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Sinnstiftung und Entfremdung der Generationen

Fünfzehn Personen auf der Bühne, eine Aufführungsdauer von drei Stunden,
eine Live-Kamera, eine Spannung erzeugende Hintergrundmusik (Călin Ţopa) und ein
ausgefeiltes Bühnenbild (Cosmin Florea): In der Inszenierung Exil von Alexandra Badea im
Nationaltheater Bukarest wird nicht gekleckert, sondern anständig geklotzt. Die in
Rumänien geborene Theater- und Filmregisseurin hat sich in den letzten zwanzig
Jahren in Frankreich als eine der interessantesten Stimmen der
jungen Dramatik etabliert.

Von Irina Wolf
(11. 02. 2023)

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Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.


 


(c) Adi Bulbuoaca
 


(c) Adi Bulbuoaca
 


(c) Florin Ghioca
 


(c) Florin Ghioca

"Exile"
(Regie: Alexandra Badea)

   Die von Alexandra Badea in französischer Sprache verfassten Stücke wurden in mehrere Sprachen übersetzt und in Europa sowie in Brasilien, Argentinien, Kanada, den USA und Taiwan aufgeführt. Ihr Stück Zersplittert wurde 2013 mit dem "Grand Prix de Littérature Dramatique" ausgezeichnet und am Théâtre National de Strasbourg uraufgeführt. 2015 zum Stückemarkt des Berliner Theatertreffens eingeladen, erlebte es im selben Jahr die deutschsprachige Erstaufführung am Schauspielhaus Graz. 2016 wurde ihr vom französischen Kulturministerium der Titel "Chevalier des Arts et des Lettres" verliehen.

Exil ist aufs Ensemble des Nationaltheaters Bukarest zugeschnitten. Die Figur der Protagonistin Emma, die einen Dokumentarfilm über ihre Familie dreht, um ihre Identität besser zu verstehen, weist starke autobiografische Züge auf. Um sie herum hat die Autorin eine spannende Familiensaga erschaffen, die sich über 80 Jahre und vier Generationen erstreckt. Im Wesentlichen geht es um vier Frauen, die erfolglos darum kämpfen, an unterschiedlichen Orten "Wurzeln zu schlagen". Hinter diesem kontinuierlichen Versuch, sich von der Vergangenheit zu lösen, scheint ein großes Trauma zu stehen, das die Urgroßmutter erlebte und geschickt verbarg: Als Jüdin hatte sie während des Zweiten Weltkriegs ihren Namen geändert, um der Abschiebung zu entgehen. Die Angst eines Lebens unter falscher Identität wird von Generation zu Generation unbewusst weitergegeben. Es ist ein Teufelskreis, der erst durchbrochen wird, nachdem die Urgroßmutter die Wahrheit enthüllt.

   Badea schafft starke Charaktere, die sich ihren Ängsten stellen und in schwierigen Situationen bewähren. Obwohl die Perspektive mehrheitlich weiblich wahrgenommen wird, sind die männlichen Figuren gleichermaßen gut definiert. Auf der einen Seite ist Exil eine Geschichte über (psychische) Machtverhältnisse und Dominanz, auf der anderen über den Versuch, sich daraus zu befreien. Der Titel verweist auf eine Art inneres Exil, aus dem die Figuren zu fliehen versuchen. Ferner wird die Hassliebe der Charaktere zu ihrem Mutterland (Rumänien) und dem Adoptionsland (Frankreich) untersucht. Darüber hinaus werden Topthemen aufgegriffen, wie das in Rumänien noch nicht aufgearbeitete kollektive Holocaust-Trauma oder der Klassenkonflikt zur Zeit des Kommunismus. Damals waren reiche Familien gezwungen, ihr Haus mit anderen zu teilen, was den Glauben eines Gewinners und eines Verlierers bekräftigte. Eine Denkweise, die bis heute anhält.

Die vielen Zeitsprünge lassen die Erzählung fragmentarisch und dadurch am Anfang wenig nachvollziehbar wirken. Doch versteht es die Regisseurin, Emotionen, Spannungsmomente und sehr schöne Bilder zu erzeugen. Gelungen ist ihr eine Montage von Haltungen und Handlungen, die äußerst kunstvoll mittels Überblendungen zwischen den Figuren und Zeiten springt. In einem Filmtheater, das teilweise auf einer Leinwand stattfindet, voll mit nüchternen, erschreckenden Fakten und emotional berührenden Situationen. Es braucht zwei Schauspieler, um denselben Charakter in verschiedenen Altersstufen zu spielen. So stehen diese manchmal Seite an Seite auf der Bühne und der ältere betrachtet sein Ebenbild aus der Jugend.

   Der von Emma gedrehte Dokumentarfilm ist ein guter Vorwand für viele Szenen, die in Echtzeit gefilmt und auf einer Leinwand über der Bühne abgespielt werden. Das entpuppt sich im riesigen Saal des Nationaltheaters Bukarest als besonders vorteilhaft, wo sonst die Gesichter der Schauspieler nur für die Zuschauer in den ersten Reihen deutlich zu sehen sind. Mit einer Kapazität von 940 Plätzen ist der Große Saal im italienischen Stil (einer der sieben Säle des Gebäudes!) einer der größten Rumäniens und gleichzeitig einer der technisch bestausgestatteten Europas. Die Videoeinschübe, live oder aufgezeichnet, bewähren sich als gute Form, um Perspektiven zu diversifizieren und persönliche Wahrheiten darzustellen. Schon zu Beginn führt Emma Interviews mit einigen Zuschauern im Theaterfoyer und -saal, die auf die große Leinwand projiziert werden. Die Fragen behandeln hauptsächlich Rumänien als Auswanderungsland – ähnlich wie die während der Proben aufgezeichneten Gespräche zwischen den Schauspielern. Darüber hinaus sind die dramatischen Episoden selbst detailreich und mit viel Feingefühl ausgearbeitet. So mischt etwa die Regisseurin psychologische Elemente mit performativen Einlagen: Während in Echtzeit auf der Leinwand ein Gesicht zu sehen ist, entfaltet sich auf der Bühne eine andere Szene.

Das ausgeklügelte Regiekonzept geht auf, weil sich das Ensemble auf seine Gratwanderung zwischen den Wirklichkeitsebenen einlässt. Ein tolles Stück, das trotz ein paar Längen und fehlender Selbstironie überzeugt und mit authentischen Charakteren aufwartet. Scharf geht die Autorin mit der rumänischen Gesellschaft ins Gericht, die es nicht schafft, schmerzhafte Prägungen und Familienmuster zu durchbrechen. Letztendlich ist Exil eine Produktion über Rumänien und die Identitätssuche seiner Bürger im europäischen Kontext. Kein Wunder, dass jede Vorstellung seit der Premiere Mitte September 2022 restlos ausverkauft ist.

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