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Der Urschrei der Freiheit

"wir gingen weil alle gingen" – so heißt die erste Geschichte im gleichnamigen
Band von Thomas Perle. Weihnachten 1989: Es ist die Zeit der Revolution in Rumänien,
die Tage, in denen das Ceauşescu-Ehepaar entmachtet und hingerichtet wird. Wie gehen
die Menschen mit der gewonnenen Freiheit um? Wie blicken sie auf das Leben
während der kommunistischen Diktatur zurück?

Von Irina Wolf
(15. 04. 2019)

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   In seinem Prosadebüt widmet sich Thomas Perle einer Anzahl von Themen, die ihn bewegen. In sieben Kurzgeschichten geht es um das (Über-)Leben in den Jahren vor der Revolution, dann schließlich um das Wagnis eines Neuanfangs in Westeuropa und wie den damit verbundenen Schwierigkeiten getrotzt werden kann. Aber es geht in "wir gingen weil alle gingen" auch um Angst, Hoffnung, Liebe, Schmerz, um das Erwachsenwerden und die in Rumänien herrschenden Vorurteile gegenüber Homosexuellen.

Vom Osten in den Westen – und wieder zurück

   Erzählt wird einmal in der Ich-Perspektive, dann wieder in der dritten Person. Längere Geschichten wechseln sich mit kurzen ab. Es gibt keine chronologische Ordnung. Die "langen" Geschichten bestehen aus mehreren "Untergeschichten". Jede hat einen anderen Titel, der fett gesetzt ist, zum Beispiel "was uns deutsch", "im westen alles frei, doch nichts umsonst", "der mund die sprache nicht vergessen". Sehr schön ist auch, dass diese aufeinander aufbauen und einen roten Faden bilden.

Viele dieser Erzählungen weisen einen Bezug zu Perles Familie auf. Dabei vergisst der Autor nicht, Einblicke in die Lebensbedingungen früherer Zeiten zu geben und schafft damit eine ganz spezielle Atmosphäre. Der Tod der Großmutter ist gefühlvoll und sensibel beschrieben. Geschickt setzt der Autor mehrfach Rückblenden ein, sodass Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschmelzen.

der tod sitzt am kopfende. ich sitze neben dem bett auf der anderen seite.

der tod und ich sehen uns nicht an.

[...]

vier familien wurden in einen waggon gepfercht. die waggontür zugedroschen.

[…]

der zug hielt in einem gebiet, in dem die menschen bereits anfingen zu hassen, weil unser ursprungsmutterland sie besetzt hatte.

darum wurde nicht mehr deutsch gesprochen, alle sprachen in der sprache meines rumänischen großvaters jetzt. erikas erstes wort war mama. ihr zweites wort war foame, hunger.


   Kein Wunder, dass in den Erzählungen Thomas Perles Autobiografie eine Rolle spielt. Denn der 1987 in Siebenbürgen geborene Schriftsteller und Theaterautor emigrierte 1991 nach Deutschland. Doch seinem Geburtsort blieb er verbunden und reiste regelmäßig nach Oberwischau (rum. Vişeul de Sus, ung. Felsővisó). Besonders spannend und zugleich berührend ist, wie der Schriftsteller die Homosexuellenfeindlichkeit anprangert, in dem Land, das 2018 durch ein Referendum sicherstellen wollte, dass die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare nicht eingeführt werden kann.

jetzt. jetzt der moment, der moment, in dem du aufstehst.

der moment, in dem du die wahrheit. erzähl! erzähl ihnen, was wirklich!

erzähl ihnen, wer daniel wirklich auf dem gewissen, wirf ihnen die eigene dummheit an den kopf. diesen hinterwäldlern! mit ihrer falschen religiosität.

diesen heuchlerinnen. erzähl, verdammt noch mal! erzähl! sag was!

Zum Glück ist das Referendum zur Verfassungsänderung gescheitert.

Kleinbuchstaben dreisprachig

   Thomas Perle hat seinen ganz eigenen Stil. Das beginnt schon mit der Form der Sätze, die wie abgehackt scheinen. Zum anderen sind Text und Titel stets in Kleinbuchstaben gehalten. Das macht es dem lesenden Auge nicht gerade leicht. Dafür schreibt der Autor äußerst flüssig. Er schafft es, in kurzen Sätzen und mit wenigen Worten die Leser mit klaren Bildern zu beeindrucken. Auch zu den gut gezeichneten Charakteren baut man schnell eine Beziehung auf. Die Handlung ist spannend. Bei vielen Kurzgeschichten hat man das Gefühl, dass sich auch ein ganzer Roman anschließen könnte. Zudem sind die Geschichten gut und flüssig lesbar. Manchmal zu gut, denn man sollte nicht den Fehler machen, zu viele davon zu schnell zu lesen, würde man doch in diesem Fall leicht die vielen Zwischentöne und manch Hintergründiges, bisweilen auch die eine oder andere gut versteckte Kritik verpassen. Auch die sehr persönlich gehaltenen Stellen sind zahlreich vertreten. Noch dazu tragen die Geschichten so interessante Titel wie "schwarzer Schnee" oder "mutterkörper. jedes leben einmal zu ende". Auch rumänische und ungarische Ausdrücke bringt der Autor an vielen Stellen ein, ist Thomas Perle doch dreisprachig aufgewachsen. Dass das manchmal zu aberwitzigen Situationen führen kann, zeigt die Geschichte "wie ich eines tages die u-bahn verlor".

blau/gelb/rot

   Die Stimmung des Buchs wird im Covermotiv zweifellos eingefangen. Auch der Verlagsname, unter dem das Buch veröffentlicht wurde (edition exil), passt perfekt zum Inhalt. Optisch erinnert der im Taschenbuchformat gehaltene Band an das Wappen der Sozialistischen Republik Rumänien. Auf einem Hintergrund von Sonnenstrahlen stehen zwei große Sterne übereinander: einer rot, der andere blau. Eine sehr schöne Anspielung auch auf die Farben der rumänischen Fahne oder auf die Hymne der Sozialistischen Republik Rumänien ("Drei Farben"). Im Allgemeinen spielen Farben eine wichtige Rolle im Buch.

kurz nach der schwarz/rot/goldenen Grenze sah ich zum ersten mal eine autobahn.

Mit solch bildlichen Darstellungen schafft Thomas Perle eine eigene Dynamik.

Fazit

   "wir gingen weil alle gingen" ist eine stimmungsvolle Kurzgeschichtensammlung. Thomas Perle ist ein bewegender Einblick in Rumäniens Geschichte im 20. Jahrhundert gelungen. Am Beispiel (s)einer ausgewanderten Familie behandelt er Fragen von Liebe und Tod, von Identität und Heimat, von Loyalität und Loyalitätskonflikt – also die ganz großen Themen des Lebens.
 


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