalten. Goethe vor allem – doch nicht
alles von Goethe, beim Wilhelm Meister langweilte sich Hohl –,
Spinoza, Paul Valéry, André Gide, Hölderlin, Karl Kraus, Proust,
Lichtenberg, Montaigne (bewusst zähle ich sie nicht chronologisch – und
keineswegs vollzählig – auf, denn diese Dichter-Denker bleiben für immer
zeitgemäß, Zeitgenossen, im Reich der Geister "reichsunmittelbar"). Niemals
ist eine solche Lektüre abschließbar. Stets können wir beim Wiederlesen
Neues entdecken. Unvermutetes. Etwas, das ganz quer dann zu unseren
Annahmen, Voreingenommenheiten steht. Autoren von Substanz bedürfen einer
beständigen Wartung. Nicht nur sie lesend und wiederlesend zu warten
wie eine edle, aber rostanfällige Maschine – der Rost unseres auf der Lauer
liegenden Vergessens, dieser Erosion unseres Gedächtnisses, wenn aus unserem
einstigen Eros Erosion wird, der Schimmel und Staub, der sich auf die Dinge
legt. Nicht nur sie warten, sondern überhaupt warten. Die große
Geduld – neben dem, was Hohl den "Löwenmut"(24) nannte, die Haupttugend.
Geduldige und genaue, doch gleichfalls lässige und genießende Leser sollten
wir auch bezüglich Hohls sein. Wiederkäuer, Ruminierer. Es kann nicht
angehen, ein Leben, das in jahrzehntelanger Meditation und Reflexion
zugebracht wurde, nunmehr mit einem einzigen Schwammstreich aufzusaugen und
auszuwringen – und dann auch noch zu behaupten, dies wäre die Essenz von
Hohls Leben und Werk. Es gibt kein Damit-zu-Ende-Kommen, sondern nur ein
Beginnen und Wiederbeginnen, (mit Samuel Beckett zu sprechen: ein Scheitern
und besser Scheitern). Nicht der Imperialismus eines anmaßenden
Geistes, der die Dinge bezwingt und auf den letztgültigen, allgemeingültig
sein wollenden Begriff bringt, und der doch koboldisch umtanzt bleibt nicht
von Elfen, sondern Irrlichtern, "Furien des Verschwindens", der aufläuft an
den "Sandbänken des Vergessens", hineinstürzt am Ende in den "Schacht der
Erinnerung" (lauter Hegelsche Metaphern jetzt), in Demenz und Insolvenz. Die
Lebendigkeit des Geistes lässt sich nicht nur an bewältigten Quantitäten
messen. Sondern auch: an zustande gebrachten Lebensbalancen, Equilibrien, an
Provisorien, Pionierstegen, Auslegerkanus wie bei den Austronesiern, an
unseren wie auch immer fragilen Nussschalen, mit denen wir auf den Ozeanen –
durch Kälte- wie Wärmeströme – navigieren (navigare et vivere necesse
est!), am Sternenhimmel uns orientierend und doch manchmal glückselige
Inseln wie durch ein Wunder punktgenau erreichend. Die anderen Ufer
erreichend, deren Steilküsten – dann beginnt erst recht die Arbeit.
Ludwig
Hohl – das Heilmittel gegen Verzweiflung. Das ist ein Hauptpunkt. Hohl
resümiert: "Die Notizen sind geschrieben worden in den drei Jahren
1934 bis 1936, während deren ich in Holland in größter geistiger Einöde
lebte."(25) Von dieser Einöde, dieser Monotonie, dieser Verlassenheit sich
ein Bild zu machen, ist überaus schwer. Hohl, ohne Schulabschluss, ohne
Studium außer dem Selbststudium, stand sozial buchstäblich vor dem Nichts.
Er musste in sich selber schürfen und fündig werden, ansonsten hätte er sich
aufgeben müssen. Keine Schutzgeister, keine helfenden Hände. In Holland
keine Berge, sich zu bergen. Kühe und Tulpen.
Und jetzt kommt das Große,
geht ihm der Knopf auf, bricht die Blüte aus der Knospe, gegen die Kahlheit
und Stummheit der Wände des Exils – bei einer werdenden Opern-Diva hätte man
gesagt (mit Wayne Koestenbaum): Die Kehle ist ihr aufgegangen. (Auch an
Luthers poetologisch viel zu wenig beachteten Intuition von der
weltenbewegenden Wirksamkeit des Wortes möge am Rande erinnert sein –
das protestantische Element in Hohls Biographie wurde schon angesprochen.)
