Jeder
Kontakt mit Matei Visniecs Texten gerät zum einzigartigen Erlebnis, das
nicht selten zu schockierten, verwunderten oder enthusiastischen Reaktionen
führt. Wenn man ein Theaterstück oder Gedicht von Matei Visniec liest, hat
man das Gefühl, ein anderes Universum zu betreten, das zugleich
fragmentarisch, poetisch,
überempfindlich
und verführerisch daherkommt und aufs Engste mit den Wundern und Schrecken
der Existenz verbunden ist.
Metaphern und
Allegorien
Ein erster
Bezugspunkt zu Matei Visniecs Theater lässt sich in den metaphorischen und allegorischen
Konstellationen seiner Stücke finden, zum Beispiel in Drei Nächte mit Madox, Der Souffleur
der Angst, Das Grab in der Decke, ... und was soll mit dem Cello geschehen?
oder Die Taschen voll Brot. Visniecs Welt wird nicht von Persönlichkeiten
bevölkert, sondern von vergänglichen Umrissen, menschlichen Marionetten,
bewussten Opfern, zahmen Tätern, lustigen und traurigen Clowns und Narren. Der Raum ist ein
no man’s land, ein Warteraum, ein Durchgang, wo nichts geschieht,
aber dieser Mangel an Ereignissen wird in spektakulärer Weise dargestellt.
Die Sprache wird
sorgfältig gewählt, minutiös gewoben, die Bedeutungen werden gesprengt und
geschliffen, so lange, bis ein Gefühl sprachlicher Verwirrung entsteht.
Öffnet man eines seiner Bücher, wird man in ein Spiel hineingezogen, in dem einem
viele falsche Interpretationsfährten angeboten werden. Man lässt sich in die
Irre führen und genießt überraschende Ausgänge. Es finden sich Themen wie Vereinsamung, Entfremdung, das Wunder des Seins, der
Mensch in Extremsituationen, die Durchgangsräume, der Tod. Man
muss auch die unbändige Lust des Autors, zu experimentieren erwähnen (zum
Beispiel in dem Stück Gut Mutter, die erzählen im zweiten Akt, was im
ersten Akt passiert). Hier fängt der Autor ein unwiderstehliches Spiel
an: mit seinen Charakteren, mit dem Text, mit den Wortbedeutungen, mit
seinen Lesern.
Endstation: Die
Wirklichkeit
Ein zweites
wiederkehrendes Thema im Schaffen Matei Visniecs ist die gelebte, handfeste Gegenwart. Das zersetzte Theater oder der
Mülltonnen-Mensch bildet hier einen ersten Schritt hin zu einem Andocken an die
unmittelbare Wirklichkeit. Der Text wird zum erschütternden Zeugnis, so zum
Beispiel in
Vom Geschlecht der Frau, als Schlachtfeld – ein
Stück, in dem die Wirklichkeit einer historischen Situation ausgewertet und
analysiert wird (die Vergewaltigung als Kriegsstrategie im Bosnienkrieg).
Das zersetzte
Theater oder der Mülltonnen-Mensch soll vor allem wegen
seiner neuartigen Struktur gelesen werden: ein Modul-Text, ein Puzzle aus vielen
kurzen Stücken, die in das große Bild, in die Hier-und-jetzt-Wirklichkeit,
eingepasst werden sollen. Die beschriebenen Situationen sind durchwegs
paradox: ein bizarres Universum, in dem das Merkwürdige regiert, in dem die
Menschen Gefangene ihrer eigenen Obsessionen und Gewohnheiten, von Willenlosigkeit
und
Gleichgültigkeit sind. Der Mensch wird zu einer Mülltonne, in der der
Abfall der ganzen Menschheit deponiert wird. Ein Stück wie
Paparazzi oder Die Chronik eines abgebrochenen Sonnenaufgangs folgt dem
Puls des Alltäglichen: vor dem Hintergrund des glamourösen Lebens der Stars
läuft die kleine Tragödie des Verschwindens der Sonne ab. Wie sollte ich
ein Vogel sein? erzählt von der Schönheit des Menschseins, nahe den
Engeln und Vögeln, aber auch über die Unfähigkeit, unseren ureigensten
Zustand wiederzufinden, genauso wie die Lust zu "fliegen" und den Willen,
unsere Träume zu verwirklichen.
Pendeln
Matei Visniec
ist ein Autor, der die Trennungslinien zwischen den Genres zu vergessen
scheint, so dass er zwischen Texten, aber auch zwischen Autoren pendelt.
