Haltestelle
"Universität" im Stadtzentrum von Bukarest. Menschenmassen strömen auf dem
Weg zur Arbeit aus der U-Bahn. Dennoch finden einige Passanten Zeit, stehen
zu bleiben und den in der Mitte der Universitätspassage platzierten Ständen
Beachtung zu schenken. Zwei Wochen lang wird im Oktober unermüdlich über die
Veranstaltungen des Nationaltheaterfestivals informiert. Die diesjährige
Ausgabe – traditionsgemäß organisiert vom rumänischen Theaterverband UNITER
und finanziell unterstützt vom Kulturministerium und dem Kulturzentrum ARCUB
– fand vom 21. bis zum 30. Oktober statt. Zum dritten Mal in Folge war
Marina Constantinescu Intendantin und zugleich künstlerische Leiterin der
Festspiele. Überraschenderweise stand die 26. Auflage unter keinem Motto,
sie war als "Manifest gegen die Zerstörung der Hochkultur, der bürgerlichen
Werte, der tiefgründigen und normalen Welt" gedacht. Innerhalb von zehn
Tagen sorgten vierzig der landesweit besten Produktionen sowie hochkarätige
internationale Gastspiele für ein vielfältiges und spannendes Programm.
Den Auftakt
machte Angelin Preljocajs Tanzkompanie mit Das Fresko. Die auf dem
chinesischen Märchen aus dem 13. Jahrhundert Das Gemälde an der Wand
basierende Tanzaufführung versetzt den Zuschauer in eine faszinierende Welt der Malerei. Mit beeindruckenden Mitteln überträgt
der französische Tänzer und Choreograf albanischer Abstammung die Geschichte
eines Mannes, der sich in die Abbildung einer Frau verliebt und auf magische
Weise in das Innere
des Gemäldes transportiert wird, auf die Bühne. Dabei spielen die Haare
der Tänzerinnen eine zentrale Rolle; unentwegt peitschen sie durch die Luft
oder verwandeln sich in "Ranken", die von der Decke fallen. Preljocaj wirft
somit Fragen der zeitlichen Dimension auf und spiegelt innere Impulse und
Regungen, auf denen unsere Träume basieren, wider.
Von
großer poetischer und bildlicher Kraft waren auch Carolyn Carlsons
Produktionen. In einer der aus drei Teilen bestehenden
Kurzgeschichten tritt die US-amerikanische Tänzerin selbst auf. Zu
Wellenklängen verkörpert sie in Immersion die Lebenskraft des Wassers
in seiner unendlichen Metamorphose. Ganz anders Burning, das eine
besinnliche Reise in das intimste Innere des Menschen vorschlägt.
Hauptdarsteller dieser energischen und zugleich fantasievollen Solo-Show ist
der koreanische Tänzer Won Myeong Won. Für Carlson bildet das Solo die
Hauptform der Choreografie. "Meine Arbeit ist in Qi Gong, Tai Chi und
Kampfkunst verwurzelt", sagt die Tänzerin und fährt fort: "Die Schaffung
eines Solos ist der intimste, wortlose Dialog auf der Suche nach einer
einzigartigen und puren Gestik." Sowohl für Preljocaj als auch für Carlson
ist Bewegung " universelle Kommunikationskunst".
Generell stand
die diesjährige Festivalauflage im Zeichen des Tanzes und des Musicals.
