Oltița Cîntec
oltitacintec [at]
gmail.com
Oltița Cîntec ist
Theaterkriti-
kerin, Kuratorin mehrerer Festi-vals der darstellenden Künste
in Rumänien, Fachberaterin
und Koordinatorin von Thea-
terprojekten, Autorin zahlrei-
cher Bücher über das zeit-
genössische Theater. Ihre Arti-
kel und Studien wurden in
wichtigen Theater- und Kultur-
zeitschriften im In- und Aus-
land veröffentlicht, unter ande-
rem in Critical Stages, Collo-
quium Politicum, Euresis,
Philologica Jassyensia,
DramArt, Observator Cultural,
Scena.ro, Teatrul Azi. Drei-
fache Nominierung für den
UNITER-Preis für Theaterkri-
tik (2007, 2012, 2019).
Derzeit ist sie Präsidentin
der Internationalen Vereini-
gung für Theaterkritiker-
Rumänien (AICT.RO).
(c) FITPTI
Oltiţa
Cîntec
(Fernsehinterview anlässlich
der Premiere von
"RaTaTa
– Die Rattenfanfare")
"Es war schwieriger als
in den Vorjahren. Was
ich fünf Monate lang
geplant hatte, musste ich
fallen lassen. Es war ein
Rennen gegen die Zeit."
(c) Andrei Gindac
"Aschenputtel"
(Regie: Silviu Purcărete, Țăndărică
Theater Bukarest)
"Die Beziehung zum Pub-
likum hat einen Wandel
erlebt.
Das kostenlose
und umfangreiche Online-
Streaming hat den Kultur-
konsum verändert
und
die Bequemlichkeit be-
günstigt. Auch die Art der
erlebten Emotionen ist
eine andere: Die
leben-
dige Erfahrung wurde
durch technologisch ver-
mittelte Emotionen
ersetzt."
(c) Daniel Rudzki,
Piotr Wacowski
"Best Of"
(Regie: Bodecker & Neander, Visual Theatre Berlin)
"Es ist nicht die Angst
vor einer Ansteckung,
die Theaterliebhaber ver-
treibt, sondern die man-
gelnde Vorhersehbarkeit.
Man plant das Wochen-
ende, man kauft sich eine
Theaterkarte, aber dann
kündigen die Behörden
von heute auf morgen
die Schließung der
Theater an."
(c) Alex Iures
"Du hast nichts zu suchen!"
(Regie: Alexandru Dabija,
Act Theater Bukarest)
"Etwas hat sich doch
zum Guten gewendet:
Die Künstler sind nun
besser darauf vorbereitet,
Produktionen speziell für
das digitale Medium oder
zumindest gemischte Ver-
sionen zu produzieren." |
Irina Wolf :
2020 ist ein schwieriges Jahr für die Kulturbranche. Haben Sie jemals in
Erwägung gezogen, die diesjährige Auflage des Internationalen
Theaterfestivals für ein junges Publikum (FITPTI) abzusagen?
Cîntec:
Ich hatte nie vor, das Festival auf 2021 zu verschieben, wie es viele
andere in Rumänien und im Ausland aufgrund der Coronavirus-Pandemie
getan haben. Mir ist Kontinuität sehr wichtig. Sie vermittelt das
Gefühl, dass die epidemiologische Krise nicht lange anhalten wird.
Kontinuität gibt Hoffnung, dass wir zu unserer Lebensweise vor Ausbruch
der Pandemie zurückkehren können. Die Aufrechterhaltung des Kontakts zum
Publikum ist der Kern der Theaterkunst und erzeugt Optimismus. Deshalb
habe ich eine Auflage unter dem Namen "Pandemie-Havarie" angestrebt.
Außerdem war es die 13. Ausgabe. Ich bin sicher, das ist ein Grund zum
Lächeln! Aber ich bin nicht abergläubisch, glaube nicht an schwarze
Kater oder unglückbringende Zahlen. Um dieses Pech zu vereiteln, war es
wichtig, die Festivalauflage 2020 vom 2. bis 7. Oktober abzuhalten.
Irina Wolf:
Wie kompliziert war die Organisation? Nach welchen Kriterien haben Sie
die Gastproduktionen ausgesucht?
