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"Weitermachen, kreativ sein, nicht aufgeben"

Das Pandemiejahr 2020 stellt Theatermacher auf der ganzen Welt vor fast unlösbar
scheinende Herausforderungen. Was dies konkret für die rumänische Theaterszene bedeutet,
schildert Oltiţa Cîntec am Beispiel des im vergangenen Oktober in
Iaşi veranstalteten
Jugend-Theaterfestivals "FITPTI" im Aurora-Interview.

Von Irina Wolf
(22. 12. 2020)

...



(c) FITPTI

Oltița Cîntec
oltitacintec [at] gmail.com

Oltița Cîntec ist Theaterkriti-
kerin, Kuratorin mehrerer Festi-vals der darstellenden Künste
in Rumänien, Fachberaterin
und Koordinatorin von Thea-
terprojekten, Autorin zahlrei-
cher Bücher über das zeit-
genössische Theater. Ihre Arti-
kel und Studien wurden in
wichtigen Theater- und Kultur-
zeitschriften im In- und Aus-
land veröffentlicht, unter ande-
rem in Critical Stages, Collo-
quium Politicum, Euresis,
Philologica Jassyensia,
DramArt, Observator Cultural,
Scena.ro, Teatrul Azi. Drei-
fache Nominierung für den
UNITER-Preis für Theaterkri-
tik (2007, 2012, 2019).
Derzeit ist sie Präsidentin
der Internationalen Vereini-
gung für Theaterkritiker-
Rumänien (AICT.RO).

 

 

 

 

 


(c) FITPTI

 Oltiţa Cîntec
(Fernsehinterview anlässlich
der Premiere von
"RaTaTa
– Die Rattenfanfare")

 

 

 

 

 

"Es war schwieriger als
in den Vorjahren. Was
ich fünf Monate lang
geplant hatte, musste ich
fallen lassen. Es war ein
Rennen gegen die Zeit."

 

 

 

 

 

 


(c) Andrei Gindac

"Aschenputtel"
(Regie: Silviu Purcărete
, Țăndărică Theater Bukarest)

 

 

 

 

 

 

"Die Beziehung zum Pub-
likum hat einen Wandel
erlebt. Das kostenlose
und umfangreiche Online-
Streaming hat den Kultur-
konsum verändert und
die Bequemlichkeit be-
günstigt. Auch die Art der
erlebten Emotionen ist
eine andere: Die leben-
dige Erfahrung wurde
durch technologisch ver-
mittelte Emotionen ersetzt."

 

 

 

 

 

 


(c) Daniel Rudzki, Piotr Wacowski

"Best Of"
(Regie: Bodecker & Neander, Visual Theatre Berlin)

 

 

 

 

 

"Es ist nicht die Angst
vor einer Ansteckung,
die Theaterliebhaber ver-
treibt, sondern die man-
gelnde Vorhersehbarkeit.
Man plant das Wochen-
ende, man kauft sich eine
Theaterkarte, aber dann
kündigen die Behörden
von heute auf morgen
die Schließung der
Theater an."

 

 

 

 

 

 


(c) Alex Iures

"Du hast nichts zu suchen!"
(Regie: Alexandru Dabija,
Act Theater Bukarest)

 

 

 

 

 

"Etwas hat sich doch
zum Guten gewendet:
Die Künstler sind nun
besser darauf vorbereitet,
Produktionen speziell für
das digitale Medium oder
zumindest gemischte Ver-
sionen zu produzieren."

 

Irina Wolf: 2020 ist ein schwieriges Jahr für die Kulturbranche. Haben Sie jemals in Erwägung gezogen, die diesjährige Auflage des Internationalen Theaterfestivals für ein junges Publikum (FITPTI) abzusagen?

Cîntec: Ich hatte nie vor, das Festival auf 2021 zu verschieben, wie es viele andere in Rumänien und im Ausland aufgrund der Coronavirus-Pandemie getan haben. Mir ist Kontinuität sehr wichtig. Sie vermittelt das Gefühl, dass die epidemiologische Krise nicht lange anhalten wird. Kontinuität gibt Hoffnung, dass wir zu unserer Lebensweise vor Ausbruch der Pandemie zurückkehren können. Die Aufrechterhaltung des Kontakts zum Publikum ist der Kern der Theaterkunst und erzeugt Optimismus. Deshalb habe ich eine Auflage unter dem Namen "Pandemie-Havarie" angestrebt. Außerdem war es die 13. Ausgabe. Ich bin sicher, das ist ein Grund zum Lächeln! Aber ich bin nicht abergläubisch, glaube nicht an schwarze Kater oder unglückbringende Zahlen. Um dieses Pech zu vereiteln, war es wichtig, die Festivalauflage 2020 vom 2. bis 7. Oktober abzuhalten.

