Zu
erleben gab es eine Menge: Puppentheater, audio-visuelle Installationen,
Workshops für Kinder und Jugendliche, Produktionen staatlicher und freier
rumänischer Theater, Aufführungen lokaler Schüler- und Studentengruppen
sowie eine große Palette an Konferenzen, Konzerten, Ausstellungen und
Buchpräsentationen. Neben dem Theatersaal – einem adaptierten Kinosaal mit
einer Kapazität von 250 Sitzplätzen, wurden auch außergewöhnlichere
Spielstätten wie Synagoge, Universität, Wasserkraftwerk und Museum bespielt.
Mit einer Reihe von unterhaltsamen Aufführungen im Freien sowie in der
Nachbarstadt Rădăuţi – Matei Vişniecs Geburtsort – ließ sich eine große
Zielgruppe nachhaltig erreichen.
Krieg und
seine Folgen
Weltbekannt
für die bemalten Klöster der Bukowina – ein UNESCO-Weltkulturerbe
– befindet sich
Suceava nur 40 km von der ukrainischen Grenze und knappe 100 km von der
Grenze zu Moldawien entfernt. Kein Wunder, dass drei Theater aus Moldawiens
Hauptstadt Chişinău ihre Werke in Suceava präsentierten. Das Nationaltheater
"Satiricus" unter der Leitung von Alexandru Grecu war gleich mit zwei
Produktionen vertreten. Es gebührte aber Regisseur Slava Sambriş, Direktor
des moldawischen "Luceafărul"-Theaters, die Festivaltage mit der Premiere
Obstgarten – eine moderne Bearbeitung von Tschechows "Der Kirschgarten"
– zu eröffnen.
Gerade wegen ihrer
inhaltlichen, gesellschafts- und kulturpolitischen Bedeutung stand jedoch
die Produktion des Nationaltheaters "Mihai Eminescu" aus Chişinău im
Vordergrund. Petru Hadârcă verknüpft in Die Falle Michail Bulgakows
Biografie mit den Charakteren und Ereignissen seines Stücks "Die Flucht".
Virtuos spielt der Regisseur mit dem Politischen und Imaginären. Als
kollektive Gruppe von erschreckender Macht treten immer wieder Charaktere
verkleidet als Küchenschaben auf. So lotet Petru Hadârcă in dem Stück das
Verhalten von Menschen während des Zusammenbruchs des Russischen Reiches aus
und zeichnet das Porträt einer Gesellschaft, die unausweichlich von
Parasiten befallen ist. In sich schlüssig und getragen von einer starken
Ensembleleistung fesselte die Inszenierung durch ihre kühnen Brüche im
Erzählstrang, ihre hyperbolischen Referenzen an Bulgakows Welten und eine
klug austarierte Personenregie.
Als ganz besonderer Gast
zeigte das Dramatheater "M. S. Shchepkin" aus dem ukrainischen Sumy die
Eigenproduktion Haut und Himmel. Im Stück von Dimitré Dinev – einem
in Österreich lebenden Schriftsteller bulgarischer Herkunft, treffen zwei
Menschen auf dem Schlachtfeld aufeinander: ein Soldat und eine Frau, die
sich Wertgegenständen von Leichen bedienen. Gekonnt hebt die Inszenierung
des moldawischen Regisseurs Radu Ghilaş den zwischen Zynismus und Idealismus
pendelnden Dialog hervor und beweist, dass die Kraft der Liebe auch dann
bestehen bleibt, wenn die Hoffnung verloren geht. Als beim Schlussapplaus
die ukrainische Flagge von den Künstlern entrollt wurde, sorgte dies für
einen Gänsehaut-Moment beim Publikum. Uns wurde noch einmal bewusst, wie
nahe der Krieg tobt.
Eine Hommage an Frauen und Juden
Auch
Elise Wilks Stück Verschwinden berichtet vom Trauma einer
Gesellschaft. Dabei folgt die Autorin der Geschichte der
Siebenbürgen-Sachsen zwischen Deportationen und Emigrationen und stellt die
Erfahrung von drei Frauen aus drei Generationen einer Familie in den
Mittelpunkt. Ein international erfolgreicher Text, der in Suceava von
Regisseur Cristian Ban in der Produktion des „Andrei Mureşanu“-Theaters aus
Sfântul Gheorghe gezeigt wurde. Neben sozial-politischen Friedenswünschen
behandelten Gastspiele auch Familien- und persönliche Konflikte. Die
ganze Stille der Welt ist ein Querschnitt der Mutter als "Schlachtfeld"
zwischen den Bedürfnissen des Kindes und der Außenwelt. Mihaela Michailovs
Monodrama spricht über eine alleinerziehende Mutter zweier Burschen, von
denen einer an einer schweren Form von Autismus leidet. Radu Apostols
Inszenierung – produziert beim Bildungstheaterzentrum Replika in Bukarest (ein Theater der freien Szene), beeindruckt durch Feingefühl und Poetik. Die
weibliche Figur und ihre Konflikte werden auch in Mutter behandelt,
eine Produktion des Nationaltheaters "Radu Stanca" aus Hermannstadt (Regie
Mariana Cămărăşan). Das Stück von Marta Barceló erzählt die Geschichte
zweier Frauen, die die Chance erhalten, ihre Einsamkeit zu teilen und einen
Grund zu finden, das Leben zu genießen.