Statt zu verzweifeln, statt zu resignieren, statt sich unterzuducken, sich
umzubringen oder als "verlorener Sohn" reuig zu den vor lauter
Selbstgerechtigkeit verständnislosen Eltern, diesen Pfarrersleuten, die sich
ganz pharisäerhaft des "missratenen Sohnes" schämten (ohne den von ihnen
heute zurecht nicht mehr die Rede wäre!) heimzukehren, geht ihm die Sprache
auf. In ihrer Macht. In ihrer Souveränität. Ihr Magma.
"Der Vorgang war fast
immer so: Durch das Fest, die Überschwenglichkeit von Nacht und Abend
wurde eine große Strahlung aufgerührt. Am Morgen kam die grausige
Dusche, kam der gelbe, lethargisierende, tötende Nebel (nichts als
beängstigendes Klagen, Schimpfen, Drohen; alle Abgründe aufreißend,
vollständige Kluft mit der Welt zeigend), in die grimmigste Wüste, die
schmerzlichste Öde hinaus verstoßend. In diesem Stadium des Schmerzes,
und zwar maximalen Schmerzes, Schmerzes ohne irgendeine Beimischung, kam
es mich auf einmal, geschehend wie ein Vulkanausbruch, wieder an: das
Strahlende, nun eben getötete Untergegangene, elend Abgewürgte des
Abends: was soll geschehen? wohin mich wenden? Und so entstand der Mut
zu den Sätzen, in die Einsamkeit hinein; in die Einsamkeit, weil ich die
Sätze notgedrungen – damit sie durchhielten, hinübertrügen – hart wie
Stein machte. Die Wiederkehr des Strahlenden zu erzwingen, Wiederkehr
gegenüber einer absolut abweisenden Welt ringsum, einer Welt wie lauter
Mauern, wie nur Wüste, war wie ein Sprung ins Ungeheure; der es
tat, mußte zum Letzten entschlossen sein (dem Stadium des entschlossenen
Selbstmörders nicht unähnlich)."(26)
Jetzt
erst möchte ich einige biographische Daten einflechten. Sie nachreichen, in
ihrer ganzen lexikalischen Dürre: Ludwig Hohl wurde am 9.4.1904 in Netstal
(im schweizerischen Kanton Glarus) – wie wir schon hörten – als Sohn einer
protestantischen Pfarrersfamilie geboren. Seine Schulzeit verbrachte er im
Kanton Thurgau. Er besuchte ein Gymnasium in Frauenfeld, wurde aber der
Schule verwiesen, weil er angeblich einen schlechten Einfluss – er war ein
junger Subversant und Aufrührer, Bandenbildner – auf seine Mitschüler
ausübte. Hohl blieb ohne Berufsausbildung, lebte in lebenslang bedrückenden
materiellen Verhältnissen. Er war ein "masterless man", war sein eigener
Meister, wurde nicht bemeistert, war Autodidakt. Von 1924 bis 1937 hielt er
sich, statt den Schulabschluss nachzuholen und zu studieren oder sich eine
sogenannte reguläre Arbeit zu suchen, im Ausland auf: Sieben Jahre verbringt
er in Frankreich, hauptsächlich in Paris – er plant einen Roman zu
schreiben, aber er wird nie einen Roman schreiben, ein Roman ist für ihn nur
ein anachronistischer Umweg(27) –, danach ist er 1930/31 einige Monate in
Österreich, übersiedelt schließlich in die Niederlande. Von 1931 bis 1937
hält er sich in Den Haag auf, wo der Grundstock des Notizen-Werks gelegt
wurde. 1937 kehrt er in die Schweiz zurück, kurzfristig lebt er in Biel,
dann lässt er sich endgültig als freier Schriftsteller in Genf nieder, wo er
von 1954 bis 1975 in einer Kellerwohnung leben wird. Seine Produktivität
erfolgt in Schüben, ist nicht kontinuierlich. Man könnte sagen, er habe sein
Jugendwerk über Jahrzehnte sortiert und gesichtet, es zu veröffentlichen
gesucht, seine Jahre sind darüber vergangen. Der Durchbruch gelingt erst
sehr spät.