Irina Wolf: Wie kompliziert war die Organisation? Nach welchen Kriterien haben Sie die Gastproduktionen ausgesucht?

Cîntec: Aufgrund der durch die Pandemie verursachten unsicheren Lage, in der sich alle zwei Wochen alles ändert und angepasst werden muss, habe ich mit mehreren Szenarien gearbeitet. Bis Februar hatte ich schon ungefähr 70 Prozent des Programms fertiggestellt. Im März und April musste ich alles über Bord werfen. Was ich mir im April und Mai ausgedacht hatte, war im Juni und Juli unbrauchbar. Also habe ich die Grundlagen überdacht. Das Katastrophenszenario war eine ausschließliche Online-Ausgabe. Die Aufhebung der Beschränkungen bot die Möglichkeit, im Juni im Freien und im September im Theatersaal zu spielen. Dementsprechend aktivierte ich meine anderen Szenarien: A – ausschließlich Online (Video und Radio); B – Online und Open Air; C – Live (indoor, outdoor) sowie Online (Live-Streaming, Streaming) und Radio. Das Ergebnis war ein Live-, Online- und Radio-Mix. Im Programm waren alle möglichen Theaterformen, die während der Coronavirus-Pandemie realisierbar sind, inbegriffen.

Es war eine laufende Arbeit. Ich dachte mir Lösungen für verschiedene Situationen aus. Es war schwieriger als in den Vorjahren. Was ich fünf Monate lang geplant hatte, musste ich fallen lassen. Es war ein Rennen gegen die Zeit. Ich versuchte mir Backup-Konzepte vorzustellen im Falle von Regenwetter – da hätten wir Probleme mit den Live-Outdoor-Aufführungen bekommen, oder falls die Anzahl der Coronavirus-Infizierten steigen und die Beschränkungen wieder in Kraft treten sollten – da wären wir gezwungen gewesen, nur online zu arbeiten. Covid-19-Erkrankungen unter den Mitarbeitern wären weitere Hindernisse gewesen, denn in Rumänien wird das Theaterpersonal nicht getestet. Knappe zwei Wochen vor der Eröffnung war die endgültige Hybridversion des Festivals fertig.

   Die Gastproduktionen habe ich aufgrund der Qualität und Vielfalt der künstlerischen Ausdrucksmittel ausgesucht. Jede Wahl ist ästhetisch motiviert. Zum Beispiel hat die Grazer ASOU-Theatergruppe vor einigen Jahren am Festival mit ihrer Produktion "Pinguin People" gastiert. Jetzt gibt es die Fortsetzung "Pinguin Fishing", also haben wir uns auf eine Online-Ausstrahlung geeinigt. Nächstes Jahr ist geplant, dass sie mit dieser Produktion, in Zusammenarbeit mit La Strada, mit Unterstützung des Österreichischen Kulturforums in Bukarest eingeladen werden. Das Live wurde komprimiert, stattdessen gab es Varianten, die weltweit zugänglich waren. Radiotheater fand zum ersten Mal im Programm seinen Platz, es gab aber auch Straßentheater, Lesungen, Buchpräsentationen, Ausstellungen, Treffen und Debatten.

Das Ergebnis war zufriedenstellend, im Einklang mit unseren Bemühungen. Es war wie eine Achterbahnfahrt mit Höhen und Tiefen, mit viel Adrenalin, aber das hatte ich zu verantworten. Es ist wichtig, die direkte oder durch Technologie vermittelte Begegnung mit dem Publikum aufrecht zu erhalten. Weiterzumachen bedeutet, sich an Situationen anzupassen, kreativ zu sein, nicht aufzugeben. Was auf den ersten Blick als Hindernis wirkt, kann in Chancen verwandelt werden. Die Publikumsbeschränkung hat zu Theaterformen geführt, auf die weltweit online zugegriffen werden kann. Das ist eine Steigerung der Zugänglichkeit und der Sichtbarkeit. Aufgrund von Reisebeschränkungen konnten internationale Inszenierungen hauptsächlich online gesehen werden. Produktionen aus Österreich, Deutschland, Georgien, Island, Japan, Frankreich, Russland, Großbritannien, Italien und Rumänien wurden im Streaming übertragen, unter anderem die Produktion "Best Of" von Bodecker & Neander Visual Theatre aus Berlin. Die Künstler dieser Gruppe sind in der Schule von Marcel Marceau ausgebildet worden. Sie haben einen ganz persönlichen Stil entwickelt. Die deutsche PasParTouT-Gruppe war mutiger. Sie ist nach Iaşi mit der Produktion "RaTaTa – Die Rattenfanfare" angereist, obwohl die Künstler wussten, dass sie sich nach der Rückkehr für 14 Tage in Quarantäne begeben mussten.