Mehrere Stücke von Matei
Vişniec standen auf dem Programm, so zum Beispiel
Die Rückkehr nach Hause,
Der zum Tode verurteilte Zuschauer oder Occident Express.
Letzterer gilt als einer der Höhepunkte des Festivals, handelt es sich
dabei doch um eine fremdsprachige Inszenierung des gastgebenden Theaters. Anhand
der Metapher des Orient-Express-Luxuszuges erzählt der Autor von den
Fantasien derer, die in Osteuropa von einem besseren Leben im Westen
träumen. Darüber hinaus ist Occident Express auch ein Abbild des
wilden Kapitalismus, der die kommunistische Utopie im Osten abgelöst hat.
Regisseur Alain Timár, Intendant des Théâtre des Halles, schafft eine
minimalistische Inszenierung mit drei Top-Schauspielern des
Gastgebertheaters, die perfekt Französisch sprechen. Somit sind die
Voraussetzungen für erfolgreiche Darbietungen beim diesjährigen Festival in
Avignon bestens erfüllt.
Alain Timár und Matei
Vişniec traten auch mit der performativen Lesung Erinnerung an Orte,
Erinnerung an Worte in den Synagogen in Suceava und Rădăuţi auf.
Zusammen mit zwei Schauspielern und dem Musiker Marius Alexandru Aluncăriţe
bekräftigten die beiden den Frieden. Nach einer kurzen Einleitung, die sich
mit der Deportation der Juden aus der Bukowina im Jahr 1941 befasste, folgte
ein von Timár gesprochenes Gebet auf Hebräisch. Vişniecs Text, bestehend aus
fünf Modulen ("Fleischfressende Schmetterlinge", "Das Tier mit vier
Mündern", "Schädlingsschnecken", "Menschen mit grünen Augen",
"Der
Fehlerbeheber"), erinnerte daran, dass die Gefahr der Wiederholung des Bösen
überall lauert, sowohl außerhalb des Menschen als auch in seinem Inneren.
Spielerisches und
komödienhaftes Ende
Bei der Akademie,
die Produktion des Theaters "Mihai Eminescu" aus Botoşani – nur 40 km
östlich von Suceava entfernt, bot einen angemessenen, schwungvollen
Abschluss. Alexandra Felseghi greift in ihrem Text eine Reihe von ländlichen
Themen auf. In einem fiktiven Dorf (erkennbar allerdings an der verwendeten
Sprache) wird im Winter ein Fest organisiert. Stattfinden soll es in einer
Kneipe namens "Akademie". Die Organisation des Festes verändert die Dynamik
des Ortes und belebt die Bevölkerung. Eine Reihe dramatischer Ereignisse
erschüttert die Stimmung und führt zu tiefgreifenden Veränderungen in den
Machtverhältnissen. Das Stück setzt sich mit den gängigsten Klischees der
Dörfer auseinander. Jenseits des Humors bleibt jedoch ein bitterer
Nachgeschmack: Es ist die Geschichte von Menschen, deren Universum auf dem
Weg zum Aussterben ist. Es war das Bedürfnis von Regisseur Andrei Măjeri,
eine Hommage an die ländliche Welt Rumäniens zu bringen. Das Bühnenbild
(Adrian Balcău) präsentiert eine Collage aus Perser- und Bauernteppichen,
umringt von Schneebergen, die auf einer rechteckigen Minibühne platziert
sind. Besonders beeindruckend sind die zahlreichen weißen Plastikstühle, die
von der Decke hängen – ein Symbol für die Einsamkeit des Dorflebens.
Selbstverständlich werden Machtfiguren wie der Bürgermeister oder der
Priester scharf ins Visier genommen. Umso bemerkenswerter für mich, dass im
ausverkauften Saal etliche Kirchenvertreter und Nonnen im Publikum saßen!
Von Klein bis Groß
versammelten sich anschließend hunderte Zuschauer auf dem Platz vor dem
Theater, um einer eindrucksvollen Feuerwerk-Show beizuwohnen. Begleitet
wurden die Theaterabende von zahlreichen Ausstellungen im Freien, im
Theaterfoyer und in der -bibliothek mit auffallenden Namen wie "Kulturelle
Nachspeise", "George Banu – der Geschichtenerzähler" oder "Wörter, die sich
verlaufen haben". Letzteres war für mich ein absolutes Novum: Um alte Bücher
vor dem Wegwerfen zu bewahren, wählte Luana Popa bestimmte Wörter aus
Seitentexten heraus, kreiste diese ein und bildete damit neue Sätze. Der
Rest der Seiten war von einer fantasievollen Zeichnung bedeckt. Ein weiteres
Beispiel für das Panorama der Vielfalt, Diversität und Qualität der
künstlerischen Arbeiten, die das internationale Festival "Die Tage des
Matei-Vişniec-Theaters" 2023 präsentierte.