Hohl ist aber kein
Privatgelehrter, der für sich selber hauptsächlich geschrieben hätte. Er
versteht sich schon von Anfang an als Dichter. Er versuchte sich zuerst mit
Gedichten, veröffentlichte einzelne davon ab 1923 in schweizerischen
Zeitungen, publizierte mehrmals im Selbstverlag. Danach verlegte er sich
vornehmlich auf Kurzprosa. Doch wer wäre scharf darauf, ein in einem
Kleinstverlag erschienenes, armseliges Büchlein zu kaufen, das den Titel
Drei alte Weiber in einem Bergdorf trägt?
Das
erzählerische Werk Ludwig Hohls ist insgesamt recht schmal, doch es zeigt
seine enorme Begabung auch auf diesem Gebiet. Es sind nur ein paar
Probestücke – an denen Hohl übrigens jahrelang feilte –, die jedoch unter
Beweis stellen, dass er, auf Augenhöhe mit Kafka, erzählen konnte.
Bergfahrt heißt seine bekannteste und geschlossenste Erzählung.(28) Es
sind leider nur ein paar von ihm erbrachte Meisterstücke von großer
Eindrücklichkeit, von beklemmender Realistik, abgründigem Symbolismus.
Zeugnisse der materiellen wie der Seelennot, der Bewährung in
Extremsituationen. Es spiegelt sich darin die reale Notsituation unseres
Autors wider – so heißt es in einer Skizze mit dem Titel Und eine neue
Erde – über einen Maler Andreas W.: "Und so hatte er an den Grenzen der
Nacht sich sein Haus eingerichtet, zuäußerst, an der Kante, wo die Welt
plötzlich abbricht, um ins Nichts zu versinken. Sie gewährte ihm keinen
andern Platz. Der Sprung in die Nacht, ja, diese Möglichkeit wäre ihm
geblieben, aber er sagte: 'Wir dürfen nicht', und hat sich dort sein Haus
eingerichtet."(29)
Hohls Hauptschaffenszeit
setzte ein mit dem Beginn der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. In den
holländischen Jahren ist der Hauptteil des Notizen-Werks entstanden, der
Autor, in äußerster Abgeschlossenheit, begann mit der Niederschrift seiner
Soliloquien. Doch ist er dabei stets ein präziser Beobachter der Außenwelt.
Äußerlich auf Tauchstation, verkapselt wie kein Zweiter, arbeiten die
Eindrücke dieser Außenwelt an und in ihm. Er laboriert an dieser Außenwelt.
Doch auch die Innenwelt, vor allem über den Traum, beliefert ihn mit einem
schier unerschöpflichen Stoff. Man hat als Leser nicht den Eindruck, dass er
in seinem eigenen Safte schmort und sich in eine Falle gesetzt hat, die über
ihm zugeklappt ist. Freilich vermisst er – sowohl in den Pariser Jahren als
auch im flachen Holland – seine Schweizerberge.
In
Paris – damals war er ja noch ein sehr junger Mann – marschiert er nächtens
um die Grenzlinien der Arrondissements, und zwar sämtlicher zwanzig. Eine
eigene, eventuell provinzielle Methode, eine Weltstadt zu erkunden. Die
Welt, die Halbwelt auch fällt über ihn herein, doch er macht es so "wie die
schrägen Regen tun" (um Majakowski zu zitieren), er übt sich in
distanzierter Selbstbewahrung. Andere in seiner Lage wären zugrunde gegangen
oder hätten aufgegeben, sind zugrunde gegangen und haben
aufgegeben. Nicht so der disziplinierte Arbeiter Ludwig Hohl. Alles Erlebte
wird ihm zum Stoff der Gestaltung, Durchgestaltung, selbst das scheinbar
Unbedeutendste – gerade diesem widmet er sein Augenmerk. Seine damaligen
Lieblingslokale in Paris sind auch Treffpunkte der internationalen
Künstlerszene. Doch das Mondäne scheint Hohl nicht zu interessieren, er ist
kein Adabei und biedert sich nicht bei den Berühmtheiten an, wird nicht ihr
Adlatus. Er ist keine Eckermann-Natur. Auch unternimmt er nichts, durch
Knüpfen eines Beziehungsnetzes seine prekäre soziale Lage – heute würde man
es nennen: sein "Prekariat" – zu verbessern. Er muss sogar manchmal seine
Kleidungsstücke veräußern. Mit seiner damaligen Lebensgefährtin, die
