"Im
Vergleich zum restlichen Europa sind in Rumänien die Theatersäle voll
besetzt – so auch jetzt. Und das an einem Sonntag um 11 Uhr vormittags! Das
überrascht mich immer wieder", stellt Rodrigo Garcia erfreut fest. Er sollte
es wissen, immerhin ist der argentinische Autor und Theaterregisseur seit
drei Jahren Direktor des Centre Dramatique National de Montpellier.
Tatsächlich ist im prächtig angelegten Konferenzraum des Nationaltheaters
kein Platz mehr frei. Mit einem Dialog mit Rodrigo Garcia beginnt der letzte
Tag der
International Meetings in Cluj. Moderator ist Mihai Măniuţiu,
Regisseur, Autor und Essayist, Leiter des Nationaltheaters im
siebenbürgischen Klausenburg und zugleich Intendant des Festivals.
Konzipiert als
ein Zusammenkommen von Künstlern aus aller Welt, legen die Festspiele großen
Wert auf Vernetzung und Zwischenmenschlichkeit. Sieben Tage lang werden
hauptsächlich Produktionen des Klausenburger Nationaltheaters gezeigt. Waren
die früheren Ausgaben der Konfrontation zwischen West- und Osteuropa oder
etwa der Persönlichkeit von George Banu – gerade wegen seiner Verwirklichung
der Ost-West-Verbindung – gewidmet, stand in der diesjährigen sechsten
Auflage die "Suche nach dem Autor" im Fokus. "Autoren dramatischer Werke
sollen inspirierende und innovative Experimente ermöglichen und viele
Zuschauer in die Säle des Nationaltheaters bringen", sagt der Intendant in
einem Interview.
So
sind zu den heurigen Meetings, die vom 3. bis 9. Oktober
stattgefunden haben, neben Rodrigo Garcia auch der amerikanische
Universitätsprofessor, Theaterdirektor, Dramatiker und Kritiker Robert Cohen
und der französisch-rumänische Dramatiker Matei Visniec eingeladen worden.
Zwei von Cohens Stücken, Bzzap! und Die Möbiusschleife, zwei
Werke von Garcia, Agamemnon und Tod und Wiedergeburt als Cowboy,
sowie Richard der Dritte wird nicht mehr gezeigt oder Szenen aus
Meyerholds Leben von Matei Visniec standen auf dem Festivalprogramm.
Dabei zeichneten zwei Regisseure für alle fünf Inszenierungen
verantwortlich.
Überraschenderweise hat sich der junge Andrei Măjeri
(geb. 1990) für beide Garcia-Stücke entschieden, in der der Autor auf seine
radikale Art und Weise mit der Konsumgesellschaft abrechnet. Obwohl es sich
um zwei ältere Werke des Dramatikers handelt, sind beide heute noch
brandaktuell. Bekannt für seine performance-artigen und extremen
Inszenierungen, musste sich Garcia in Klausenburg mit konventionellen
Bühnenumsetzungen begnügen. Jedoch wirkten Măjeris
im Studiosaal Euphorion gezeigten Inszenierungen frisch, mitreißend und
waren sehr gut durchdacht, was dem Regisseur auch das Lob des Autors
einbrachte.
Geschichten des Grauens
Răzvan
Muresan heißt der Spielleiter, der sich der Stücke von Cohen und Visniec
angenommen hat. Mit Richard der Dritte wird nicht mehr gezeigt oder
Szenen aus Meyerholds Leben ist ihm ein großer Wurf gelungen. Im Studio
Art Club, dem kleinsten Saal des Nationaltheaters, sind alle Plätze besetzt.
Rund 40 Zuschauer (auch ich) sitzen mit dem Rücken zur Wand und versuchen
festzustellen, woher eine Stimme kommt, als sich der Sessel unter mir
seltsam zu bewegen beginnt. Aus seinem mit Leintuch getarnten Versteck
bemüht sich Richard III. hervorzukriechen. Trotz Helm und purpurrotem Umhang
wirkt die Figur ängstlich, fast wie eine Karikatur. Denn in Visniecs Stück
sind der Diktator Josef Stalin und sein totalitäres Regime die Verkörperung
des Bösen schlechthin. Die Handlung dreht sich um Wsewolod Meyerhold, einen
der bedeutendsten Theaterregisseure des 20. Jahrhunderts, der 1939 als Spion
verhaftet und schwersten Folterungen unterworfen wurde. Ein Jahr später
wurde er in Moskau hingerichtet.
Muresans
Inszenierung bleibt der Vision des Autors – der sich
unter den Zuschauern befindet – treu. Ziel des
Regisseurs ist es, das Potenzial des Raumes optimal auszunützen, denn durch
die unmittelbare Nähe der Schauspieler bekommen wir den Terror voll zu
spüren. Des Öfteren muss ich die ausgestreckten Beine in Eile zurückziehen,
vor allem dann, wenn die als Ratten dargestellte Zensurkommission mehrere
Tische auf Rollen hin- und herbewegt. In einer Tischlade befindet sich dann
auch der Kopf von Richard III., der als Hauptspeise serviert wird. Mit
einfachen Mitteln gelingt es Muresan, eine Atmosphäre des Grauens zu
schaffen – ein eindrucksvolles Erlebnis.
