Arme
und Beine ragen aus dem Kleiderhaufen auf dem Sessel hervor. Sie gehören der
tschechischen Künstlerin Ridina Ahmedová, die mit ihrer Produktion Dick
das Thema Bodyshaming thematisiert. Denn sobald der Haufen zu Boden gefallen
ist, sitzt die übergewichtige Frau in Unterwäsche vor uns auf der sonst
leeren Bühne. Die von Ahmedová selbst konzipierte und inszenierte nonverbale
Performance überzeugt mit viel Fantasie, Witz und einem gelungenen Spiel. So
zeichnet sie zum Beispiel mit Lippenstift einen lächelnden Mund auf ihren
riesigen Bauch. Den Abend darauf singt Ahmedová Jazz-Lieder und bezaubert
mit ihrer warmen Stimme das Publikum. Sie ermutigt die Zuhörer,
Kurzgeschichten zu erzählen und überrascht mit spontan komponierten Liedern,
die die Atmosphäre der Geschichte perfekt wiedergeben. Mit solch
außergewöhnlichen Künstlern und hervorragenden Produktionen leistete die
internationale Sektion "Something to Declare" der 34. Ausgabe des
diesjährigen Theaterfestivals von Kreuzburg an der Bistritz (Piatra Neamţ)
einen wertvollen Beitrag für die Gemeinschaft der eher abgelegenen Stadt in
der moldawischen Region der Ostkarpaten.
Vierzehn Tage lang wurde
das lokale Theater der Jugend zum Schauplatz kultureller Ereignisse. Sechs
internationale Darbietungen, 26 rumänische Produktionen, multimediale
Installationen, Filmprojektionen, Tanz- und Outdoor-Performances,
Buchvorstellungen und Ausstellungen gehörten zum abwechslungsreichen
Programm. Wie in früheren Ausgaben war das Festival auch in den
Nachbarstädten Roman und Târgu Neamţ
anwesend. Als erfolgreiche Premiere wurde die Erweiterung der Bespielung in
der ländlichen Umgebung des Kreises Neamţ
gefeiert. Unter dem Motto "Sicherheitszone" schuf das Festival einen Rahmen
für kritische Auseinandersetzung mit alltäglichen Sorgen wie Krieg,
Machtmissbrauch, sozial-politisches Chaos. "Die Sicherheitszone ist der
Raum, in dem Strategien zum Überleben, zur Überwindung von Krisen und zur
Gestaltung einer sinnvollen Zukunft entwickelt werden", sagt Gianina
Cărbunariu, Kuratorin des Festivals, Regisseurin, Dramaturgin und Direktorin
des Theaters der Jugend.
Neben
Ridina Ahmedová boten fünf weitere Frauenstimmen aus der Ukraine, Bulgarien,
dem Kosovo, Slowenien und Belgien einen würdigen Überblick über den
europäischen Theaterregiebereich. Relevante Themen wie die Auswirkungen des
Pflegenotstands und die daraus resultierenden Spannungen in den westlichen
Gesellschaften wurden in der deutsch-bulgarischen Koproduktion 37
Zündhölzer oder das gestohlene Leben untersucht. Der von Zdrava Kamenova
und Gergana Dimitrova verfasste Text verwob gekonnt reale Begebenheiten mit
Elementen der griechischen Mythologie. Regisseur Bernhard Eusterschulte
setzte geschickt Live-Musik ein, um Spannung aufzubauen. Vor allem regte
aber der von einer Puppe verkörperte demenzkranke 80-jährige Deutsche, um
den sich eine bulgarische Pflegekraft kümmert, die Fantasie des Publikums
an. Der Abend wartete nicht nur mit überraschenden Wendungen auf, sondern
nahm mehr und mehr groteske Züge an. Jeton Nezirajs neuestes Stück Die
Rückkehr von Karl May erforschte westliche Stereotypen über den Osten
anhand der Figur des Abenteurers Kara Ben Nemsi, dessen Reisen unter anderem
nach Albanien führten. Mit Sarkasmus und komisch-absurden Szenarien griff
der preisgekrönte kosovarische Dramatiker das im heutigen Europa
vorherrschende Bild des "muslimischen Ausländers" scharf an. Facettenreiche
Dialoge nahmen die
Nobelpreis-Entscheidung für Peter Handke
in den Fokus und stellten Fragen nach zukünftigen Formen des Zusammenlebens.
Momentaufnahme
zeitgenössischer Theaterkonzepte
Von
den rumänischen Staatstheatern kamen vornehmlich zeitgenössische Stücke.
Bemerkenswert ist dabei, dass die meisten Texte von den Regisseuren selbst
verfasst wurden. So zum Beispiel Der Spatz, eine Produktion des
Dramatischen Theaters aus Galaţi,
die sich auf spielerische Weise mit der Übergangszeit vom Kommunismus zur
Demokratie auseinandersetzte. David Schwartz, Hauptvertreter der freien,
unabhängigen politischen Theaterplattform, widmete sich in Die Akrobaten
den bürokratischen Hürden, die Lehrer im ländlichen Raum zu überwinden
haben. Mit Mansdorf schuf Mihai Lukács eine Recherche-Performance zur
Geschichte des jüdischen Theaters nach 1945 und in Luxus behandelte
Gabriel Sandu – der für Text, Regie und szenografisches Konzept
verantwortlich zeichnet – die großen Probleme unserer Zeit: Pandemie, Krieg,
Wirtschaftskrise. Die von der "Uniter"-Theatervereinigung aus Rumänien als
beste Produktion der letzten Saison ausgezeichnete Show Seaside Stories
durfte im Programm nicht fehlen. Es ist kein Zufall, dass diese Inszenierung
am Staatstheater in Constanţa,
der Hafenstadt am Ufer des Schwarzen Meers, vom arrivierten Künstler Radu
Afrim (Text, Regie und Klanguniversum) erschaffen wurde. Zu guter Letzt
brachte das Nationaltheater aus Craiova
Băgău,
eine Adaption des gleichnamigen Romans von Ioana Bradea über den
Erotik-Chat, der die 1990er Jahre in Rumänien prägte.
