Das
explosive Rockkonzert in der Regie von Albu István bleibt immer nah am
Erzählfaden von Büchners Drama. Während die Musikstücke die depressiven
Halluzinationen des Protagonisten, der zwischen seinen militärischen und
moralischen Pflichten gefangen ist, veranschaulichen, unterstreichen das
metallische Bühnenbild mit seinen käfigartigen Strukturen (Szőke Zsuzsi) und
die präzise Lichtsetzung (Albu István und Erőss László) die düstere Stimmung
gekonnt. Regisseur Albu István hat eine beklemmende Atmosphäre geschaffen,
getragen von den grandiosen Schauspielern, die vorlagengetreu auf Deutsch
singen und sich auch als Meister ihrer jeweiligen Instrumente (Gitarre,
Violine, Bratsche, Schlagzeug) erweisen.
Mit diesem und fünf weiteren bemerkenswerten Produktionen
beeindruckte der Showcase des Nord-Theaters (Teatrul de Nord), welcher vom
28. März bis 2. April in Sathmar (Satu Mare), der Hauptstadt des
gleichnamigen Kreises im Nordwesten Rumäniens, dicht an der Grenze zur
Ukraine und zu Ungarn, stattfand. Das Einzigartige an diesem Theater sind
die zwei Theatergruppen, die hier tätig sind: die rumänischsprachige
(benannt nach dem Regisseur Mihai Raicu) und die ungarischsprachige (benannt
nach dem Regisseur und Schauspieler Harag György). So wurden im
bis zu 426 Zuschauer fassenden
Theatersaal abwechselnd je eine rumänische und ungarische Produktion
mit Übertitelung in der jeweils anderen Sprache an sechs
aufeinanderfolgenden Abenden gezeigt.
Zeitgenössisches in bester Aufführungsqualität
Momo,
die von der Hausregisseurin Diana Dragoş in Szene gesetzte
Eröffnungsproduktion des Showcases war – im Einklang mit dem gleichnamigen
Roman von Michael Ende – poetisch und atmosphärisch zugleich. Die Welt, die
das Mädchen namens Momo vor böswilligen Avataren retten muss, präsentiert
sich in einer zunehmend vom Kapitalismus geprägten Gesellschaft mechanisiert
und roboterhaft. Regisseurin Diana Dragoş
setzt auf wirkungsvolle Art und Weise Technologie ein, indem Schauspieler
mit Projektionen auf einer weißen Filmleinwand interagieren oder von einer
darüber schwebenden Kamera gefilmt werden.
Ergänzt wurde das Programm der "Mihai Raicu"-Gruppe durch
zwei zeitgenössische Stücke. Hochzeit in Oaş (Nuntă în Oaş) basiert
auf Anca Munteanus Text, der 2022 in der dramatischen Schreibwerkstatt
"Drama5" beim Kreations- und Experimentreaktor in Klausenburg entstand. Aus
den witzig-spritzigen Dialogen lässt sich ein ironischer Unterton
heraushören. Das Stück spricht mit viel Humor über die heutige Welt, vor
allem aber über das Phänomen der Auswanderung. Seit 2002, als rumänische
Staatsbürger ohne Visum in die EU einreisen durften, sind drei bis vier
Millionen Bürger in den Westen abgewandert – ungefähr jeder fünfte bis
sechste Rumäne verdient sein Geld im Ausland. Die Handlung spielt in einem
Dorf in Ţara Oaşului, der historischen Region in Nord-Siebenbürgen, die rund
600 Kilometer von der Hauptstadt Bukarest entfernt liegt. Die Gegend ist
untypisch für Rumänien. Zahlreiche Orte schwimmen im Geld, denn viele aus
den Dörfern haben sich als erfolgreiche Bauunternehmer im Ausland
niedergelassen. Um ihre protzigen Villen daheim kümmert sich meist nur noch
die ältere Generation.
Anca
Munteanus Erzählung folgt einer jungen Frau, die im Begriff ist zu heiraten.
Die Gefühle der einundzwanzigjährigen Braut verwandeln sich schnell in den
verzweifelten Wunsch, die Hochzeit um jeden Preis zu vermeiden.
