"Ich
weiß, dass mir die Chance, glücklich zu sein, immer noch entkommt, zumal ich
davon nur geträumt habe". In fünf Sprachen wird die vom Regiepult geäußerte
Ansage wiederholt. Mit sanfter Stimme beruhigt Stefano Ricci, Regiekünstler
des aus Rom stammenden ricci/forte Performing Arts Ensemble, die
zwanzig sich auf der Bühne des Zagreber Jugendtheaters krampfartig bewegenden
Körper und "rüttelt" sie wach. Die Sprachenvielfalt ist kein Zufall, befinde
ich mich doch bei einer Vorstellung der École des Maîtres. Bei diesem
1990 vom Theaterkritiker Franco Quadri gegründeten Workshop mit
Wandercharakter treffen jährlich junge Schauspieler aus Belgien, Frankreich,
Italien und Portugal mit international renommierten Regisseuren zusammen, um
den Austausch zwischen verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen und
Sprachkonzepten zu fördern. Zum ersten Mal ist 2014 Kroatien mit dabei. Zu
den bisherigen Meistern gehören prominente Künstler wie unter anderem Luca
Ronconi, Jerzy Grotowski, Lev Dodin, Peter Stein, Matthias Langhoff,
Eimuntas Nekrosius, Jan Fabre, Pippo Delbono und Rafael Spregelburd.
Schon in ihrem
ersten Werk zeigte das
international gefeierte Duo Stefano Ricci und Gianni Forte, die diesjährigen Maîtres,
ihr Unterfangen, an der bürgerlichen Ordnung zu rütteln und die in
Vergessenheit geratenen menschlichen Werte wiederzubeleben. Kein Wunder
also, dass sie als Titel ihres
dreiwöchigen Workshops Jean Genets Waisenhaus-Marke JG matricule 192102
auswählten und damit "das Thema des Exils unserer Identität" untersuchten.
Einsamkeit des modernen Menschen, Wirkung der elektronischen Geräte auf
die Jugend, soziale Wahrnehmung, Sehnsucht nach Geborgenheit und
Verlust der Liebe sind einige der immer wiederkehrenden Themen, die
ricci/forte beschäftigen. Bekannt für ihr Bestreben, die Kraft der Fantasie
wiederzubeleben, schaffen sie es, ihr Publikum von der ersten bis zur
letzten Minute zu fesseln und zu begeistern. Mit ungewöhnlichen Bildern und
überraschenden Einfällen wird jede ihrer Inszenierungen zu einem
Theatererlebnis der besonderen Art.
"Bitte lasst
euer Hirn in der Garderobe, öffnet euer Herz und genießt die Reise". Mit
diesen Worten lädt Stefano Ricci die Zuschauer in den Zagreber Saal ein.
Während Gianni Forte die Zuschauer zu ihren Sitzplätzen begleitet, bereiten
sich die nur mit Unterwäsche bekleideten Schauspieler auf die Vorstellung
vor. Auf der leergeräumten Bühne schneiden sie ihre Nägel, frisieren,
schminken oder enthaaren sie sich. Augenblicklich wird ein enger Kontakt zum
Publikum, das die Bühne von drei Seiten umringt, hergestellt. Richard
Wagners Tannhäuser, Sinnbild des Zwiespalts zwischen heiliger und
profaner Liebe und der Erlösung durch Liebe, sorgt effektvoll für die
Hintergrundmusik. Welch ein passender Beginn! Die inzwischen in
Internatsuniformen gekleideten Performer stellen sich in zwei Reihen auf.
Eine kleine Armee anonymer Gestalten, dem Schicksal des französischen Schriftstellers Genet
ähnlich, dessen Mutter ihn im Alter von sieben Monaten bei der öffentlichen
Fürsorge abgab.