Dieses Pendeln geschieht in der Welt der Träume (denn wir finden bei ihm
Texte, die keine Unterscheidung zwischen Traum und Realität zulassen), und
sie betreffen den Stil (Theaterstücke mit einem überschwänglichen Maß
an Poesie), sie betreffen die Spezies (wir treffen auf Figuren, die
unbestimmte und anpassungsfähige Formen aufweisen), sie betreffen die Form
(Texte, die ihre Form von einer Aufführung zur anderen ändern können, die
also die Gesetze des geschriebenen Textes missachten), sie betreffen die
Ästhetik und das Absurde (das Absurde, das sich zwischen dem Realen und
Politischen auflöst), sie betreffen Raum und Zeit (denn die Figuren geraten
oft ins zeitliche und räumliche Schleudern).
Dialoge im
ungleichen Spiegel
Ein
weiteres
überraschendes Visniec-Universum ist das von Figuren wie Tschechow (in Die
Tschechow-Maschinerie), Meyerhold, Shakespeare (Richard der Dritte
wird nicht mehr gezeigt oder Szenen aus Meyerholds Leben), Beckett
(Der letzte Godot), Cioran (Pariser Dachwohnung mit Blick auf den
Tod). Diese Texte bieten einen lustvollen Blick hinter die Kulissen. Man
schleicht in den Text hinein wegen des Privilegs, ein Universum zu
betreten, das von diesen großen Schöpfern bevölkert wird.
In Die
Tschechow-Maschinerie lebt der russische Schriftsteller mit seinen
Charakteren zusammen und befindet sich in Interaktion mit ihnen. Die
Atmosphäre ist krankhaft, geisterhaft, was nicht verwundert, denn die
Auswahl der Charaktere basiert auch auf ihren jeweiligen Krankheiten (zum
Beispiel Lungentuberkulose). In Nina oder
Über die Zerbrechlichkeit der ausgestopften Möwen treffen drei
Tschechov-Figuren aufeinander: Nina, Treplev und Trigorin. Der Text soll
keine Fortsetzung der Möwe darstellen, sondern eine neue Lesart des
Typus "was wäre wenn" sein. Die gleichen
Methoden werden auch in Der letzte Godot angewandt. Die Figur und ihr
Erfinder werden auf dieselbe Ebene gestellt, von wo aus sie die Konventionen des
Fiktionalen neu definieren. Godot zieht auf köstliche Weise seinen
Autor zur Verantwortung und geht mit diesem eine Performance ein, die
die Idee der Theatralität und des Spektakulären zur Diskussion stellt.
Durch das Bild
des Meyerhold in Richard der Dritte wird nicht mehr gezeigt oder Szenen
aus Meyerholds Leben wird die Idee der Zensur präsent. Die Gräuel des
Kommunismus sind ein schmerzliches und immer wiederkehrendes Thema, sowohl
in Visniecs Werk als auch in seinen Interviews:
"Man darf nicht vergessen,
dass in Rumänien zu der Zeit das Absurde eigentlich die Realität war. Wenn
man hier das Leben eines Menschen beschreibt, der zwischen dem Aufstehen in
der Früh und dem Schlafengehen am Abend einen 'Licht-Tag' durchlebt, so
stellt das bereits absurde Literatur dar. Der Mensch unterlag dem Druck der
Macht, der Umwelt, der Ideologie usw. Er hatte ein doppeltes Denken: zu
Hause sagte er eines, draußen auf der Straße wieder anderes. Er igelte sich
in sich selbst ein, um seine wahren Gefühle nicht zu zeigen. Diese ganze
Schizophrenie, die die rumänische Gesellschaft beherrschte, war dermaßen
absurd, dass man, wenn man die Geschehnisse realistisch beschrieb, bereits eine
absurde Literatur hatte. Für mich war also das Absurde nicht unbedingt das
ästhetische Absurde von Ionesco oder Beckett, sondern eher das grotesk
abgewandelte Absurde."
Verführung und
Jahrmarkt
Das Stück Die
Zielscheibenfrau und ihre zehn Liebhaber ist eine Liebesgeschichte, die
ihren Ursprung in einem Gedicht hat (Jede Nacht sie). Das Thema ist
die Verführung: Die Zielscheibenfrau schleicht sich jede Nacht von ihrem
Mann, dem Messerwerfer weg, um ihrer verrückten Leidenschaft nachzugehen.