Währenddessen versucht sie immer wieder, den Mut aufzubringen, über die
Probleme zu sprechen, die sie plagen. Denn eigentlich möchte sie in
Klausenburg studieren anstatt eine Familie zu gründen. Doch handelt es sich
nicht um eine feministische Auseinandersetzung, denn der Text lässt erahnen,
dass es auch die Männer schwer haben. Cristian Bans Inszenierung und die aus
den Improvisationen der Schauspieler entstandenen Textergänzungen sorgen für
Slapstick-Momente und viele Lacher, aber auch für Momente der Stille und des
Nachdenkens.
Tudor Prodan, der für Bühnenbild und Kostüme
verantwortlich zeichnet, gelingt es auf hervorragende Art und Weise eine
Hochzeitsatmosphäre mit ländlichem Charakter zu schaffen. Die bewusst
eingesetzten Kontraste verstärken die humorvolle Seite der Geschichte: Ein
Betonmischer dreht sich vor einem Saal mit prächtigen Kronleuchtern, die
Gäste müssen auf billigen Plastiksesseln Platz nehmen, die Braut betritt die
Bühne in Hochzeitskleid, Jogger-Jacke und Flip-Flops. Die Oaş-Gegend wird im
Guten wie im Schlechten enthüllt. Besonders hervorzuheben sind die von
Cristina Milea entworfenen Hochzeitskostüme in der spezifischen Volkstracht
der Region. Vergangenheit und Gegenwart werden eng miteinander verwoben
durch die vom Komponisten Vlad Giurge raffiniert gemischte traditionelle
Musik mit Pop- und Elektroelementen. Erwähnenswert ist auch das originelle
"Programmheft", bestehend aus sechs kleinen Blättern, auf deren Rückseite je
ein Hundert-Euro-Schein abgebildet ist. Durch spritzige Dialoge, gepaart mit
unzähligen Missverständnissen, entwickelt sich ein schwungvolles Stück mit
einem höchst unerwarteten Ende.
Zu
einer turbulenten Komödie lud Freetime ein. Der von Gian Maria Cervo
und den Presnjakow-Brüdern im Rahmen eines internationalen kollektiven
Schreiblabors verfasste Text ist eine Mischung aus wütender Farce,
Detektivgeschichte, Actionfilm und philosophischen Gedanken. Ausgehend vom
Konkurs der US-Investment-Bank Lehman Brothers, der 2008 zur Auslösung der
globalen Finanzkrise führte, erkundet das Stück die letzten Jahre der
europäischen und globalen Geschichte. Entstanden ist ein Werk, das eine
Vielfalt an Themen behandelt, darunter Grenzen, Migration und Entwurzelung,
wobei auch Kritik an der EU, an künstlicher Intelligenz und umstrittener
zeitgenössischer Kunst nicht fehlen.
Ironisch-bitter wirkt schon das von Steffi Rehberg
gestaltete Bühnenbild: Ein Porzellantoilettenbecken, das an Marcel Duchamps
berüchtigte "Fontaine" von 1917 erinnert, ist in der Mitte der Bühne vor
riesigen, halbtransparenten Würfeln – die sogenannten "Open Cubes" des
amerikanischen Künstlers Sol LeWitt – platziert. Das geschickt gehandhabte
Videokonzept (Vincenzo Marsiglia) ist für das Schaffen einer bestimmten
Atmosphäre ebenso wichtig wie die klug ausgewählte Musik (Saga Björklund
Jönsson), die sich jeweils nie in den Vordergrund drängen, aber Szenen
unglaublich dicht illustrieren. Licht- und Rauchspiele sowie bewusst
eingesetzte Requisiten veranschaulichen perfekt das Chaos der heutigen
Gesellschaft.
Durch die Verflechtung von scheinbar zusammenhanglosen
Szenen, die in nicht-linearer Reihenfolge erzählt werden, wird der
Betrachter in eine Abfolge unterschiedlicher Zustände versetzt, die sich
ständig verändern und das Ganze zu einem spannenden Erlebnis machen. Der
deutsch-schweizerische Regisseur Nicola Bremer fügt dem Stück eine neue
Ebene hinzu, einen roten Faden, der alle Szenen vereint. Der experimentelle
Text folgt einem Mann, der mehrere Leben führt. In all den parallelen
Realitäten versucht er, sein Bedürfnis nach Bestätigung und Anerkennung zu
stillen. Die lähmende Angst vor Einsamkeit führt ihn ständig dazu,
Kompromisse einzugehen und seine Energie zu opfern, um es allen recht zu
machen. Für Nicola Bremer stellen die Parallelwelten nur Teile eines
Albtraums dar, aus dem der Protagonist versucht – und es am Ende auch
schafft – sich zu befreien. Sowohl das Stück als auch die anspruchsvolle Art
der Inszenierung verlangen den Schauspielern sehr viel ab, und alle sind der
Herausforderung gewachsen. Als Ergebnis einer internationalen Zusammenarbeit
mit dem Teatro Stabile delle Arti Medioevali und dem Festival Quartieri
dell'Arte, regt Freetime die Fantasie der Zuschauer an und öffnet
neue Erfahrungsräume.
