Über die Aurora

Aktuelle Ausgabe

Frühere Ausgaben

Suche

   Schwerpunkte    Theater     Kulturphilosophie     Belletristik      Literatur     Film     Forschung    Atelier     Musik  

......
Überlebensstrategien in der Sicherheitszone

Vierzehn Tage lang wurde im rumänischen Piatra Neamţ das lokale Theater der Jugend
zum Schauplatz kultureller Ereignisse. Sechs internationale Darbietungen, mehr als
zwei Dutzend einheimische Produktionen, multimediale Installationen, Filmprojektionen,
Tanz- und Outdoor-Performances, Buchvorstellungen und Ausstellungen
gehörten zum abwechslungsreichen Programm.

Von Irina Wolf
(17. 10. 2023)

...



Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.


 



(c) Irina Wolf


Theater der Jugend

 

 


(c) Marius Sumlea

"37 Zündhölzer oder
das gestohlene Leben
"
(Regie: Bernhard Eusterschulte)

 

 


(c) Marius Sumlea

"Băgău"
(Regie: Cristina Giurgea)

 

 


(c) Marius Sumlea

"Der Traum"
(Regie:
Dragoş Alexandru
Muşoiu
)

 

 


(c) Marius Sumlea

"Stop the Tempo!"
(Regie:
Mara Oprea)

 

 


(c) Marius Sumlea

"Die Künstlerfabrik"
(Regie:
Matei Lucaci Grunberg)

 

 


(c) Marius Sumlea

"Die Apokalypse
der Hausfrauen
"
(Regie: Nicoleta Esinencu)

 

   Arme und Beine ragen aus dem Kleiderhaufen auf dem Sessel hervor. Sie gehören der tschechischen Künstlerin Ridina Ahmedová, die mit ihrer Produktion Dick das Thema Bodyshaming thematisiert. Denn sobald der Haufen zu Boden gefallen ist, sitzt die übergewichtige Frau in Unterwäsche vor uns auf der sonst leeren Bühne. Die von Ahmedová selbst konzipierte und inszenierte nonverbale Performance überzeugt mit viel Fantasie, Witz und einem gelungenen Spiel. So zeichnet sie zum Beispiel mit Lippenstift einen lächelnden Mund auf ihren riesigen Bauch. Den Abend darauf singt Ahmedová Jazz-Lieder und bezaubert mit ihrer warmen Stimme das Publikum. Sie ermutigt die Zuhörer, Kurzgeschichten zu erzählen und überrascht mit spontan komponierten Liedern, die die Atmosphäre der Geschichte perfekt wiedergeben. Mit solch außergewöhnlichen Künstlern und hervorragenden Produktionen leistete die internationale Sektion "Something to Declare" der 34. Ausgabe des diesjährigen Theaterfestivals von Kreuzburg an der Bistritz (Piatra Neamţ) einen wertvollen Beitrag für die Gemeinschaft der eher abgelegenen Stadt in der moldawischen Region der Ostkarpaten.

Vierzehn Tage lang wurde das lokale Theater der Jugend zum Schauplatz kultureller Ereignisse. Sechs internationale Darbietungen, 26 rumänische Produktionen, multimediale Installationen, Filmprojektionen, Tanz- und Outdoor-Performances, Buchvorstellungen und Ausstellungen gehörten zum abwechslungsreichen Programm. Wie in früheren Ausgaben war das Festival auch in den Nachbarstädten Roman und Târgu Neamţ anwesend. Als erfolgreiche Premiere wurde die Erweiterung der Bespielung in der ländlichen Umgebung des Kreises Neamţ gefeiert. Unter dem Motto "Sicherheitszone" schuf das Festival einen Rahmen für kritische Auseinandersetzung mit alltäglichen Sorgen wie Krieg, Machtmissbrauch, sozial-politisches Chaos. "Die Sicherheitszone ist der Raum, in dem Strategien zum Überleben, zur Überwindung von Krisen und zur Gestaltung einer sinnvollen Zukunft entwickelt werden", sagt Gianina Cărbunariu, Kuratorin des Festivals, Regisseurin, Dramaturgin und Direktorin des Theaters der Jugend.