tatsächlich im Familiennamen Luder heißt (Hohls Mutter hingegen ist
eine geborene Zweifel), macht er sich auf stundenlange Wege zu
Trödelläden, den Koffer mit alten Klamotten schleppend. Solche Erfahrungen
hält er mit unverwechselbarem Sozialrealismus, das Groteske nicht scheuenden
Verismus fest. Ulrich Stadler meint: "Er muß einem Großteil der
französisch und englisch (bzw. amerikanisch) sprechenden Prominenz in der
europäischen Kunst- und Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts begegnet
sein. Aber er erwähnt keinen. Auch die Namen der schon mehr oder weniger
berühmten deutschsprachigen Schriftsteller wie Walter Hasenclever, Joseph
Roth, Franz Hessel und Walter Benjamin werden nicht genannt."(30)
Hohl war 1926 geradezu
Stammgast der Rotonde, dort hatten Leute wie Trotzki und Modigliani
verkehrt, und zur gleichen Zeit wie Hohl waren hier häufig Picasso, Alberto
und Diego Giacometti sowie die Surrealisten zu Gast. Der damals erst knapp
22 Jahre alte Hohl erwähnt diese Prominenten mit keinem Wort. Sie scheinen
für ihn nicht zu existieren. Er, der ein so feines Sensorium für alle
Vorgänge um ihn herum besitzt, eine Späher-Begabung, die sich selbst
unsichtbar zu machen versteht, will nicht von fremden Häuptern das eine oder
andere Lorbeerblatt herunterzupfen, um sein armseliges Süppchen damit zu
würzen. Besser diese Suppe der Widrigkeiten und Epiphanien des Alltags dann
beschreiben! (31)
Einen
Roman vermochte Ludwig Hohl aus seinen Pariser Aufzeichnungen aus jenem Jahr
am Rande der Zeit, 1926, zwar nicht zu formen, doch so erfahren wie "mehr
über das nächtliche Paris der zwanziger Jahre und mehr über den jungen Hohl,
als dies der Fall wäre, wenn es dem Autor gelungen wäre, subjektive
Ansprüche und objektive Gegebenheiten in ein konventionelles, mehr oder
weniger gefälliges Arrangement zu pressen."(32) Das wäre eben dann –
"Schemaliteratur" geworden.
Müßig, diese
Blickfeldeinschränkung zu beklagen. Hohl wird sich später – auch infolge
zunehmender Not – immer mehr einkellern. Mit den holländischen Jahren
setzt dieser konzentrative Prozess ein und wird jenes Notizen-Werk zeitigen,
für das Hohl schließlich berühmt geworden ist – und bleibend. Die
Vorgeschichte – um mit Joseph Conrad zu sprechen: "the long foreground" –
sollte kenntlich oder wenigstens ahnbar geworden sein.
"Hohl hat seine zwischen
1934 und 1936 geschriebenen Notizen fast lebenslang immer wieder
'umgebaut', korrigiert, kommentiert, eliminiert, ergänzt. Insgesamt bildeten
sie für ihn so etwas wie ein grandioses Gerüst zu einem noch grandioseren
Werk, das freilich immer imaginär bleiben musste, weil schon der Gerüstbau
ihn alle Kraft kostete. Was von Valéry gesagt wurde, er sei der größte
Schriftsteller ohne Werk, ließe sich erst recht von Ludwig Hohl sagen, der
dieses Dilemma aber klug kompensierte, indem er den herkömmlichen
Werkbegriff kurzerhand aufkündigte und schlechterdings alles zum Werk
erklärte: ‚Alles: ob ich eine Stelle eines Schriftstellers unterstreiche
oder herausschreibe, einen Brief sende, etwas notiere, etwas denke, eine
Stellung nehme … alles ist Werk’."(33)
In
einer lustigen Stunde äußerte er folgendes zum literarischen
Gattungsproblem:
"Ob man das, was ich
schreibe, Prosa, Lyrik, Epik oder Philosophie nenne, ist mir ganz
gleich. Du kannst es meinetwegen nennen Isabella oder Victoria; wenn du
nur etwas davon verstehst."(34)
Also ich will es mal zur
Abwechslung beherzigen, aus einer von Hohl inspirierten Laune heraus, und
Isabella oder Victoria nennen. Wie ist Isabella oder Victoria konfiguriert?
Sie sollte doch ein schönes Mädchen sein oder zu einer bewundernswürdigen
Dame heranwachsen, oder?