Klassiker in grandioser
neuer Aufmachung
Es
ist kein Zufall, dass der Showcase sehr gut besucht war. Heiter ging es zu
in den zwei weiteren Produktionen der "Harag György"-Gruppe. Beide bewiesen,
dass zeitgenössisches Schauspiel sich an klassischen Texten entzünden kann.
Die dramatische Dichtung Csongor und Tünde des ungarischen
Schriftstellers Vörösmarty Mihály wurde in der Gattung Gesamtkunst zu neuem
Leben erweckt. Das Märchenspiel der ungarischen Romantik ist volkstümliches
Feenmärchen und philosophische Utopie in einem. Erzählt wird die
wechselvolle Liebesgeschichte des Junkers Csongor, der verbotenerweise ins
Feenreich eindringt, und der Fee Tünde, die dem Geliebten, mehrfach
entrissen durch die Machtspiele der Hexe Druse und ihrer Teufelssöhne,
schließlich auf die Erde folgt. Aber erst muss der "Dreierweg des Irrtums"
voll ausgeschritten werden. Auf der Suche nach "Heilsheim" durchwandert
Csongor Welt und Kosmos, erlebt Anmaßung und Scheitern des irdischen
Strebens, ehe ihm das Ziel seiner ewigen Sehnsucht, die Liebe, näherrückt.
Die kongeniale Inszenierung des russischen Regisseurs
Sardar Tagirovsky erschließt Kindern die fantastische Märchenebene und
ermöglicht Erwachsenen die genussvolle Rezeption dieses Werks der
Weltliteratur – Pflichtliteratur in der 3. Klasse Oberstufe an ungarischen
Gymnasien. Unheimlich konzentriert und aufnahmefähig wirkte das
hauptsächlich aus Jugendlichen und Studenten bestehende Publikum während der
viereinhalb Stunden (mit zwei Pausen). Die Mischung aus klassischem Theater
und innovativem Stil brachte Frische in das epische Drama für Kenner und gab
auch Laien einen Überblick über Leben und Werk des Dichters. Dies war auch
der Dramaturgie von Bessenyei Gedö István zu verdanken, der das Gedicht
durch einleitende Texte zu Beginn eines jeden Aktes bereicherte. Dazu trug
auch ein wohlüberlegter Regieeinfall bei: Zwei Schauspieler waren auf der
Bühne allgegenwärtig und spielten den Autor des Textes selbst bzw. die Frau,
die dieses romantische Gedicht inspiriert hat. Ihre ausschließlich auf
Gesten basierende Interpretation vertiefte das Mysterium.
Mit
einer umfangreichen Besetzung und einem passenden Bühnenbild (Kupás Anna)
würdigte die Inszenierung in ihrer technischen und erzählerischen
Komplexität diesen Meilenstein der ungarischen Romantik des 19.
Jahrhunderts. Eine aufgehängte Videokamera oder rotierende Scheibe auf dem
Boden nutzten die besonderen Fähigkeiten der Bühne, die im Nord-Theater zur
Verfügung stehen. Auf jedes kleinste Detail wurde geachtet, um die
märchenhafte Atmosphäre hervorzuheben: Ein "goldener Apfel" stieg von der
Decke herab, ein Stock glitt von selbst über die Bühne. Aus ästhetischer
Sicht atemberaubend! Noch dazu nutzte die Inszenierung gekonnt den Saal und
die vorderen Logen im Parkett. Denn die Schauspieler beschränkten ihr Spiel
nicht nur auf die Bühne.
Mit Anatevka, dem 1964 am Broadway uraufgeführten
Werk von Joseph Stein und Jerry Bock, endete der Showcase in Sathmar vor
nahezu vollen Rängen, mit einer großen homogenen Besetzung, bestehend aus
über dreißig Schauspielern und sechs Musikern des Orchesters der lokalen
Philharmonie "Dinu Lipatti" im Orchestergraben. Eine Wohltat für Auge, Ohr
und Herz. Auch, weil Márkó Eszters Inszenierung berührt und gekonnt zwischen
Glück und Tragik balanciert. Das Musical mit weltbekannten Liedern wie "Wenn
ich einmal reich wär’" will vor allem Hoffnung in schwierigen Zeiten machen.