Indessen
spielt sich auf der Hauptbühne des Nationaltheaters die Geschichte Polens
ab, hin- und hergeworfen zwischen Sowjet- und Naziherrschaft, zwischen
Katholizismus und Judentum. Unter dem scheinbar harmlosen Titel Unsere
Klasse skizziert Tadeusz Słobodzianek schonungslos die Vielfalt des
menschlichen Verhaltens in Extremsituationen. Basierend auf einem reellen
Massaker, erzählt Unsere Klasse polnische Biografien von zehn
Menschen, die ihre Schulzeit miteinander beginnen und die sich im Lauf der
Geschichte des 20. Jahrhunderts gegenseitig verraten, foltern,
vergewaltigen, töten, aber auch verlieben, verstecken und beschützen.
Regisseur Bocsárdi László schafft eine originelle Inszenierung in Form eines
oratorischen Gedichtes, bei dem Boros Csaba als Komponist und Chordirigent
zugleich mitwirkt. Dabei entpuppen sich sieben Schauspieler und drei
Schauspielerinnen des Nationaltheaters als hervorragende Sänger. Nicht
umsonst wurde Unsere Klasse 2016 mit dem hochbegehrten Uniter-Preis
der rumänischen Theaterbranche als "Beste Produktion" ausgezeichnet.
Tanztheater- und Kollektivkreationen
Schon
nach dem Fall des Kommunismus 1989 ging es Regisseur Mihai Măniuţiu darum,
den Performance-Raum neu zu erfinden und mit jeder Produktion neue
Perspektiven für das Publikum zu entwickeln. Gleichzeitig war er einer von
wenigen, die sich nach dem Ende der Ceausescu-Diktatur mit der Vergangenheit
auseinanderzusetzen versuchten. Dabei verlagerte Măniuţiu das Gewicht vom
Text auf das Visuelle und stellte die Körpersprache in den Vordergrund,
indem er mit begabten rumänischen Choreografinnen zusammenarbeitete. So
inkludierte das Festivalprogramm auch zwei seiner letzten
Tanz-Theater-Produktionen: Zu Befehl, mein Führer!, nach einem
Monodrama der österreichischen Schriftstellerin Brigitte Schwaiger, ein
Gastspiel aus der benachbarten Ortschaft Turda, bei der neben der
Hauptdarstellerin Maia Morgenstern zwanzig Schauspiel-Studenten teilgenommen
haben, und Drei Stunden nach Mitternacht, eine Show aus Târgoviste,
bei der der Regisseur auch für den Text verantwortlich zeichnet.
Als Hommage an
100 Jahre Dadaismus, zu dessen Gründungsteam auch der Rumäne Tristan Tzara
gehörte, umfasste das Programm zwei Vorstellungen, eine davon eine
Kollektivproduktion. Unter dem Titel Kollektivkreationen. The Plural
Author wurde an einem Vormittag eine Konferenz organisiert, an der unter
anderem die jungen Künstlerinnen Alexa Băcanu und Leta Popescu teilnahmen.
Sie zeichneten für das Konzept der Kollektivproduktion Call it Art!,
die mit theatralischen Mitteln die Problematik der zeitgenössischen Kunst
bespricht, verantwortlich. Es ist eine interaktive Performance, bei der das
Publikum von Anfang an in das Geschehen miteinbezogen wird. Ironisch und
humorvoll zugleich mischt Regisseurin Leta Popescu verschiedene Techniken
und Stile, indem sie mit Vorträgen, simulierten Fernsehsendungen und
Künstlerinterviews oder Versteigerungen von sonderbaren Gegenständen
arbeitet. Letztendlich wird die Suche nach der Antwort auf die Frage "Was
bedeutet Kunst heutzutage?" jedem Zuschauer selbst überlassen.
Eine
Vielzahl von Themen und künstlerischen Ansätzen wurde somit abgedeckt, die
die Kreativität und Qualität der Klausenburger Künstlergruppe widerspiegeln.
Im Allgemeinen verfolgt Măniuţiu
die internationale Positionierung des von ihm geleiteten Theaters. Neben dem
Unterhaltungs- und Networking-Programm der besonderen Art sind die
Internationalen Treffen von einer familiären Atmosphäre geprägt, nicht
zuletzt, weil die Möglichkeit geboten wird, den Abend im Foyer des
prächtigen Baus des berühmten Architektenduos Fellner & Helmer bei einem
Glas Wein oder traditionellem Schnaps und einem außerordentlich guten
mehrgängigen Menü ausklingen zu lassen.