Die freie Szene
beschäftigte sich mehrfach mit Machtmissbrauch. Basierend auf persönlichen
Erfahrungen, gespickt mit Auszügen aus Shakespeares "Ein Sommernachtstraum",
untersuchte Der Traum (Text: Alexa Băcanu, Regie: Dragoş
Alexandru Muşoiu),
eine Produktion des Kreations- und Experimentreaktors aus Klausenburg,
sexuelle Belästigung und Machtmissbrauch an Universitäten. Die vom
OV-05-Verein aus Bukarest produzierte Show Verletzlich (Text: Vera
Ion, Regie: Alice Monica Marinescu) befasste sich hingegen mit emotionaler
und physischer Kindesmisshandlung. Der erst 2017 gegründete Verein Hearth
aus Bukarest zeigte Individually Composed. Eine beeindruckende
One-Man-Show über den Arbeitsstress und die Träume der Angestellten in einer
NGO. Andrei Măjeris temporeiche Inszenierung – Măjeri zeichnet auch für Text
und Lichtdesign verantwortlich – ermöglichte den Zuschauern neue Zugänge zum
Thema und gab Denkanstöße, die in dieser Konzentration wohl nur das Theater
leisten kann. Mit seiner großartigen schauspielerischen Leistung eroberte
der charmante 23-jährige Protagonist Bogdan Iancu das Publikum.
Absolute
Höhepunkte
Vor
mehr als zwei Jahrzehnten erschien die erste Inszenierung von Gianina
Cărbunarius Stück Stop the Tempo! Nun lud das Theater der rumänischen
Dramatiker aus Bukarest das Publikum ein, die Geschichte junger Menschen,
die eifrig danach streben, das Leben in seiner größten Intensität zu
erleben, (erneut) zu entdecken. Hingegen wurde Cărbunarius neuestes Werk
Magyarosaurus Dacus vom ungarischen Szigligeti-Theater in Großwardein
produziert. Die bekannteste rumänische Autorin und Regisseurin nahm uns in
ihrem Dokumentar-Märchen über den Wissenschaftler Franz Nopcsa auf eine
Reise mit, die einen Rückblick auf Mentalitäten, Stereotypen und Vorurteile
aus der Zeit des Endes des 19. Jahrhunderts und des Ersten Weltkriegs
bietet.
Für ein ausverkauftes Haus
und langen, begeisterten Applaus sorgte das Stadttheater aus Bacău mit
Die Künstlerfabrik von Matei Lucaci Grunberg. Eine brisante Komödie über
die Geschichte Rumäniens anhand von Hochzeiten und Beerdigungen. In einem
herausragenden Performance-Konzert des gastgebenden Theaters der Jugend
boten fünf Schauspielerinnen unterschiedlichen Alters ein Befreiungsritual.
Die Apokalypse der Hausfrauen vermischte auf intelligente Weise reale
Geschichten der Protagonistinnen mit Reflexionen über den Einfluss
patriarchaler Vorurteile und den Herausforderungen, mit denen Frauen in der
rumänischen Gesellschaft konfrontiert sind. In der deutschen Theaterszene
für ihre Manifeste bekannt, kreierte die aus der Republik Moldau stammende
Regisseurin Nicoleta Esinencu eine musikalische Statement-Show für eine Welt
der Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Dafür setzte sie raffinierte,
unkonventionelle Instrumente ein: wie zu Gitarren verwandelte Hexenbesen und
das Semantron – ein langes hölzernes Schlagbrett, mit dem in rumänischen
Klöstern zum Gebet gerufen wird. Worte verschmolzen zu Vielstimmigkeit, zu
Liedern, sogar zu Chorälen.
Rumänen
vor den Toren der Welt hieß die
beliebte Outdoor-Performance, die auf dem Hauptplatz hinter dem Theater der
Jugend bei strahlendem Sonnenschein gezeigt wurde. Lebende Statuen des
Bukarester Masca-Theaters boten den Passanten die Möglichkeit, einige der
bemerkenswertesten rumänischen Persönlichkeiten der Belle Époque und der
Zwischenkriegszeit zu entdecken. Mihai Mălaimares Inszenierung gliederte
sich in zwei Episoden mit den suggestiven Namen: "Bronze" für Prominente aus
den Naturwissenschaften und "Porzellan" für künstlerische Figuren.
In den sechzig Jahren
seines Bestehens hat sich das Theater der Jugend aus Piatra Neamţ
einen Namen als Startrampe für Schauspieler, Regisseure und Komponisten
gemacht, die herausragende berufliche Laufbahnen eingeschlagen haben. Es ist
kein Zufall, dass dieses Theater, zusammen mit dem Piccolo Teatro di Milano,
Toneelhuis Antwerpern und Teatre Lliure Barcelona, und anderen, Teil des
europäischen Projektes "Unlock the City!" ist. Ziel ist es, ein qualitatives
Wachstum städtischer Räume zu generieren und zur aktiven Sensibilisierung
sowie zur Einbindung von Gemeinschaften, Organisationen und der öffentlichen
Verwaltung beizutragen.