Die enge Welt von Anatevka, dem Schtetl im zaristischen
Russland des Jahres 1905, das von Traditionen, Vorgaben und
Erwartungshaltungen geprägt ist, wird im Bühnenbild von Bodor András
spürbar. In der Vorliebe für Holz spiegelt sich die ländliche Landschaft
wider. Die Fronten der Häuser stehen eng beieinander; einige geben Einblick
in die privaten Räume. Innen und außen, gesellschaftliches und privates
Leben verschwimmen. Gleichzeitig lässt die Häuserzeile ausreichend Raum für
die großen Ensemblenummern, bei denen das gesamte Ensemble die Menschen im
Publikum voller Spielfreude für sich einnimmt. Darabos Péters Choreografie
und die sprühende Energie der Schauspieler aller Altersgruppen nimmt die
Zuschauer mit auf eine Reise durch Raum und Zeit. Die sehr gelungenen
Kostüme von Kupás Anna vervollständigen den überaus positiven
Gesamteindruck. Private Momente des Glücks stehen bedrohlichen
gesellschaftlichen Entwicklungen und Spannungen gegenüber. Dieses
Wechselspiel bringt Regisseurin Márkó Eszter eindringlich und gleichzeitig
unterhaltsam auf die Bühne. Sie nimmt die Zuschauer mit in den Mikrokosmos
eines Schtetls aus dem frühen 20. Jahrhundert und rückt dabei gezielt die
auch heute noch aktuellen Themen wie Heimatverlust, Flucht und Vertreibung
in den Fokus. Und doch behält die Inszenierung bis zum Ende ihren
Optimismus.
Puppentheater vom
Feinsten
Zum
Abschluss gab es noch ein letztes Schmankerl: Eine Premiere des
Brighella-Puppentheaters, das heuer sein 20-jähriges Bestehen als Teil der
ungarischen Abteilung feiert (die "Harag György"-Gruppe selbst wird im
Herbst dieses Jahres ihr 70-jähriges Jubiläum zelebrieren). Matti, der
Gänsejunge (Lúdas Matyi) heißt das Anfang des 19. Jahrhunderts von
Mihály Fazekas geschriebene Poem, das auf Volkserzählungen unbekannter
Herkunft basiert. Die Geschichte ist schnell erzählt. Als Matti, ein
einfacher Junge, versucht, sechzehn Gänse auf dem Markt zu verkaufen, ärgert
sich der örtliche Landadlige, dass Matti ihm den Preis vorschreibt. Die
Gänse werden beschlagnahmt und Matti mit Schlägen bestraft. Als Matti
erklärt, er werde alles dreifach zurückzahlen, bekommt er noch eine weitere
Portion Schläge. Nachdem Matti einige Jahre in anderen Gegenden verbrachte,
kehrt er in das Dorf zurück und schafft es tatsächlich durch List und
Schlauheit, sein Versprechen zu erfüllen. Die Geschichte ist ein ironischer
Fingerzeig an die Landadligen, einfache Leute nicht grundlos zu bestrafen.
Matti ist der erste Volksheld der ungarischen Literatur, der über seinen
Herrn siegt. Im kleinen Saal, der der Brighella-Gruppe gehört, erlebten zwei
Volksschulklassen Unterhaltung vom Feinsten. Die kleinen Gäste fieberten mit
Matti lautstark mit und halfen ihm dabei, Gerechtigkeit zu schaffen.
Besonders nennenswert ist auch, dass jeder Aufführung ein
Publikumsgespräch folgte – eine bereichernde Initiative, die sowohl Einblick
in die Zusammenarbeit zwischen Schauspielern und Regisseuren verschaffte
sowie zu einem regen Austausch der Anwesenden führte. Überhaupt war die
Stärke des Showcases sein Vermittlungsanspruch. Die beispielhafte
Organisation und der reibungslose Ablauf sind nicht zuletzt den Direktoren
der zwei Theatergruppen, Bessenyei Gedö István und Ovidiu Caiţa, und ihren
Teams zu verdanken. Selten wurde ich derart gut unterhalten und meine Seele
so berührt wie in Sathmar.