Nicht weniger als zwölf Produktionen – die Gastspiele mit eingerechnet –
waren diesen Gattungen gewidmet, darunter Pál Frenaks In a Dream
(Nationaltheater Temeswar) und Dominique Serrands For Ever
(Ungarisches Staatstheater Klausenburg). Jedoch üben sich auch rumänische
Theaterregisseure in Musicals. So lieferte Andrei
Șerban
mit Carousel
(Bulandra-Theater Bukarest) eine originelle Vision von Ferenc Molnárs
bekanntem Theaterstück Liliom. Das ist umso überraschender, als es in
Rumänien diesbezüglich an Traditionen fehlt. Zum vierten Mal bereits stand
der Name des in Frankreich lebenden rumänischen Tänzers und Choreografen
Gigi Căciuleanu auf dem Festivalprogramm. Drei seiner neuesten Werke
begeisterten das Publikum: L'Om DAdA, One Minute of Dance or
OOOF!!! (beide Nationaltheater Bukarest) und Vivaldi and Some Seasons
(Nationaltheater Târgu-Mureș,
Gruppe "Liviu Rebreanu"). Zudem widmeten die Organisatoren dem Künstler eine
Fotoausstellung im Foyer des Bukarester Nationaltheaters.
Zu
meinen persönlichen Highlights gehört eindeutig Răzvan Mazilus Mon
Cabaret Noir. Seit längerer Zeit setzt sich der rumänische Choreograf
und Tänzer mit der Kunstform des Musicals auseinander. "Begonnen habe ich
schon 2001, als ich den Blauen Engel im Bukarester Odeon-Theater
gab", erinnert sich Mazilu. Für Mon Cabaret Noir begibt er sich
zusammen mit vier sehr begabten Darstellerinnen auf die Spuren von Anita
Berber – der rebellierenden Avantgardistin der 1920er Jahre, die als Modell
für die später wesentlich bekannter gewordenen Akteurinnen Marlene Dietrich
und Greta Garbo gilt. "Noir
heißt die Performance deshalb, weil sie Schattenseiten von Berbers
Persönlichkeit beleuchtet", erklärt Mazilu. Der kleine, intime Raum des
"Teatrelli"-Zentrums für Kreation, Kunst und Tradition wird gänzlich in ein
Berliner Kabarett verwandelt. Für Mazilu fließen "Tanz, Theater und Musik
harmonisch ineinander". Auch vertritt er die Meinung, "dass das Publikum
diese Art von intelligenter Unterhaltung braucht". Dem kann ich nach der
einmaligen Zeitreise ins kabarettistische Berlin der 20er Jahre nur
zustimmen.
Um seinem Namen
gerecht zu werden, umfasste das Programm auch Sprechtheater-Inszenierungen.
Großformatige Produktionen, Zwei-Personen-Stücke oder Monodramen wurden auf
sieben Großbühnen der rumänischen Hauptstadt oder in den intimen etablierten
Räumen der unabhängigen
Bukarester Szene (wie Unteatru, Godot-Café oder Luni-Theater bei Green
Hours) gezeigt. Der 1998 eröffneten Spielstätte des ACT-Theaters galt
besondere Aufmerksamkeit. Eine Schau mit Plakaten sowie eine dem Gründer des
ACT-Theaters (Marcel Iureș)
gewidmete Fotoausstellung würdigten das erste selbstständige Projekttheater
in Rumänien, das 2016 seine "Reifeprüfung" bestand. Etliche
Buchpräsentationen (nicht weniger als fünfzehn!) bereicherten das Festival.
Eine im Nationalen Kunstmuseum eindrucksvoll eingerichtete Installation des
Bühnenbildners Dragoș
Buhagiar, persönliche Begegnungen mit Regisseuren und Filmvorführungen
rundeten das Programmangebot ab.
Den
krönenden Abschluss bildete Der Kirschgarten
in der Regie von Lev Dodin. Der Leiter des legendären Sankt Petersburger
Maly-Theaters sorgt seit vierzig Jahren für volle Säle in Theaterhäusern und
für einen Stil, der weit über Russland hinaus bekannt ist. Mehr als ein
Jahrhundert später scheint Tschechows Meisterwerk aktueller denn je zu sein.
In Dodins zauberhafter und edler Inszenierung entpuppt sich eine
Welt, in der die alten Werte und Strukturen in einem beängstigenden Tempo
abgebaut werden. Womöglich ist Der Kirschgarten das Kernstück des von
Marina Constantinescu ausgelegten Manifests.