   Zu den rumänischen Theatermachern, deren Werke sich in der Auswahl wiederfanden, zählen Mihai Măniutiu und Ada Milea ("Alkohol", Nottara Theater Bukarest), Silviu Purcărete ("Aschenputtel", Țăndărică Theater Bukarest), Alexandru Dabija ("Du hast nichts zu suchen!", Act Theater Bukarest), Florin Piersic Jr. ("Brüder", Nationaltheater Temeswar), Bobi Pricop ("Live", Nationaltheater Hermannstadt), Bobo Burlăcianu ("Die Stadt", "Luceafărul" Theater Iaşi) usw.

In der Sparte "Theater im Kopfhörer"(***) wurden 18 Radiosendungen zu Texten von u. a. Matei Vişniec, Maria Manolescu Borşa, Petre Barbu und Ema Stere geboten, sowie eine Miniserie der Autorin Elise Wilk. Das zeugt von unserer erfolgreichen Zusammenarbeit mit der nationalen Radiotheaterbehörde, die über moderne Aufnahme- und Wiedergabetechniken (binaurales System) verfügt.

Am letzten Tag des Festivals veröffentlichten wir das erste Buch, das die komplizierte Beziehung zwischen den lebenden Künsten und dem epidemiologischen Kanon widerspiegelt. Der Sammelband "Ein Virus auf der Weltbühne. Theater und Pandemie 2.0", den ich koordiniert habe, enthält umfassende Studien, Artikel und Interviews von Maria Ristani (Griechenland), Mirella Patureau (Frankreich), Irina Wolf (Österreich), Oana Cristea Grigorescu, Silvia Dumitrache, Mihaela Michailov Radu Nica, Luana Pleşea, Iulia Popovici, Cristina Rusiecki, Oana Stoica und Daniela Şilindean.

Irina Wolf: Bei den vorherigen Festivalauflagen, an denen
ich vor Ort teilgenommen habe, fanden vormittags Auffüh-
rungen für Schulgruppen statt. Haben Sie es geschafft,
solche Veranstaltungen auch dieses Jahr zu organisieren?

Cîntec: Dies war aufgrund der neuen Hygienevorschriften nicht der Fall. Das Live für Familien spielte sich nachmittags und abends ab.

Irina Wolf: Welche Festivalsektionen (Live-Indoor, Live-Streaming, Outdoor, Radio usw.) haben Ihrer Meinung nach die meiste Zuschauer- bzw. Hörerquote erreicht?

Cîntec: Zum Meistgesehenen zählt naturgemäß der Bereich Online. Ich hatte Bedenken mit dieser Sektion, weil ein großes Sendevolumen das Interesse am Online-Medium untergräbt. Aber die Besucherzahlen schauen sehr gut aus, sie haben meine Erwartungen übertroffen. Alle Online-Events wurden gut besucht, das Feedback ist hervorragend. Hier ein Top 3: "Du hast nichts zu suchen!" (Akt Theater Bukarest, Regie: Alexandru Dabija, Text: Cătălin Ştefănescu, Protagonist: Marcel Iureş), "Aschenputtel" (Țăndărică Theater Bukarest, Regie: Silviu Purcărete), "Brüder" (Nationaltheater Temeswar, Regie: Florin Piersic Jr.). Zuschauer aus Österreich, Deutschland, Italien, Japan, Großbritannien, Georgien, Island, Frankreich, Russland, Spanien haben sich zugeschaltet. Das Internet hat Theaterbarrieren und epidemiologische Einschränkungen überwunden.

Die Beziehung zum Publikum hat einen Wandel erlebt. Das kostenlose und umfangreiche Online-Streaming (nachvollziehbar in Zeiten der Einhaltung der Abstandsregeln) hat den Kulturkonsum verändert und die Bequemlichkeit begünstigt. Menschen verbringen mehr Zeit auf dem Lieblingssofa daheim. Sie haben keinen Verkehrsstau, müssen kein Gedränge in den Transportmitteln oder die Suche nach einem Parkplatz bewältigen. Auch die Art der erlebten Emotionen ist eine andere: Die lebendige Erfahrung wurde durch technologisch vermittelte Emotionen ersetzt.

