Er
murmelt, grummelt und stampft durch die Gegend. Manchmal gibt er
furchterregende Töne von sich, kann jedoch rasch durch Streicheln oder
Küsschen gebändigt werden. Er frisst alles, was ihm zwischen die Zähne
kommt, von Tannenzapfen bis zur Plastikflasche. Und kaum hat er einen
Schluck getrunken, rülpst er laut. Onil der Drache und seine Dompteurin Oni
vom Theater Oniversum in Freiburg sorgten beim Internationalen
Theaterfestival für junges Publikum in Iaşi (FITPTI) für Staunen und
Gelächter. Ob im Park oder im Einkaufszentrum, das grün-orange Ungeheuer und
seine rotgekleidete Bändigerin lockten Scharen von Zuschauern an. Kinder und
Erwachsene zugleich ließen sich gern zum Füttern animieren. Irgendwann
mussten diese auch ganz fest die Daumen drücken, damit Onil ein Ei legen
konnte. Doch der Versuch schlug fehl, wenn nur ein einziger Beteiligter sich
zu schummeln traute.
Konfrontation,
Krise, Krieg
Mit
solch genial-verschrobenen Kunststücken lud die 15. Auflage des Festivals
vom 1. bis 9. Oktober in der im Nordosten Rumäniens gelegenen Stadt
Iaşi
zur Zusammenkunft ein. Unter dem Motto "Konflikt-Konfrontation" startete
Kuratorin Oltiţa Cîntec ein "Abenteuer der Rezeption unterschiedlichster
Kunstformen". Das vielfältige Programm umfasste Schauspiel- und
Straßentheater, Tanz, Performances, Clown-Shows, Virtual-Reality- und
Radiotheater, Shows auf TikTok, Konzerte, Filme und Installationen. Ein
dichtes Rahmenprogramm von Ausstellungen und Workshops, Konferenzen und
Buchpräsentationen bis hin zu Debatten rundeten das abwechslungsreiche
Angebot ab. "Das Motto hat sich gewissermaßen aufgedrängt", sagt Cîntec,
Theaterkritikerin und künstlerische Leiterin des gastgebenden Kinder- und
Jugendtheaters "Luceafărul". Denn die Pandemie sowie die Klima- und
Energiekrise, vor allem aber der Krieg in der Ukraine "haben unsere Gedanken
eindringlicher auf 'Schlachten', die wir täglich schlagen müssen, gelenkt."
Kein Wunder also, dass
sich im Programm Titel wie Maidan Inferno, oder Die andere Seite der
Hölle von der ukrainischen Autorin Neda Nejdana – eine Koproduktion
zwischen dem Akademischen Schauspiel- und Komödientheater aus Dnipro
(Ukraine) und der Gruppe Collapse aus Lyon (Frankreich) – oder Die
Rückkehr nach Hause von Matei Vişniec wiederfinden. Das vor über zwei
Jahrzehnten publizierte Stück des in Frankreich lebenden rumänischen
Dramatikers behandelt auf symbolische Weise ein äußerst aktuelles Thema: die
Rückkehr der Toten vom Schlachtfeld in die Heimat. Regisseur Botond Nagy
arbeitete mit einem Team von sieben sehr jungen Schauspielern des 2016 in
Suceava gegründeten Stadttheaters "Matei Vişniec" zusammen. Es entstand eine
intensive, moderne Inszenierung, die durch Russlands Krieg in der Ukraine an
künstlerischer Bedeutung gewinnt. Ohne den Originaltext zu verändern, setzt
der Theatermacher mit viel Fingerspitzengefühl besondere Akzente. Die
Inszenierung wechselt ständig zwischen grotesk-komischen und
tragisch-realistischen Szenen, und unterstreicht somit die Intensität des
Themas: Ein General organisiert seine Truppen, bestehend aus toten Soldaten
für die Rückkehr in die Heimat. Keiner hat diesen anonymen Krieg gewonnen,
keiner hat ihn verloren. Die Ausgezeichneten bestehen darauf, die Ersten zu
sein, die an den Sieg Glaubenden wollen ihren Optimismus gewürdigt wissen,
die Verräter fühlen sich den Deserteuren überlegen usw. Das vielsagende
Bühnenbild stellt ein Grab vor. Von hoch oben (darüber heraus) wirft der
Gehilfe des Generals Schaufeln voll Erde auf die streitenden Toten in der
Grube. Diese akribisch gestaltete Atmosphäre erzeugt einen andauernden
Zustand zwischen Sein und Nichtsein.
Roma-Theater
und musikalische Adaptionen literarischer Klassiker
Neben
solch globalen Konfrontationen wurden auf der Bühne auch persönliche
Konflikte ausgetragen. Das beste Kind der Welt heißt die
autobiografische One-Woman-Show der Roma-Künstlerin Alina
Şerban.
Erzählt wird darin die Geschichte eines Roma-Mädchens, dessen Jugend von
Armut geprägt ist und das trotzdem die Kraft findet, sich dem Schicksal zu
widersetzen. Geleitet vom Versprechen ihrer Mutter, "das beste Kind der
Welt" zu sein, erobert die junge Frau die Welt und verfolgt ihren Traum, an
den besten Schulen zu studieren. In dem Stück geht es um die Kraft, das
Unmögliche zu erreichen, um mit der Vergangenheit und der eigenen Identität
Frieden zu schließen und die mit den Roma verbundenen Stereotypen durch
Menschlichkeit und Einfühlungsvermögen zu dekonstruieren. Mit Das beste
Kind der Welt, ein Projekt, das Alina
Şerban
am Nationaltheater "I.L. Caragiale" in Bukarest – der wichtigsten Bühne des
Landes – entwickeln durfte, möchte die Künstlerin Brücken bauen: "Mein Ziel
war es immer, mir selbst und anderen Heilung zu bieten und wenn möglich
durch meine Kunst eine Veränderung zum Besseren zu bewirken."