Die Mischung aus Verbissenheit (die Verführung ist programmiert, die
Liebhaber müssen immer zehn an der Zahl sein), Traum (die Notwendigkeit,
ihre Freiheit zu leben), dem Verrat, der dem Mann bekannt ist, von ihm
akzeptiert und unterstützt wird, dem Schmerz des verlassenen Liebhabers, dem
bewusst ist, dass er durch einen anderen ersetzt wird – all das macht die
große Dichte und Schönheit des Stückes aus. Der Hintergrund ist umso
reizvoller, als er ein Jahrmarkt ist, ein Gruselhaus, das dem Text grobe
Züge der Fantasie und des Burlesken verleiht. Das Gruselhaus wird zu einem
filigranen Bild einer Welt, die von bizarren Menschen bewohnt wird: das
Tier, das von einem Menschen kaum zu unterscheiden ist, Astor Piazzolla,
abgeschnittene Köpfe, eine Zwergin, ein Gespenst, ein Inspektor. Zirkus und
Groteske.
Die
Geschichte von den Pandabären, eine weitere bezaubernde Liebesgeschichte,
zeigt eine Realität, die in zwei Ebenen gebrochen ist (Traum und
Wirklichkeit). Das ist eines der lyrischsten Stücke Matei Visniecs. Das
Poetische daran erwächst aus den Repliken der Figuren und dem Ablauf der
Geschichte. Die Struktur des Stückes beruht auf Allegorik: ein Stück in neun
Nächten – "neun Nächte können neun Leben sein". Es ist eine
Liebesgeschichte, die von einem Er und einer Sie bis zu
extremen Konsequenzen gelebt wird, eine Geschichte, die ihre Schauspieler
verzehrt und sie buchstäblich verwandelt, um sie schließlich in ein anderes
Leben zu versetzen.
Die Opfergalerie
Pferde am
Fenster könnte man als "Schicksale im Visier" interpretieren, denn das
Stück analysiert drei (Er)lebens-Attrappen. Drei Figuren (der Sohn, der
Vater und der Ehegatte) leben in selbstgebauten Welten, denen sie nicht
entkommen können: die Welt des mütterlichen Schutzes (der Sohn), die Welt
der eigenen Besessenheit und Gier (der Vater), die Welt der normierten
Pseudodisziplin (der Ehegatte, der lächerlicherweise auch zu Hause nach den
Regeln der Kaserne lebt). Der militärische Kontext, in dem die Handlung
platziert ist, stellt einen perfekten Vorwand dar, um eine Welt zu
präsentieren, die von genauen, lückenlos angewandten Regeln beherrscht wird.
Die Figuren sind
Spielzeuge zum Aufziehen und keine Menschen. Der Sohn stirbt zu
Friedenszeiten "in Ausübung seiner Pflicht", in einer grotesken Manier – die
Hand des Schicksals; diese Figur hat einen einzigen Moment, in dem sie den
Mut aufbringt, ihr Schicksal zu bekämpfen und "mit dem Pferd" zu reden. Das
Pferd/das Schicksal tritt den Sohn, der daraufhin stirbt; der Vater ist ein
Entfremdeter, der unterwegs vom Schlachtfeld nach Hause vor Einsamkeit
verrückt wird – und das genau zu dem Zeitpunkt, als die Schlacht vorbei ist
und er als einziger Überlebender zum Helden wird – die Hand des Schicksals.
Der Kämpfer (der Ehegatte) lebt immer mitten im Kampf, mitten auf dem
Schlachtfeld, aber vor lauter Eifer schafft er es nicht, tatsächlich daran
teilzunehmen. Das Pferd/das Schicksal wird gleich eines zweiten Schlages
bezichtigt. Diesmal ist aber nicht mehr die Hand des Schicksals im Spiel,
sondern der kollektive Fuß der Armee. Das Schicksal vergisst ihn und
die Figur wird zertrampelt, sein Grab wird tragikomisch durch die
aufgestapelten Stiefel des ganzen Zuges rekonstruiert.
Das Fallen in
den Körper
Clown
gesucht ist eine
sprudelnde Komödie mit einem sehr bitteren Nachgeschmack. Drei alternde
Clowns warten auf die Chance auf einen Job. Vergebens.
Unterwegs zu diesem Job
werden aus alten Freunden
Verbündete, Feinde,
Rivalen. Der Raum, den sie betreten haben, bietet keine Ausgangsmöglichkeit:
es gibt keine Fenster und die Türen lassen sich nicht öffnen. Die drei
wetteifern durch Sprache (durch Protzen und Schimpfen), Tricks, aber auch
Hinterlist. Ein Degradé von zutiefst menschlichem Verfall. Das Warten
ersetzt das Schauspiel. Die Show ist eigentlich die nie beginnende Show. Der
Text nützt auf subtile Weise komische, burleske, karikaturhafte, groteske
und tragische Nuancen aus. Die Einzigartigkeit und die Wiederholbarkeit des
schauspielerischen Aktes und der Vorstellung werden zu den zwei Seiten
derselben Medaille. Ein Spiel mit dem Scheinbaren, mit dem Theater, mit dem
Leben, das mit immer neuen Darstellern immer wieder neu beginnt.
