Es
ist groß. Es ist ein großes Wesen, das allein in einem weitläufigen Bau
unter der Erde lebt und sich vor jeglichen Gefahren, die von der Außenwelt
zu drohen scheinen, schützen will. Zu diesem Zweck hat es etliche
Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Kontrollrituale tun ihr Übriges, das exzessive
Bedürfnis des Wesens nach Sicherheit zu befriedigen. Doch alles ist
vergebens. Das Geschöpf hat kein Vertrauen in seine Maßnahmen, wittert
hinter jeder Unregelmäßigkeit des Alltags einen potenziellen Angriff und
spielt auch in Gedanken mehrere (un)mögliche Gefährdungen durch. Irgendwann
vernimmt es ein Geräusch, ein Zischen, dessen Herkunft es sich nicht
erklären kann. Und so verfällt es in Paranoia.
Davon handelt Kafkas
letzter Text. Die Erzählung Der Bau wurde im Winter 1923 geschrieben,
als der Autor bereits an fortgeschrittener Lungentuberkulose litt. Als
virtuelle Vorstellung mittels VR-Brille brachte das Schauspielhaus Graz die
Inszenierung dieses Werks dem Zuschauer ins eigene Heim. Nach "Judas", einem
Monolog von Lot Vekemans, gefilmt in einer Kirche, und "Krasnojarsk", eine
düstere Endzeitversion von Johan Harstad, gedreht unter anderem am
Neusiedler See im Burgenland, konnten die Zuseher in das Grazer
Theatergebäude eintauchen.
Die
als Kafka-Spezialistin geltende, in St. Petersburg geborene Regisseurin
Elena Bakirova, hat sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Sie lädt
auf eine Reise durch etliche Räumlichkeiten des Theaters ein. Im
Stiegenhaus, auf der Lichtbrücke und in der Unterbühne, im Requisiten- und
im Kühlraum sowie auf der Bühne selbst (dem sogenannten "Burgplatz" aus
Kafkas Erzählung) – überall kann man, ausgestattet mit der vom
Schauspielhaus gelieferten VR-Brille und einem Controller sowie einem
persönlichen Kopfhörer-Set, bequem vom eigenen Drehsessel in die Kulissen
der Theaterwelt hineinschnuppern. Umwerfend ist die Aussicht von weit
oberhalb der Bühne, fantastisch der Blick unter die Drehbühne
(Bildgestaltung/Schnitt: Markus Zizenbacher). Ein sagenhaftes Erlebnis! "Das
Theatergebäude an sich ist wie Kafkas Topografie – alle Wege führen zur
Bühne und alle Räume sind miteinander verknüpft", begründet Bakirova ihre
Wahl. Mit viel Liebe zum Detail sind die Zimmer ausgestattet. Ein
Regenschirm, ein Schlitten, mehrere Lampen und leere Bilderrahmen,
Schlittschuhe, ein Bär, ein Videoprojektor, diverse Masken – und noch so
vieles mehr hat das Wesen in seinem Bau angehäuft.
Auf die Reise durch die
labyrinthischen Gänge führt der Schauspieler Florian Köhler. Unermüdlich
bewegt er sich von einem Raum in den anderen, rollend, kriechend, springend,
manchmal laufend, ein anderes Mal behutsam, prüfend, misstrauisch. Sein
Blick verrät aber noch mehr. Eindrucksvoll schafft es Köhler, in nur vierzig
Minuten eine Palette von Gefühlszuständen glaubwürdig zu vermitteln. "Das
Schönste an meinem Bau ist seine Stille", sagt er zu Beginn. Scheint er sich
am Anfang sicher, ja sogar glücklich zu fühlen, rastet er mit der Zeit aus.
Auf einem alten Kassettenrekorder nimmt er Geräusche auf. Ab und zu schlägt
er auf die Rohre, um das Zischen, das er vermeint zu vernehmen, zu
lokalisieren.
Gelegentlich
bleibt er stehen und schaut direkt in die Kamera. Einmal streckt er sogar
die Hand aus nach dem "unsichtbaren Feind", vor dessen Einbruch er solche
Angst hat. Als Zuschauender bekommt man ein mulmiges Gefühl, dann steckt man
noch mehr mitten im Geschehen. Nach und nach verliert der Protagonist den
Verstand: Auf einem Fahrrad fährt er wild auf der Unterbühne im Kreis. Dabei
wird das Tempo durch die sich in die Gegenrichtung bewegende Drehbühne
verstärkt – nur etwas für Schwindelfreie, wobei man im Notfall die VR-Brille
kurzfristig entfernen kann. Und irgendwann nimmt die Paranoia ihren Lauf:
Umgeben von Kinderspielsachen erzeugt der Protagonist einen betäubenden
Lärm. Währenddessen putzt er sich die Zähne mit zwei Zahnbürsten
gleichzeitig.
Elena Bakirovas
Inszenierung entpuppt sich als eine relevante Gefühlserkundung nach der
pandemiebedingten sozialen Isolation. Die Virtual-Reality-Produktion des
Schauspielhauses Graz überzeugt durch Tempo, starke Bilder und eine
grandiose schauspielerische Leistung.