Dass
Internet-Liebe im Facebook-Zeitalter selbstverständlich ist, ist allgemein
bekannt. So erzählt der belgische Schauspieler Cédric Coomans in einem
spritzigen Monolog von seinem glücklichen Verhältnis zu einer
"Seelenfreundin", die er in einem Chat-Raum traf. Einen ganzen Monat lang
"Konversation" auf WhatsApp, Selfie-Foto als Annäherungsversuch, eine
"sexuelle" Beziehung auf Skype. Die perfekte Abbildung unserer heutigen
Gesellschaft. Erwartungsgemäß kann es da auch zu Pannen kommen, gelang es
dem Verliebten in seiner Aufregung doch nur, eine Aufnahme seiner Vorderzähne zu
machen. Und weg ist das Bild, denn Instagram ist gnadenlos. Die Geschichte
sprüht vor Humor. Denn auch in der Skype-Beziehung sollte es anfangs zu
einem Fehlstart kommen, als die Internetverbindung zusammenbrach. Und das
genau dann, als der sexuelle Höhepunkt erreicht wurde! Solche textgeladenen
Szenen und überwältigende bildhafte Momente ergänzen sich in ricci/fortes
Inszenierung wunderbar. So zum Beispiel die Beicht-Szene, in der die nur mit
Unterwäsche bekleideten Jugendlichen in zwei Reihen auf dem Boden von
Angesicht zu Angesicht knien. Dem Zufallsprinzip folgend heben sie den Kopf
aus dem Waschbecken, beichten ihre Sünden und bekreuzigen sich. Genets
Internatsleben lässt erneut grüßen.
"Sehr geehrte
Damen und Herren, bitte schalten Sie Ihre Mobiltelefone ein und erhöhen Sie
die Lautstärke Ihrer Geräte". So manch Zuschauer gerät in Versuchung, sein
Smartphone zu prüfen. Es kommt aber nicht dazu. Denn unverzüglich beginnen
die Performer Fotos von ihren intimsten Körperteilen in den
unterschiedlichsten Positionen zu machen. Sie fotografieren sich selbst oder
gegenseitig und haben dabei großen Spaß. Ein subtiler Hinweis auf die
Unmenge von porno-ähnlichen Bildern, die im Internet hochgeladen werden.
Auch an
Interaktion mit dem Publikum fehlt es nicht. In einer überraschenden
Improvisations-Szene nähern sich die Schauspieler den in der ersten Reihe
sitzenden Zuschauern und weisen auf ihre Schmuckstücke hin, während sie
ihnen einige Worte ins Ohr flüstern. Eine originelle Idee, den berüchtigten
Dieb und Landstreicher Genet auf der Bühne vervielfacht darzustellen. Selbst
Genets sexuelle Orientierung wird nicht ausgelassen. So werden die
gleichmäßig fortdauernden Vor- und Rückwärtsbewegungen der "Wand" von
Männern, die sich begrabschen und ablecken, nur mit viel Mühe von den
hartnäckigen Attacken der Schauspielerinnen unterbrochen.
Für mich jedoch
war die bewegendste Szene die, in der sich umarmende und küssende
Liebespaare mit Gewalt von anderen Performern auseinandergezerrt werden. Und
auch die Musik (Soundtrack aus Schindler's Liste) passte sich der
"umgebrachten" Liebe bestens an. Entsprechend überzeugend war die gesamte
Musikauswahl. Die Palette reichte von russischen Märschen und italienischen
Opernausschnitten über Musik der 70er Jahre von Petula Clark, Amalia
Rodriguez und Raffaella Cara bis zu zeitgenössischen Pop-Liedern von Sarah
Blasko oder Scott Matthew. "Ich bin gezwungen, alleine zu sein", singt
Matthew in dem Schlusssong Abandoned. Ist die Reise auf der Suche
nach Liebe nur ein Traum gewesen? Bleibt denn keine Hoffnung mehr?
Ricci/fortes Universum sorgt für nachdenkliche Stimmung, die einige
Zuschauer sicher noch eine Weile begleiten wird.
Dieser Bericht war nur Dank der großzügigen Unterstützung des CSS
Teatro stabile di innovazione del Friuli Venezia Giulia möglich.