Cîntec:
Aufgrund der durch die Pandemie verursachten unsicheren Lage, in der
sich alle zwei Wochen alles ändert und angepasst werden muss, habe ich
mit mehreren Szenarien gearbeitet. Bis Februar hatte ich schon ungefähr
70 Prozent des Programms fertiggestellt. Im März und April musste ich
alles über Bord werfen. Was ich mir im April und Mai ausgedacht hatte,
war im Juni und Juli unbrauchbar. Also habe ich die Grundlagen
überdacht. Das Katastrophenszenario war eine ausschließliche
Online-Ausgabe. Die Aufhebung der Beschränkungen bot die Möglichkeit, im
Juni im Freien und im September im Theatersaal zu spielen.
Dementsprechend aktivierte ich meine anderen Szenarien: A –
ausschließlich Online (Video und Radio); B – Online und Open Air; C –
Live (indoor, outdoor) sowie Online (Live-Streaming, Streaming) und
Radio. Das Ergebnis war ein Live-, Online- und Radio-Mix. Im Programm
waren alle möglichen Theaterformen, die während der Coronavirus-Pandemie
realisierbar sind, inbegriffen.
Es war eine laufende Arbeit. Ich dachte mir Lösungen
für verschiedene Situationen aus. Es war schwieriger als in den
Vorjahren. Was ich fünf Monate lang geplant hatte, musste ich fallen
lassen. Es war ein Rennen gegen die Zeit. Ich versuchte mir
Backup-Konzepte vorzustellen im Falle von Regenwetter – da hätten wir
Probleme mit den Live-Outdoor-Aufführungen bekommen, oder falls die
Anzahl der Coronavirus-Infizierten steigen und die Beschränkungen wieder
in Kraft treten sollten – da wären wir gezwungen gewesen, nur online zu
arbeiten. Covid-19-Erkrankungen unter den Mitarbeitern wären weitere
Hindernisse gewesen, denn in Rumänien wird das Theaterpersonal nicht
getestet. Knappe zwei Wochen vor der Eröffnung war die endgültige
Hybridversion des Festivals fertig.
Die
Gastproduktionen habe ich aufgrund der Qualität und Vielfalt der
künstlerischen Ausdrucksmittel ausgesucht. Jede Wahl ist ästhetisch
motiviert. Zum Beispiel hat die Grazer ASOU-Theatergruppe vor einigen
Jahren am Festival mit ihrer Produktion "Pinguin People" gastiert. Jetzt
gibt es die Fortsetzung "Pinguin Fishing", also haben wir uns auf eine
Online-Ausstrahlung geeinigt. Nächstes Jahr ist geplant, dass sie mit
dieser Produktion, in Zusammenarbeit mit La Strada, mit Unterstützung
des Österreichischen Kulturforums in Bukarest eingeladen werden. Das
Live wurde komprimiert, stattdessen gab es Varianten, die weltweit
zugänglich waren. Radiotheater fand zum ersten Mal im Programm seinen
Platz, es gab aber auch Straßentheater, Lesungen, Buchpräsentationen,
Ausstellungen, Treffen und Debatten.
Das Ergebnis war zufriedenstellend, im Einklang mit
unseren Bemühungen. Es war wie eine Achterbahnfahrt mit Höhen und
Tiefen, mit viel Adrenalin, aber das hatte ich zu verantworten. Es ist
wichtig, die direkte oder durch Technologie vermittelte Begegnung mit
dem Publikum aufrecht zu erhalten. Weiterzumachen bedeutet, sich an
Situationen anzupassen, kreativ zu sein, nicht aufzugeben. Was auf den
ersten Blick als Hindernis wirkt, kann in Chancen verwandelt werden. Die
Publikumsbeschränkung hat zu Theaterformen geführt, auf die weltweit
online zugegriffen werden kann. Das ist eine Steigerung der
Zugänglichkeit und der Sichtbarkeit. Aufgrund von Reisebeschränkungen
konnten internationale Inszenierungen hauptsächlich online gesehen
werden. Produktionen aus Österreich, Deutschland, Georgien, Island,
Japan, Frankreich, Russland, Großbritannien, Italien und Rumänien wurden
im Streaming übertragen, unter anderem die Produktion "Best Of" von
Bodecker & Neander Visual Theatre aus Berlin. Die Künstler dieser Gruppe
sind in der Schule von Marcel Marceau ausgebildet worden. Sie haben
einen ganz persönlichen Stil entwickelt. Die deutsche PasParTouT-Gruppe
war mutiger. Sie ist nach Iaşi
mit der Produktion "RaTaTa – Die Rattenfanfare" angereist, obwohl die
Künstler wussten, dass sie sich nach der Rückkehr für 14 Tage in
Quarantäne begeben mussten.