Der von Hohl überaus
geschätzte Vorsokratiker Heraklit von Ephesos hatte ja gesagt: "Ein Haufen
aufs Geratewohl hingeschütteter Dinge ist die schönste Ordnung." Gerade das
aber hätten Hohls Notizen am wenigsten sein wollen.
"(…) das Werk – was
immer es sei – kann nicht richtig erfaßt werden, bevor man seine
Einheitlichkeit erfaßt hat. Es ist nicht eine Sammlung von
Aphorismen."(35)
Berühmt
sind die Fotografien, die Ludwig Hohl in seiner Höhle zeigen, mit den vielen
Zetteln, die er – er ist ein ordentlicher Mensch gewesen, nicht nur
Frühaufsteher, sondern sogar ein ordentlicher Mensch! – zur besseren
Übersicht an Wäscheleinen mit Wäscheklammern befestigte. Doch ist Hohl nicht
unbedingt ein Mann der Waschküchen gewesen: "Lieber will ich denn doch
schmutzige Wäsche tragen, als viel von Wäsche reden" – auch Sätze solch eher
platter, handgreiflicher Art stehen manchmal in den Notizen.(36) Man
darf es sich dann doch wieder nicht zu erhaben vorstellen, das wäre
verkehrt.
Am Beispiel Ludwig Hohls
lässt sich zeigen, dass eigentlich gar nicht viel dazu gehört, zu einem
"Außenseiter" abgestempelt zu werden. Man braucht sich nur aus der
Gesellschaft zurückzuziehen, um mit diesem Stigma bedacht zu werden. Vor
allem, wenn man im finanziellen Sinn nicht vermögend ist. Trotzdem
etwas zu wollen und etwas Anspruchsvolles zu wollen und sich nicht von
außen, einem Arbeitsamt eine Tätigkeit vorschreiben zu lassen(37), gilt auch
heute noch und heute wieder als Skandalon. "Kannst du leben von deiner
Literatur?" – das ist auch heute eine oft, eine zu oft gestellte
Frage an Autoren. Ludwig Hohl konnte von seiner Literatur nicht leben, doch
heute beschäftigt er Verlage, Literaturwissenschaftler, Archivare,
Ausstellungsmacher, es gibt auch eine rührige Ludwig-Hohl-Stiftung
inzwischen. Der Autor selbst nagte am Hungertuch. Seine Eltern – die
reformierten Pfarrersleute – schämten sich zeitlebens ihres
missratenen, erfolglosen und daher gottunwohlgefälligen Sohnes und ließen
ihn das auch bei jedweder sich bietenden Gelegenheit wissen, was ihn sicher
schwer depravierte, diminuierte und deprimierte. Jeder anständige Mensch sei
in Lohn und Brot. Ludwig hingegen privatisierte. Wann würde das je
enden?(38)
Auch
bei Anhängern der sogenannten "Kritischen Theorie" oder auch bei Marxisten,
ebenso bei Freunden der Psychoanalyse, überhaupt bei allen, die das
Individuum vom Gesellschaftlichen her verstehen, statt umgekehrt das
Gesellschaftliche vom Individuum her, stößt dieses absonderliche
Lebensprojekt eines Außenseiters, eines "puer aeternus" auf wenig
Gegenliebe. Es muss ihnen als Verstiegenheit eines unreifen Charakters
erscheinen, der sich weder therapieren noch sozialisieren ließ. Bislang hat
der Name Ludwig Hohl noch nicht Eingang in die Geschichte der Philosophie
gefunden, obwohl er zur einen Hälfte dort hinein gehört. Hohl war
Autodidakt, er hatte sich selbst zum Lehrer. Er hatte nicht einmal einen
ordentlichen Schulabschluss, geschweige denn ein akademisches Studium
absolviert. Wer war er denn? Wie konnte er sich zu solchem vermessen?
Die Trivialisierung,
Banalisierung folgt solchem besserwisserischen Moralisieren auf dem Fuß.
