"Mutter"
ist nicht nur die Darstellung eines Generationenkonfliktes. Dem Dramatiker
und Regisseur Martinelli hat es ebenfalls am Herzen gelegen, sich der
zerstörerischen Kraft des Menschen gegenüber der Natur anzunehmen. So
verwandelt sich langsam das Bild einer dementen Greisin in die Mutter Erde.
Auch der Einfluss der Technologie auf unser Leben sowie die Spaltung der
Gesellschaft in der Flüchtlingsdebatte, die als Bedrohung wahrgenommen wird,
sind in "Mutter" thematisiert.
Weichenstellung fürs Leben
Das
Stück besteht aus zwei Monologen. Zum einen spricht der Sohn von außerhalb
des Schachtes auf die hineingefallene Mutter ein, zum anderen ertönt
anschließend vom Grund des Brunnens die Stimme der Mutter. Durch
raffiniertes Zusammenfügen von Wörtern enthüllt der Sohn nicht nur das Bild
der Mutterfigur, sondern vielmehr das Bild der Welt an sich. Es ist ein von
Technologie geprägter, menschenleerer Lebensraum, in dem täglich das
Vertrauen in den Nächsten verloren geht. Ein Gewitter scheint diese Welt zu
bedrohen: "Es ist überall dunkel", Drachen und "eine Herde Dämonenpferde
fressen alles auf, was ihnen in den Weg kommtˮ. Und obwohl der Sohn "groß
und stark", ein "echter Riese" ist, ist er der Auffassung, die Mutter nicht
alleine aus dem Schacht herausziehen zu können. Immer wieder findet er
Gründe, um sich vor seiner Aufgabe zu drücken. Letztendlich, unter der immer
akuter werdenden Bedrohung des Sturms, verschwindet der Sohn, um Hilfe zu
holen. Und nun kommt die Mutter zu Wort.
Sie rätselt darüber, wie
sie überhaupt in den Schacht hineingefallen ist. Eine Möglichkeit wäre, dass
der Sohn sie aus Versehen hineingeschubst hat. Wie blind hetzt er ständig
dahin, unfähig, irgendetwas in seiner Umgebung zu bemerken oder der Stimme
der Natur zuzuhören. Die Mutter erzählt auch von der Legende vom gelben
Kaiser und der Spiegelwelt, in der menschliche Wesen in einer anderen Welt
gefangen sind. Durch die Kraft solcher Worte entstehen eindringliche Bilder
in den Köpfen der Zuschauer. Marco Martinelli ist ein Meister der Symbole.
Sein Drama lässt viele Fragen offen. Wird die Mutter im Schacht bis zur
Auferstehung zu Ostern bleiben, wie der Sohn andeutet? Wird die kleine
Schlange, die in die Haut der Mutter eindringt, zur Erneuerung führen? Oder
wird das Reptil sie zerstören? Es gibt wenige Symbole, die so vieldeutig und
vielschichtig sind und eine solche Spannbreite polyvalenter Bedeutungen
aufweisen.
Musik, Text
und Zeichnungen verschmelzen ineinander
Die
zwei Monologe sind eingerahmt von Regieanweisungen. Marco Martinelli setzt
"Mutter" zusammen mit der Schauspielerin Ermanna Montanari, dem Zeichner
Stefano Ricci und dem Kontrabassisten und Komponisten Daniele Roccato auf
der Bühne um. Montanari, zugleich Autorin und Bühnenbildnerin, mit
Martinelli Mitbegründerin des Teatro delle Albe in Ravenna, verkörpert beide
Protagonisten: den Sohn und die Mutter. Auf der Bühne befinden sich ein
Kontrabass, eine Tischlampe, deren Schein auf runde Kartonbögen fällt und
ein Notenpult mit Mikrofon. An Letzterem wird Montanari im Halbdunkel stehen
und den Text übermitteln. Bekannt für ihre umfangreiche Untersuchung der
Stimmmöglichkeiten, kann Ermanna Montanari eine große Bandbreite von Gefühlen
durch die Modulationsfähigkeit ihrer Stimme ausdrücken. So wird Martinellis
Text geflüstert, gesprochen, zum Teil ausgerufen; zeitweise kommt ein
Knarren oder ein Krächzen aus Montanaris Kehle. Passend dazu ertönt die von
Daniele Roccato komponierte Musik.
In dem Künstler-Trio
spielt Stefano Ricci eine ausschlaggebende Rolle. Auf dem Boden kniend,
beugt er sich über schwarze Kartonbögen und zeichnet darauf mit weißer
Kreide mit dem Text übereinstimmende Figuren und Orte, die in Echtzeit auf
die hintere Bühnenwand projiziert werden. In Windeseile entstehen die
Gestalt des Sohnes, sein Gesicht, eine Schlange, der höllenartige Schacht,
der Sturm, die Mutter und vieles mehr. Zeitgleich mit dem Verschwinden des
Sohnes verlässt auch Montanari die Bühne, um dann mit einer langen weißen
Perücke auf dem Kopf zurückzukehren. Ein Symbol des Alters und der Weisheit
der Erde. Die Aufführung, zusammengestellt vom Künstler-Quartett, erweist
sich voll von solch bildhaften Ausdrücken. Ein Fest für Augen und Ohren. Zu
Recht trägt Marco Martinellis Stück den Untertitel "szenisches Gedicht".
In
seiner letzten Illustration skizziert Stefano Ricci die Drachenwurz. Die
weiße Calla als Symbol für Unsterblichkeit und zugleich als beliebte Blume
für Beerdigungen. Ein offenes Ende?
"Aber
vor allem, gib nicht auf, verliere nie die Hoffnung", ist die letzte
Botschaft, die Martinellis Text überliefert. Die Hoffnung stirbt zuletzt.