Irina Wolf: Wie wurde das Festival von den örtlichen Zuschauern aufgenommen? Hat die Pandemiekrise die Art und Weise verändert, wie Menschen ins Theater gehen?

Cîntec: Live-Veranstaltungen wurden gut besucht. Eigentlich war das Live ausverkauft, aber das bedeutet fünfzig Prozent der Saalkapazität (200 Sitzplätze im großen Saal, 70 im kleinen). Viele Menschen hatten Lust auf Theater. Zur Aufführung der PasParTouT-Gruppe wären gerne mehr Leute gekommen. Es ist nicht die Angst vor einer Ansteckung, die Theaterliebhaber vertreibt, sondern die mangelnde Vorhersehbarkeit. Man plant das Wochenende, man kauft sich eine Theaterkarte, aber dann kündigen die Behörden von heute auf morgen die Schließung der Theater an. So hat sich das Leben verkompliziert, denn nun muss man den Wert der Theaterkarte retourniert bekommen oder auf eine Neuplanung warten, ohne die Gewissheit zu haben, ob man zum neuen Vorstellungsdatum verfügbar sein wird. All das erzeugt noch mehr Chaos in Pandemiezeiten.

Nach der Zulassung eines Impfstoffes werden wir genug Arbeit leisten müssen, um die Zuschauer zurück ins Theater zu bringen. Neue künstlerische Vorschläge werden gefragt sein, aber auch Ideen, um die Zuschauer zu verführen. Das treue Publikum wird leichter zurückkehren, der Rest wird schwerer zu überzeugen sein. Für diejenigen, die nie einen Theatersaal betreten haben, kann die Aufrechterhaltung des Online-Streamingangebotes Erfolge zeigen.

Irina Wolf: Die Online-Komponente, die während des Lockdowns notwendig war, ist in vielen Ländern nicht mehr relevant. In Rumänien greifen sowohl Regisseure als auch Theaterdirektoren noch immer darauf zurück. Wie vorteilhaft wirkt sich diese Haltung auf die Theaterszene aus?

Cîntec: Die Unsicherheit und die Unmöglichkeit, eindeutige Vorhersagen zu treffen, machen Online weiterhin nötig. In vielen Ländern Westeuropas hat man eine längere Anlaufzeit von den Entscheidungen der Behörden bis zu deren Umsetzung, um vorausschauend planen zu können. In Rumänien wird heute entschieden, morgen schon tritt die Entscheidung in Kraft. Wenn das Publikum den Theatersaal nicht mehr betreten darf und Aufführungen im Freien keine Option mehr sind, bleibt nur der Online-Bereich. Etwas hat sich doch zum Guten gewendet: Die Künstler sind nun besser darauf vorbereitet, Produktionen speziell für das digitale Medium oder zumindest gemischte Versionen (sowohl bezüglich Online als auch Live-Indoor, wenn die Theater wieder öffnen dürfen) zu produzieren.

Irina Wolf: Online-Veranstaltungen haben den Vorteil, weltweit zugänglich zu sein. Dies ist nicht der Fall für diejenigen, die im Pay-per-view-System gezeigt werden. Solche Inszenierungen sind eher für ein nationales Publikum bestimmt. Hat dieses System Erfolg beim rumänischen Publikum?

Cîntec: Manchmal mehr, manchmal weniger. Das hängt von der Zuschauerkategorie ab, an die es gerichtet ist, und der Art und Weise, wie die Inszenierungen gemacht sind. Sie haben meistens eine kürzere Dauer, sind dynamischer. Es ist eine andere Art, Theater zu machen als für die traditionelle Szene. Ich glaube, dass dieses System von jungen Zuschauern mehr geschätzt wird als von den Erwachsenen und Senioren.

Irina Wolf: Die Theater in Iaşi wurden im September für kurze Zeit geöffnet und am 7. Oktober wieder geschlossen. Wie sieht die Zukunft des "Luceafărul" Kinder- und Jugendtheaters aus, dessen künstlerische Leiterin Sie sind?

Cîntec: Die einzige Möglichkeit besteht darin, flexibel zu bleiben und sich weiter anzupassen. Dies erfordert zusätzliche Energie- und Kreativitätsressourcen, zumal das Budget für künstlerische Aktivitäten auf null gesetzt ist. Wir setzen aber unsere Mission fort und versuchen, die fehlenden finanziellen Mittel durch Erfindungsreichtum auszugleichen.


(***) A.d.Ü.: Es handelt sich hierbei um ein Wortspiel des
rumänischen Ausdrucks "Teatrul în cas(c)ă", das
auch "Theater im Haus" bedeuten kann.

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