   Neben Ridina Ahmedová boten fünf weitere Frauenstimmen aus der Ukraine, Bulgarien, dem Kosovo, Slowenien und Belgien einen würdigen Überblick über den europäischen Theaterregiebereich. Relevante Themen wie die Auswirkungen des Pflegenotstands und die daraus resultierenden Spannungen in den westlichen Gesellschaften wurden in der deutsch-bulgarischen Koproduktion 37 Zündhölzer oder das gestohlene Leben untersucht. Der von Zdrava Kamenova und Gergana Dimitrova verfasste Text verwob gekonnt reale Begebenheiten mit Elementen der griechischen Mythologie. Regisseur Bernhard Eusterschulte setzte geschickt Live-Musik ein, um Spannung aufzubauen. Vor allem regte aber der von einer Puppe verkörperte demenzkranke 80-jährige Deutsche, um den sich eine bulgarische Pflegekraft kümmert, die Fantasie des Publikums an. Der Abend wartete nicht nur mit überraschenden Wendungen auf, sondern nahm mehr und mehr groteske Züge an. Jeton Nezirajs neuestes Stück Die Rückkehr von Karl May erforschte westliche Stereotypen über den Osten anhand der Figur des Abenteurers Kara Ben Nemsi, dessen Reisen unter anderem nach Albanien führten. Mit Sarkasmus und komisch-absurden Szenarien griff der preisgekrönte kosovarische Dramatiker das im heutigen Europa vorherrschende Bild des "muslimischen Ausländers" scharf an. Facettenreiche Dialoge nahmen die Nobelpreis-Entscheidung für Peter Handke in den Fokus und stellten Fragen nach zukünftigen Formen des Zusammenlebens.

Momentaufnahme zeitgenössischer Theaterkonzepte

   Von den rumänischen Staatstheatern kamen vornehmlich zeitgenössische Stücke. Bemerkenswert ist dabei, dass die meisten Texte von den Regisseuren selbst verfasst wurden. So zum Beispiel Der Spatz, eine Produktion des Dramatischen Theaters aus Galaţi, die sich auf spielerische Weise mit der Übergangszeit vom Kommunismus zur Demokratie auseinandersetzte. David Schwartz, Hauptvertreter der freien, unabhängigen politischen Theaterplattform, widmete sich in Die Akrobaten den bürokratischen Hürden, die Lehrer im ländlichen Raum zu überwinden haben. Mit Mansdorf schuf Mihai Lukács eine Recherche-Performance zur Geschichte des jüdischen Theaters nach 1945 und in Luxus behandelte Gabriel Sandu – der für Text, Regie und szenografisches Konzept verantwortlich zeichnet – die großen Probleme unserer Zeit: Pandemie, Krieg, Wirtschaftskrise. Die von der "Uniter"-Theatervereinigung aus Rumänien als beste Produktion der letzten Saison ausgezeichnete Show Seaside Stories durfte im Programm nicht fehlen. Es ist kein Zufall, dass diese Inszenierung am Staatstheater in Constanţa, der Hafenstadt am Ufer des Schwarzen Meers, vom arrivierten Künstler Radu Afrim (Text, Regie und Klanguniversum) erschaffen wurde. Zu guter Letzt brachte das Nationaltheater aus Craiova Băgău, eine Adaption des gleichnamigen Romans von Ioana Bradea über den Erotik-Chat, der die 1990er Jahre in Rumänien prägte.

Die freie Szene beschäftigte sich mehrfach mit Machtmissbrauch. Basierend auf persönlichen Erfahrungen, gespickt mit Auszügen aus Shakespeares "Ein Sommernachtstraum", untersuchte Der Traum (Text: Alexa Băcanu, Regie: Dragoş Alexandru Muşoiu), eine Produktion des Kreations- und Experimentreaktors aus Klausenburg, sexuelle Belästigung und Machtmissbrauch an Universitäten. Die vom OV-05-Verein aus Bukarest produzierte Show Verletzlich (Text: Vera Ion, Regie: Alice Monica Marinescu) befasste sich hingegen mit emotionaler und physischer Kindesmisshandlung. Der erst 2017 gegründete Verein Hearth aus Bukarest zeigte Individually Composed. Eine beeindruckende One-Man-Show über den Arbeitsstress und die Träume der Angestellten in einer NGO. Andrei Măjeris temporeiche Inszenierung – Măjeri zeichnet auch für Text und Lichtdesign verantwortlich – ermöglichte den Zuschauern neue Zugänge zum Thema und gab Denkanstöße, die in dieser Konzentration wohl nur das Theater leisten kann. Mit seiner großartigen schauspielerischen Leistung eroberte der charmante 23-jährige Protagonist Bogdan Iancu das Publikum.