Der verflüssigte
Mythos
Die
Kreuzigung Christi ist ein immer wiederkehrendes Thema in Matei Visniecs
Werk. Die Spinne in der Wunde behandelt das Thema aus einer neuen
Perspektive: wir haben das Gefühl eines kleinen Gottes, der fast
nicht wiederzuerkennen ist. Wir ahnen es aber durch seine Sprache, durch die
Situation, durch die Notwendigkeit an Wundern, die man von ihm verlangt. Die
Tragödie des Gekreuzigten ist menschlich und geschieht im Kleinen. Sie wird
durch die lächerliche Furcht vor einer Spinne suggeriert, die in die von
Lanzen verursachte Wunde eindringt. Die Furcht ist
auch in Nichts tat mir weh präsent (ein kurzes Stück, das in der
jüngsten Auflage des Bandes Stell dir vor, du wärst Gott zu finden
ist), das auf dem Übergang vom menschlichen Leiden eines Individuums zur
Erschaffung einer Religion basiert.
Die verkehrte
Sage
Artus der
Verurteilte bezieht sich auf die Artus-Sage, zieht
sie aber ins
Burleske. Das, was Artus' letzte Augenblicke hätten werden sollen, mutiert
zur Parodie eines Endes, von dem wir erwartet hätten, dass es anständig ist.
Die Würde des Todes wird durch grausame Banalität und kitschige Demütigung
ersetzt, wie in einem verrückten Film, wobei der Text die Idee der
Vertikalität des menschlichen Wesens zur Diskussion stellt.
Der Mythos und
die Geschichte
Johanna und
das Feuer ist eine zu jeder Zeit gültige Diskussion über die Aktualität
der Mythen, über die Möglichkeit der Wunder und über die dunkle Seite der
Geschichte. Gleichzeitig bietet das Stück aber eine gute Gelegenheit zur
Reflexion über Themen wie das Schreiben und Umschreiben von Geschichte oder
die Wunder der Existenz. Es ist eine Diskussion darüber, wie weit unser
Bezug zu Geschichte geht, vor allem durch die Texte, die wir lesen. Ein
Erfinden der Vergangenheit je nach dem, was die Gegenwart verlangt, ist
abstoßend (die Geschichte kann jederzeit verformt, beschnitten, umgedacht
werden – im Stück wird als Beispiel dafür das Bild der Johanna von Orleans
verwendet).
Die
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit
Die
Geschichte des Kommunismus nacherzählt für Geisteskranke ist die eloquenteste
Auseinandersetzung des Autors mit der Vergangenheit. Das Thema Kommunismus
wird in vielen seiner Interviews ausführlich diskutiert (und Bezüge dazu
sind in vielen seiner Stücke zu finden). Der Text ist eine Warnung, die alle
wie auch immer gearteten Utopien betrifft und ein Memento für alle Massaker,
die im Zeichen des Aufbaus der kommunistischen Utopien geschehen sind. Die
Ausgangssituation ist verblüffend: ein Schriftsteller wird damit beauftragt,
kommunistische Propaganda in einem Krankenhaus für geistig Kranke zu machen.
Auf diese Weise will man den "subversiven" Elementen auf die Spur kommen,
die sich vielleicht im Krankenhaus verbergen. Der Schriftsteller schreibt
also die Geschichte des Kommunismus so um, dass sie für die Geisteskranken
verständlich wird – und bietet dabei richtige Beispiele eines "guten
Benehmens".
Die so genannte
"Holzsprache" und die Stereotypen des Kommunismus ergeben einen schön
verpackten Diskurs, der zur Gehirnwäsche dienen soll – ein weiteres Thema,
das in Matei Visniecs Stücken oft vorkommt. Der Wahnsinn als Metapher
richtet die Aufmerksamkeit auf das doppelte Denken.
Das Werk Matei
Visniecs weist eine kompakte und dichte Struktur auf und besteht aus
Dichtung, Prosa und Theater in unterschiedlicher Menge. Die Stücke sind eine
Mischung aus Projektionen, Träumen und Gräueltaten, die einen starken
Einfluss auf den Leser ausüben. Die anziehende und verblüffende Thematik und
die schier unerschöpfliche Menge an Einfällen, mit denen der Leser verblüfft wird, stellen eine
immerwährende Provokation dar. Aber jeder hingeworfene Handschuh verdient
es, aufgehoben zu werden. Sich einzulassen auf den Text, ist auf jeden Fall ein Gewinn.
Aus dem Rumänischen von Aranca Munteanu