Zu
den rumänischen Theatermachern, deren Werke sich in der Auswahl
wiederfanden, zählen Mihai Măniutiu und Ada Milea ("Alkohol", Nottara
Theater Bukarest), Silviu Purcărete ("Aschenputtel",
Țăndărică Theater Bukarest),
Alexandru Dabija ("Du hast nichts zu suchen!", Act Theater Bukarest),
Florin Piersic Jr. ("Brüder", Nationaltheater Temeswar), Bobi Pricop
("Live", Nationaltheater Hermannstadt), Bobo Burlăcianu ("Die Stadt",
"Luceafărul" Theater Iaşi) usw.
In der Sparte "Theater im Kopfhörer"(***)
wurden 18 Radiosendungen zu Texten von u. a. Matei Vişniec, Maria
Manolescu Borşa,
Petre Barbu und Ema Stere geboten, sowie eine Miniserie der Autorin
Elise Wilk. Das zeugt von unserer erfolgreichen Zusammenarbeit mit der
nationalen Radiotheaterbehörde, die über moderne Aufnahme- und
Wiedergabetechniken (binaurales System) verfügt.
Am letzten Tag des Festivals veröffentlichten wir das
erste Buch, das die komplizierte Beziehung zwischen den lebenden Künsten
und dem epidemiologischen Kanon widerspiegelt. Der Sammelband "Ein Virus
auf der Weltbühne. Theater und Pandemie 2.0", den ich koordiniert habe,
enthält umfassende Studien, Artikel und Interviews von Maria Ristani
(Griechenland), Mirella Patureau (Frankreich), Irina Wolf (Österreich),
Oana Cristea Grigorescu, Silvia Dumitrache, Mihaela Michailov Radu Nica,
Luana Pleşea, Iulia
Popovici, Cristina Rusiecki, Oana Stoica und Daniela Şilindean.
Irina Wolf:
Bei den vorherigen Festivalauflagen, an denen
ich vor Ort teilgenommen habe, fanden vormittags Auffüh-
rungen für Schulgruppen statt. Haben Sie es geschafft,
solche Veranstaltungen auch dieses Jahr zu organisieren?
Cîntec:
Dies war aufgrund der neuen Hygienevorschriften nicht der Fall. Das
Live für Familien spielte sich nachmittags und abends ab.
Irina Wolf:
Welche Festivalsektionen (Live-Indoor, Live-Streaming, Outdoor, Radio
usw.) haben Ihrer Meinung nach die meiste Zuschauer- bzw. Hörerquote
erreicht?
Cîntec: Zum
Meistgesehenen zählt naturgemäß der Bereich Online. Ich hatte Bedenken
mit dieser Sektion, weil ein großes Sendevolumen das Interesse am
Online-Medium untergräbt. Aber die Besucherzahlen schauen sehr gut aus,
sie haben meine Erwartungen übertroffen. Alle Online-Events wurden gut
besucht, das Feedback ist hervorragend. Hier ein Top 3: "Du hast nichts
zu suchen!" (Akt Theater Bukarest, Regie: Alexandru Dabija, Text:
Cătălin
Ştefănescu, Protagonist: Marcel
Iureş),
"Aschenputtel" (Țăndărică
Theater Bukarest, Regie: Silviu Purcărete), "Brüder" (Nationaltheater
Temeswar, Regie: Florin Piersic Jr.). Zuschauer aus Österreich,
Deutschland, Italien, Japan, Großbritannien, Georgien, Island,
Frankreich, Russland, Spanien haben sich zugeschaltet. Das Internet hat
Theaterbarrieren und epidemiologische Einschränkungen überwunden.
Die Beziehung zum Publikum hat einen Wandel erlebt.
Das kostenlose und umfangreiche Online-Streaming (nachvollziehbar in
Zeiten der Einhaltung der Abstandsregeln) hat den Kulturkonsum verändert
und die Bequemlichkeit begünstigt. Menschen verbringen mehr Zeit auf dem
Lieblingssofa daheim. Sie haben keinen Verkehrsstau, müssen kein
Gedränge in den Transportmitteln oder die Suche nach einem Parkplatz
bewältigen. Auch die Art der erlebten Emotionen ist eine andere: Die
lebendige Erfahrung wurde durch technologisch vermittelte Emotionen
ersetzt.
Irina Wolf:
Wie wurde das Festival von den örtlichen Zuschauern aufgenommen? Hat die
Pandemiekrise die Art und Weise verändert, wie Menschen ins Theater
gehen?