Absolute Höhepunkte

   Vor mehr als zwei Jahrzehnten erschien die erste Inszenierung von Gianina Cărbunarius Stück Stop the Tempo! Nun lud das Theater der rumänischen Dramatiker aus Bukarest das Publikum ein, die Geschichte junger Menschen, die eifrig danach streben, das Leben in seiner größten Intensität zu erleben, (erneut) zu entdecken. Hingegen wurde Cărbunarius neuestes Werk Magyarosaurus Dacus vom ungarischen Szigligeti-Theater in Großwardein produziert. Die bekannteste rumänische Autorin und Regisseurin nahm uns in ihrem Dokumentar-Märchen über den Wissenschaftler Franz Nopcsa auf eine Reise mit, die einen Rückblick auf Mentalitäten, Stereotypen und Vorurteile aus der Zeit des Endes des 19. Jahrhunderts und des Ersten Weltkriegs bietet.

Für ein ausverkauftes Haus und langen, begeisterten Applaus sorgte das Stadttheater aus Bacău mit Die Künstlerfabrik von Matei Lucaci Grunberg. Eine brisante Komödie über die Geschichte Rumäniens anhand von Hochzeiten und Beerdigungen. In einem herausragenden Performance-Konzert des gastgebenden Theaters der Jugend boten fünf Schauspielerinnen unterschiedlichen Alters ein Befreiungsritual. Die Apokalypse der Hausfrauen vermischte auf intelligente Weise reale Geschichten der Protagonistinnen mit Reflexionen über den Einfluss patriarchaler Vorurteile und den Herausforderungen, mit denen Frauen in der rumänischen Gesellschaft konfrontiert sind. In der deutschen Theaterszene für ihre Manifeste bekannt, kreierte die aus der Republik Moldau stammende Regisseurin Nicoleta Esinencu eine musikalische Statement-Show für eine Welt der Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Dafür setzte sie raffinierte, unkonventionelle Instrumente ein: wie zu Gitarren verwandelte Hexenbesen und das Semantron – ein langes hölzernes Schlagbrett, mit dem in rumänischen Klöstern zum Gebet gerufen wird. Worte verschmolzen zu Vielstimmigkeit, zu Liedern, sogar zu Chorälen.

   Rumänen vor den Toren der Welt hieß die beliebte Outdoor-Performance, die auf dem Hauptplatz hinter dem Theater der Jugend bei strahlendem Sonnenschein gezeigt wurde. Lebende Statuen des Bukarester Masca-Theaters boten den Passanten die Möglichkeit, einige der bemerkenswertesten rumänischen Persönlichkeiten der Belle Époque und der Zwischenkriegszeit zu entdecken. Mihai Mălaimares Inszenierung gliederte sich in zwei Episoden mit den suggestiven Namen: "Bronze" für Prominente aus den Naturwissenschaften und "Porzellan" für künstlerische Figuren.

In den sechzig Jahren seines Bestehens hat sich das Theater der Jugend aus Piatra Neamţ einen Namen als Startrampe für Schauspieler, Regisseure und Komponisten gemacht, die herausragende berufliche Laufbahnen eingeschlagen haben. Es ist kein Zufall, dass dieses Theater, zusammen mit dem Piccolo Teatro di Milano, Toneelhuis Antwerpern und Teatre Lliure Barcelona, und anderen, Teil des europäischen Projektes "Unlock the City!" ist. Ziel ist es, ein qualitatives Wachstum städtischer Räume zu generieren und zur aktiven Sensibilisierung sowie zur Einbindung von Gemeinschaften, Organisationen und der öffentlichen Verwaltung beizutragen.

Ausdrucken?

.
Zurück zur Übersicht