Hohl habe es sich unnötig schwer gemacht, nicht alle Chancen, die sich ihm
boten, genützt, er habe sich der Sozialisierung entzogen, und sein Unglück
sei am Ende und zuallererst auch auf seine Sturheit, seine Eigenbrötlerei
zurückzuführen. Es sei diese forcierte Subjektivität, der sich Hohl
verschrieb, eine Form "falschen Bewusstseins". Oder eines antiquierten
Bewusstseins. Er hätte die kleinbürgerlichste der kleinbürgerlichen
Existenzen geführt. Elend und pathetisch gelebt. Um mit dem
Individualanarchisten Max Stirner zu reden: als "Kotsasse", als einer, der
in seinem eigenen Kot, in seinem Kellerloch sitzt und sich dort einbunkert,
dort Gedankengebilde thesaurierend. Ein verschwenderischer Sparmeister, ein
"fürchterlicher Arbeiter". Im Grunde sei das Scheinarbeit gewesen;
zwar ist der Begriff des Arbeitens bei Hohl ein zentraler – wenn nicht sogar
der zentrale –, aber dies sei keine gesellschaftliche Arbeit. Es sei
der zum Scheitern verurteilte Versuch, sich in Selbstbestimmung zu
behaupten, eine nur mehr ins Leere laufende Geste dieser Selbstbestimmung.
Deshalb auch die vielen Wiederholungen, Affirmationen in Hohls Werk. Abstieg
und Elend des Bürgertums, Verfallsform, Sackgasse. Ein Lehrstück dessen, wie
man es nicht macht. Wie man es nicht machen dürfe. Der Soziologe schließt
die Akten, der Fall Ludwig Hohl ist für ihn erledigt. Glasklar.
Doch
hören wir lieber, was Hohl über Das Engagement des Schriftstellers
schreibt:
"Darüber, daß der
Schriftsteller sozial engagiert ist, besteht für mich seit langem kein
Zweifel. Allein, daß er in einer Sprache sich äußert, ist ein
Beweis dafür. Denn ohne die andern – gleichviel in welcher Art, in
welchem Grade die andern da seien, ob sie nur gedacht seien z.B. – würde
die Sprache nicht existieren. Wenn ein Mensch ganz allein wäre, freilich
eine undenkbare Vorstellung und ein unmöglich durchzuführender Test –,
würde er allmählich, über kurz oder lang, aufhören zu schreiben,
aufhören zu sprechen, in sich selbst zu sprechen, 'zu sich selbst' zu
sprechen (das 'zu sich selbst' ist nur eine Fiktion), zu denken. Er
würde schließlich – wahrscheinlich über Stufen wie Wahnsinn und
Verblödung – aufhören, zu sein. Denn der soziale Trieb ist, neben dem
Ernährungstrieb, der mächtigste Trieb des Menschen. (…) Also
sind, aus einer gewissen Distanz gesehen, alle Werke, möge es sich um
Drama oder Epik, um Gedichte oder Philosophie (etc.) handeln, nichts als
Briefe an einen Freund (einen fernen vielleicht wohl, einen nur
vorgestellten; dennoch Briefe an einen Freund oder Freunde, – an die
Menschen). (Und das Gerede vom Elfenbeinturm wäre eine der größten
Sinnlosigkeiten, die je geredet wurden, wenn es das Gesamte des
Künstlers und nicht nur eine Einzelheit beträfe.)"(39)
Und Hohl verortet den
Schriftsteller, damit sich selbst – wenigstens im Jahre 1972 – auf der Seite
der politischen Linken:
"Daß alle
Schriftsteller heute unter den politisch mehr oder weniger links
Gerichteten zu finden sind, steht für mich außer Frage. Daß auf der
entgegengesetzten Seite, heute, noch Schriftsteller von einiger
Bedeutung existieren, – das kann ich mir nicht vorstellen."(40)
Doch dann kommt ein für
Hohl charakteristisches Selbstzitat: "Was wäre das für ein Sozialismus, wenn
man in den andern nur die andern, nicht sich selber sieht?"(41)
Das sind doch klare
Gedanken, die ein Licht auf die Hohlsche Klausur werfen. Der Hohl-Keller
wäre demnach, um mit unserem Einsiedler zu reden, nicht "das Gesamte des
Künstlers", sondern "nur eine Einzelheit", etwas durch die Umstände
Bedingtes, Akzidentielles, nicht Substantielles. Überdies bedarf das Bild
des Inklusen, des scheinbar Weltflüchtigen dringend einer Richtigstellung:
Hohl war, wie wir heute wissen, ein sehr der Geselligkeit bedürftiger, ja
ein eminent liebesbedürftiger Mensch. Das 2003 bei Nagel & Kimche
erschienene Buch von Werner Morlang Die verlässlichste meiner Freuden.
