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Hinter den Kulissen lauert die Angst

Franz Kafkas Erzählung Der Bau wurde im Winter 1923 geschrieben, als der Autor
bereits an fortgeschrittener Lungentuberkulose litt. Elena Bakirovas Inszenierung entpuppt
sich als eine relevante Gefühlserkundung nach der pandemiebedingten sozialen Isolation.
Die Virtual-Reality-Produktion des Schauspielhauses Graz überzeugt durch
Tempo, starke Bilder und eine grandiose schauspielerische Leistung.

Von Irina Wolf
(26. 08. 2021)

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Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.



(c) Johanna Lamprecht



(c) Johanna Lamprecht



(c) Johanna Lamprecht

"Der Bau"
(Regie: Elena Bakirova)

 

   Es ist groß. Es ist ein großes Wesen, das allein in einem weitläufigen Bau unter der Erde lebt und sich vor jeglichen Gefahren, die von der Außenwelt zu drohen scheinen, schützen will. Zu diesem Zweck hat es etliche Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Kontrollrituale tun ihr Übriges, das exzessive Bedürfnis des Wesens nach Sicherheit zu befriedigen. Doch alles ist vergebens. Das Geschöpf hat kein Vertrauen in seine Maßnahmen, wittert hinter jeder Unregelmäßigkeit des Alltags einen potenziellen Angriff und spielt auch in Gedanken mehrere (un)mögliche Gefährdungen durch. Irgendwann vernimmt es ein Geräusch, ein Zischen, dessen Herkunft es sich nicht erklären kann. Und so verfällt es in Paranoia.

Davon handelt Kafkas letzter Text. Die Erzählung Der Bau wurde im Winter 1923 geschrieben, als der Autor bereits an fortgeschrittener Lungentuberkulose litt. Als virtuelle Vorstellung mittels VR-Brille brachte das Schauspielhaus Graz die Inszenierung dieses Werks dem Zuschauer ins eigene Heim. Nach "Judas", einem Monolog von Lot Vekemans, gefilmt in einer Kirche, und "Krasnojarsk", eine düstere Endzeitversion von Johan Harstad, gedreht unter anderem am Neusiedler See im Burgenland, konnten die Zuseher in das Grazer Theatergebäude eintauchen.

   Die als Kafka-Spezialistin geltende, in St. Petersburg geborene Regisseurin Elena Bakirova, hat sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Sie lädt auf eine Reise durch etliche Räumlichkeiten des Theaters ein. Im Stiegenhaus, auf der Lichtbrücke und in der Unterbühne, im Requisiten- und im Kühlraum sowie auf der Bühne selbst (dem sogenannten "Burgplatz" aus Kafkas Erzählung) – überall kann man, ausgestattet mit der vom Schauspielhaus gelieferten VR-Brille und einem Controller sowie einem persönlichen Kopfhörer-Set, bequem vom eigenen Drehsessel in die Kulissen der Theaterwelt hineinschnuppern. Umwerfend ist die Aussicht von weit oberhalb der Bühne, fantastisch der Blick unter die Drehbühne (Bildgestaltung/Schnitt: Markus Zizenbacher). Ein sagenhaftes Erlebnis! "Das Theatergebäude an sich ist wie Kafkas Topografie – alle Wege führen zur Bühne und alle Räume sind miteinander verknüpft", begründet Bakirova ihre Wahl. Mit viel Liebe zum Detail sind die Zimmer ausgestattet. Ein Regenschirm, ein Schlitten, mehrere Lampen und leere Bilderrahmen, Schlittschuhe, ein Bär, ein Videoprojektor, diverse Masken – und noch so vieles mehr hat das Wesen in seinem Bau angehäuft.

Auf die Reise durch die labyrinthischen Gänge führt der Schauspieler Florian Köhler. Unermüdlich bewegt er sich von einem Raum in den anderen, rollend, kriechend, springend, manchmal laufend, ein anderes Mal behutsam, prüfend, misstrauisch. Sein Blick verrät aber noch mehr. Eindrucksvoll schafft es Köhler, in nur vierzig Minuten eine Palette von Gefühlszuständen glaubwürdig zu vermitteln. "Das Schönste an meinem Bau ist seine Stille", sagt er zu Beginn. Scheint er sich am Anfang sicher, ja sogar glücklich zu fühlen, rastet er mit der Zeit aus. Auf einem alten Kassettenrekorder nimmt er Geräusche auf. Ab und zu schlägt er auf die Rohre, um das Zischen, das er vermeint zu vernehmen, zu lokalisieren.

   Gelegentlich bleibt er stehen und schaut direkt in die Kamera. Einmal streckt er sogar die Hand aus nach dem "unsichtbaren Feind", vor dessen Einbruch er solche Angst hat. Als Zuschauender bekommt man ein mulmiges Gefühl, dann steckt man noch mehr mitten im Geschehen. Nach und nach verliert der Protagonist den Verstand: Auf einem Fahrrad fährt er wild auf der Unterbühne im Kreis. Dabei wird das Tempo durch die sich in die Gegenrichtung bewegende Drehbühne verstärkt – nur etwas für Schwindelfreie, wobei man im Notfall die VR-Brille kurzfristig entfernen kann. Und irgendwann nimmt die Paranoia ihren Lauf: Umgeben von Kinderspielsachen erzeugt der Protagonist einen betäubenden Lärm. Währenddessen putzt er sich die Zähne mit zwei Zahnbürsten gleichzeitig.

Elena Bakirovas Inszenierung entpuppt sich als eine relevante Gefühlserkundung nach der pandemiebedingten sozialen Isolation. Die Virtual-Reality-Produktion des Schauspielhauses Graz überzeugt durch Tempo, starke Bilder und eine grandiose schauspielerische Leistung.

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