Cîntec:
Live-Veranstaltungen wurden gut besucht. Eigentlich war das Live
ausverkauft, aber das bedeutet fünfzig Prozent der Saalkapazität (200
Sitzplätze im großen Saal, 70 im kleinen). Viele Menschen hatten Lust
auf Theater. Zur Aufführung der PasParTouT-Gruppe wären gerne mehr Leute
gekommen. Es ist nicht die Angst vor einer Ansteckung, die
Theaterliebhaber vertreibt, sondern die mangelnde Vorhersehbarkeit. Man
plant das Wochenende, man kauft sich eine Theaterkarte, aber dann
kündigen die Behörden von heute auf morgen die Schließung der Theater
an. So hat sich das Leben verkompliziert, denn nun muss man den Wert der
Theaterkarte retourniert bekommen oder auf eine Neuplanung warten, ohne
die Gewissheit zu haben, ob man zum neuen Vorstellungsdatum verfügbar
sein wird. All das erzeugt noch mehr Chaos in Pandemiezeiten.
Nach der Zulassung eines Impfstoffes werden wir genug
Arbeit leisten müssen, um die Zuschauer zurück ins Theater zu bringen.
Neue künstlerische Vorschläge werden gefragt sein, aber auch Ideen, um
die Zuschauer zu verführen. Das treue Publikum wird leichter
zurückkehren, der Rest wird schwerer zu überzeugen sein. Für diejenigen,
die nie einen Theatersaal betreten haben, kann die Aufrechterhaltung des
Online-Streamingangebotes Erfolge zeigen.
Irina Wolf:
Die Online-Komponente, die während des Lockdowns notwendig war, ist in
vielen Ländern nicht mehr relevant. In Rumänien greifen sowohl
Regisseure als auch Theaterdirektoren noch immer darauf zurück. Wie
vorteilhaft wirkt sich diese Haltung auf die Theaterszene aus?
Cîntec: Die
Unsicherheit und die Unmöglichkeit, eindeutige Vorhersagen zu treffen,
machen Online weiterhin nötig. In vielen Ländern Westeuropas hat
man eine längere Anlaufzeit von den Entscheidungen der Behörden bis zu
deren Umsetzung, um vorausschauend planen zu können. In Rumänien wird
heute entschieden, morgen schon tritt die Entscheidung in Kraft. Wenn
das Publikum den Theatersaal nicht mehr betreten darf und Aufführungen
im Freien keine Option mehr sind, bleibt nur der Online-Bereich. Etwas
hat sich doch zum Guten gewendet: Die Künstler sind nun besser darauf
vorbereitet, Produktionen speziell für das digitale Medium oder
zumindest gemischte Versionen (sowohl bezüglich Online als auch
Live-Indoor, wenn die Theater wieder öffnen dürfen) zu produzieren.
Irina Wolf:
Online-Veranstaltungen haben den Vorteil, weltweit zugänglich zu sein.
Dies ist nicht der Fall für diejenigen, die im Pay-per-view-System
gezeigt werden. Solche Inszenierungen sind eher für ein nationales
Publikum bestimmt. Hat dieses System Erfolg beim rumänischen Publikum?
Cîntec:
Manchmal mehr, manchmal weniger. Das hängt von der Zuschauerkategorie
ab, an die es gerichtet ist, und der Art und Weise, wie die
Inszenierungen gemacht sind. Sie haben meistens eine kürzere Dauer, sind
dynamischer. Es ist eine andere Art, Theater zu machen als für die
traditionelle Szene. Ich glaube, dass dieses System von jungen
Zuschauern mehr geschätzt wird als von den Erwachsenen und Senioren.
Irina Wolf:
Die Theater in Iaşi wurden im September für kurze Zeit geöffnet und am
7. Oktober wieder geschlossen. Wie sieht die Zukunft des "Luceafărul"
Kinder- und Jugendtheaters aus, dessen künstlerische Leiterin Sie sind?
Cîntec: Die
einzige Möglichkeit besteht darin, flexibel zu bleiben und sich weiter
anzupassen. Dies erfordert zusätzliche Energie- und
Kreativitätsressourcen, zumal das Budget für künstlerische Aktivitäten
auf null gesetzt ist. Wir setzen aber unsere Mission fort und versuchen,
die fehlenden finanziellen Mittel durch Erfindungsreichtum
auszugleichen.
(***) A.d.Ü.: Es
handelt sich hierbei um ein Wortspiel des
rumänischen Ausdrucks "Teatrul în cas(c)ă", das
auch "Theater im Haus" bedeuten kann.
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