Hanny Fries und Ludwig Hohl zeigt uns einen äußerst kommunikativen,
überhaupt nicht menschenfernen oder menschenfeindlichen Hohl.(42) Keinen
eskapistischen Weltflüchtigen, sondern einen Bohemien. Er war – das dürfen
wir nicht außer Acht lassen – fünfmal verheiratet, mit dem Resultat einer
Tochter. Eher untypisch für einen Asketen.
Das
Historische Lexikon der Schweiz behauptet, dass Ludwig Hohl "der
Erfolg Zeit seines Lebens versagt" geblieben sei, obwohl doch auch zwei
Auszeichnungen darin vermerkt sind (1970 Schillerpreis, 1980
Petrarca-Preis).(43) Es darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden,
dass Hohl in seinen letzten Lebensjahren und posthum doch immerhin im
bedeutendsten deutschsprachigen Verlag publiziert wurde. Siegfried Unseld
besuchte Hohl in der Genfer Kellerwohnung und war von dem doch bei aller
äußerlichen Bescheidenheit so noblen, so überaus souveränen, charmanten,
charismatischen Höhlenmenschen sogleich angetan und erlöste ihn aus seiner
Verzauberung. Die Katastrophe mit dem Artemis-Verlag (10 Jahre hindurch
musste Hohl mit diesem Verlag prozessieren, der den Autor um die Publikation
des zweiten Bandes der Notizen geprellt hatte – Hohl gewann
schließlich den Prozess, aber wie kraftaufzehrend war dieses Prozessieren
für den notleidenden Hohl gewesen!), diese von Hohl so genannte "Katastrophe
mit Artemis" war dann doch im späten Neustart bei Suhrkamp – Hohl wurde zum
Hausautor: nahezu alles, was von Hohl sich veröffentlichen ließe, würde bei
Suhrkamp erscheinen (wie bei Thomas Bernhard, wie bei Hans Erich Nossack
oder Hermann Lenz, wie bei Hohls Landsmann Robert Walser) – zu einem stillen
Triumphzug geworden. Immerhin erschienen Die Notizen sogar an
prominentester und prononciertester Stelle – sozusagen am "Höhenkamm"
deutschsprachiger Nachkriegs-Literaturgeschichte, wie eine Krone (keine
Bettlerkrone mehr!) auf Samt gebettet – als Band 1000 der
Suhrkamp-Taschenbücher (jedoch kurz nach Hohls Tod, Hohl starb am 3.11.1980
und wurde am Genfer Prominentenfriedhof Plainpalais bestattet), was die
besondere Signifikanz dieses Werks als eines Schlüsselwerks unterstreicht.
Vielleicht ist es gestattet, den späten, so verdienten, ihm so zu gönnenden
Erfolg Hohls mit dem späten, dafür dann durchschlagenden Erfolg Arthur
Schopenhauers zu vergleichen. Lange Wirksamkeit im Stillen, private
Gelehrsamkeit, verbissene Dissidenz, ein Aushalten in der Isolation – im
Bewusstsein jedoch, Großes und Größtes für die Menschheit geleistet zu
haben.
Die großen Werke können
warten. Sie warten auch. Ihre Stunde kommt. Wenn es denn – und wäre es nur
metaphorisch – den "Weltgeist" gibt, dann wäre nicht verwunderlich, wenn
Ludwig Hohls Notizen sich inzwischen zuoberst im Marschgepäck dieses
Weltgeists befänden. Es ist ein Bordbuch, ein Skizzenbuch, es enthält eine
vollkommen transparente Methode, sich durch die Welt zu bewegen. Umso
erfreulicher, wenn Ludwig Hohl in den letzten Jahren seines gegen fast
übermenschliche Widerstände und Unbilden sich behauptenden Lebens der
Widerschein, der Vor-Schein jenes Glücks noch zuteil wurde, in der
Menschheit angekommen zu sein. Gibt es einen größeren, einen erhabeneren
Erfolg? – So möchte ich mit einem Zitat von Francesco Petrarca schließen,
das auch Schopenhauer hinsichtlich seines eigenen in Stürmen gereiften
Lebenswerkes gerne gebrauchte: "Si quis, toto die currens, pervenit ad
vesperam, satis est" ("Wenn jemand, der den ganzen Tag gelaufen, am Abend
ankommt, ist´s genug").
Guten Abend!
Anmerkungen
(43) Hohl
erhielt 1970 und 1976 den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung,
1978 den einmalig verliehenen Robert-Walser-Centenar-Preis und im
Todesjahr 1980 den Petrarca-Preis.
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