Der verlorene Brief im
Konzert, eine musikalische
Adaption von Ada Milea des gleichnamigen Lustspiels von Ion Luca Caragiale,
stellt mit Sicherheit einen der Höhepunkte des Festivals dar. Anlässlich des
Jubiläumsjahrs des berühmtesten rumänischen Dramatikers – gefeiert wird in
diesem Jahr der 170. Geburtstag – analysiert die Produktion des
Nationaltheaters "Lucian Blaga" aus Klausenburg mit viel schwarzem Humor und
den mittlerweile bekannten ironisch-persiflierten Liedern der gefragtesten
Theatermusikerin des Landes die klassischen Charaktere der rumänischen
politischen Klasse, die so aktuell sind wie eh und je. Die ewigen
Parteiinteressen, die immerwährende Korruption, der hohle Patriotismus, die
Naivität der Wähler bilden ein außergewöhnlich komisches Panorama einer
Gesellschaft, die seit dem 19. Jahrhundert fortbesteht.
497 Paar
Opanken und der Koffer mit dem grünen Herz
Zu
den absoluten Neuheiten zählten eine für Menschen mit Behinderungen
zugänglich gemachte Show (Schließe die Augen und du wirst besser sehen
vom Persönlichkeitsentwicklungsverein "Grigore Popa" aus Bukarest) sowie
eine den Universitäten gewidmete Sektion, in der Theateruniversitäten aus
Iaşi, Temeswar und Chişinău (Republik Moldau) ihre Projekte vorstellen
durften. Auch das Gasttheater begeisterte das Publikum mit seinen
Eigenproduktionen, unter anderem mit der Premiere Der selbstsüchtige
Riese nach Oscar Wilde und Clown-Station, eine clowneske
Darbietung, die am Edinburgh Fringe Festival 2022 gezeigt wurde.
Tanzliebhaber kamen
ebenfalls nicht zu kurz. Ein unvergessliches Erlebnis war 497, eine
Koproduktion des Ensembles "Tabán Táncegyüttes" Békéscsaba (Ungarn) und der
Theatergruppe "Aradi Kamaraszínház" Arad (Rumänien). Der Legende zufolge
nahmen vier Musiker und Tänzer aus Buzău am vom Touring Club de France ins
Leben gerufenen Weltwanderwettbewerb teil. Die Reisenden tanzten rumänische
Volkstänze, spielten Musikinstrumente, trugen rumänische Trachten und
benutzten 497 Paar Opanken. Die 1910 begonnene Reise dauerte mehr als zehn
Jahre. Notizen, Skizzen und Tagebuchauszüge wurden verwendet, um einen
Einblick in diese herausfordernde Weltreise zu gewinnen. Die tanzenden
Wanderer gerieten in Gefangenschaft, nahmen an einem Präsidentenempfang
teil, hatten einen Unfall, vergnügten sich aber auch im Palast eines
indischen Maharadschas. All diese Erlebnisse werden von vier barfüßigen
Tänzern mit großer Präzision dargeboten. Dabei spielen Farben (buchstäblich)
eine bedeutende Rolle.
Zu
meinen persönlichen Highlights zählt SeedHeart (ein Herz säen), die
neueste Show des Indigo Moon Theaters aus Großbritannien. Erzählt wird die
Geschichte des zerstörenden Einflusses des Menschen auf seine Umwelt.
Gleichzeitig wird hinterfragt, was wir tun können, um unseren einst grünen
Planeten wiederherzustellen. Die Reise beginnt, als die menschenähnliche
Puppe namens Grau in einem Glas gefangen ist. Puppenspielerin Anna Ingleby
schafft es, mit viel Gefühl und Leichtigkeit eine breite Palette an
Emotionen zu wecken. Die Geschichte entfaltet sich (buchstäblich) aus einem
einzigen Koffer und folgt Graus Reise in eine bessere Zukunft mit magischen
Pop-ups, Schattenspiel und interaktiven Szenen. Musik, Theater und
Komposition verschmelzen zu einem Spiel mit Rollenbildern: feinsinnig,
nachdenklich und humorvoll wie ein farbiger Traum.
Fazit:
Mit offenen Herzen und neugierigen Blicken wurden die zahlreichen
auswärtigen Theatergäste aus 17 Ländern, unter anderem aus Mexiko, Italien,
Ägypten, Spanien, Belgien, aber auch die heimischen, diesmal ganz speziell
die Gruppen der rumänischen Freien Szene wie das Basca- und das
Auăleu-Theater (beide aus Temeswar), das "Kreations- und Experimentreaktor"
aus Klausenburg oder das "Replika-Zentrum für Bildungstheater" aus Bukarest
empfangen. Immer auf der Suche nach neuen Aufführungsorten wurden diesmal an
die 20 Spielstätten bespielt. Volle Theatersäle und strahlende Kinderaugen,
ausverkaufte Veranstaltungen und tosender Applaus. Die diesjährige Ausgabe
des Internationalen Theaterfestivals für junges Publikum in Iaşi erfreute
sich einer überwältigenden Resonanz.