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Theater für den Frieden im Nordosten Rumäniens

Als eines der jüngsten Theater Rumäniens lässt sich die Einrichtung in Suceava,
Zentrum der historischen Region Bukowina, bezeichnen. Höhepunkt der Saison des 2015
gegründeten und nach einem bekannten französischen Dramatiker rumänischer Herkunft
benannten Stadttheaters ist das internationale Festival "Die Tage des Matei-Vişniec-Theaters".
Vom 18. bis 28. Mai vereinte die diesjährige Ausgabe 64 Veranstaltungen unter dem
Motto "Frieden", ein Thema, das zumindest in diesem Teil der Welt in den letzten
Jahrzehnten dringender denn je zu sein scheint.

Von Irina Wolf
(17. 07. 2023)

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Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.


 

 




(c) Amedeia Vitega

"Die Falle"
(Regie:
Petru Hadârcă)

 

 

 


(c) Amedeia Vitega

"Haut und Himmel"
(Regie:
Radu Ghilaş)

 

 

 


(c) Amedeia Vitega

"Occident Express"
(Regie:
Alain Timár)

 

 

 


(c) Amedeia Vitega

"Bei der Akademie"
(Regie:
Andrei Măjeri)

   Zu erleben gab es eine Menge: Puppentheater, audio-visuelle Installationen, Workshops für Kinder und Jugendliche, Produktionen staatlicher und freier rumänischer Theater, Aufführungen lokaler Schüler- und Studentengruppen sowie eine große Palette an Konferenzen, Konzerten, Ausstellungen und Buchpräsentationen. Neben dem Theatersaal – einem adaptierten Kinosaal mit einer Kapazität von 250 Sitzplätzen, wurden auch außergewöhnlichere Spielstätten wie Synagoge, Universität, Wasserkraftwerk und Museum bespielt. Mit einer Reihe von unterhaltsamen Aufführungen im Freien sowie in der Nachbarstadt Rădăuţi – Matei Vişniecs Geburtsort – ließ sich eine große Zielgruppe nachhaltig erreichen.

Krieg und seine Folgen

   Weltbekannt für die bemalten Klöster der Bukowina – ein UNESCO-Weltkulturerbe befindet sich Suceava nur 40 km von der ukrainischen Grenze und knappe 100 km von der Grenze zu Moldawien entfernt. Kein Wunder, dass drei Theater aus Moldawiens Hauptstadt Chişinău ihre Werke in Suceava präsentierten. Das Nationaltheater "Satiricus" unter der Leitung von Alexandru Grecu war gleich mit zwei Produktionen vertreten. Es gebührte aber Regisseur Slava Sambriş, Direktor des moldawischen "Luceafărul"-Theaters, die Festivaltage mit der Premiere Obstgarten – eine moderne Bearbeitung von Tschechows "Der Kirschgarten" – zu eröffnen.

Gerade wegen ihrer inhaltlichen, gesellschafts- und kulturpolitischen Bedeutung stand jedoch die Produktion des Nationaltheaters "Mihai Eminescu" aus Chişinău im Vordergrund. Petru Hadârcă verknüpft in Die Falle Michail Bulgakows Biografie mit den Charakteren und Ereignissen seines Stücks "Die Flucht". Virtuos spielt der Regisseur mit dem Politischen und Imaginären. Als kollektive Gruppe von erschreckender Macht treten immer wieder Charaktere verkleidet als Küchenschaben auf. So lotet Petru Hadârcă in dem Stück das Verhalten von Menschen während des Zusammenbruchs des Russischen Reiches aus und zeichnet das Porträt einer Gesellschaft, die unausweichlich von Parasiten befallen ist. In sich schlüssig und getragen von einer starken Ensembleleistung fesselte die Inszenierung durch ihre kühnen Brüche im Erzählstrang, ihre hyperbolischen Referenzen an Bulgakows Welten und eine klug austarierte Personenregie.

Als ganz besonderer Gast zeigte das Dramatheater "M. S. Shchepkin" aus dem ukrainischen Sumy die Eigenproduktion Haut und Himmel. Im Stück von Dimitré Dinev – einem in Österreich lebenden Schriftsteller bulgarischer Herkunft, treffen zwei Menschen auf dem Schlachtfeld aufeinander: ein Soldat und eine Frau, die sich Wertgegenständen von Leichen bedienen. Gekonnt hebt die Inszenierung des moldawischen Regisseurs Radu Ghilaş den zwischen Zynismus und Idealismus pendelnden Dialog hervor und beweist, dass die Kraft der Liebe auch dann bestehen bleibt, wenn die Hoffnung verloren geht. Als beim Schlussapplaus die ukrainische Flagge von den Künstlern entrollt wurde, sorgte dies für einen Gänsehaut-Moment beim Publikum. Uns wurde noch einmal bewusst, wie nahe der Krieg tobt.

Eine Hommage an Frauen und Juden

   Auch Elise Wilks Stück Verschwinden berichtet vom Trauma einer Gesellschaft. Dabei folgt die Autorin der Geschichte der Siebenbürgen-Sachsen zwischen Deportationen und Emigrationen und stellt die Erfahrung von drei Frauen aus drei Generationen einer Familie in den Mittelpunkt. Ein international erfolgreicher Text, der in Suceava von Regisseur Cristian Ban in der Produktion des „Andrei Mureşanu“-Theaters aus Sfântul Gheorghe gezeigt wurde. Neben sozial-politischen Friedenswünschen behandelten Gastspiele auch Familien- und persönliche Konflikte. Die ganze Stille der Welt ist ein Querschnitt der Mutter als "Schlachtfeld" zwischen den Bedürfnissen des Kindes und der Außenwelt. Mihaela Michailovs Monodrama spricht über eine alleinerziehende Mutter zweier Burschen, von denen einer an einer schweren Form von Autismus leidet. Radu Apostols Inszenierung – produziert beim Bildungstheaterzentrum Replika in Bukarest (ein Theater der freien Szene), beeindruckt durch Feingefühl und Poetik. Die weibliche Figur und ihre Konflikte werden auch in Mutter behandelt, eine Produktion des Nationaltheaters "Radu Stanca" aus Hermannstadt (Regie Mariana Cămărăşan). Das Stück von Marta Barceló erzählt die Geschichte zweier Frauen, die die Chance erhalten, ihre Einsamkeit zu teilen und einen Grund zu finden, das Leben zu genießen.

Mehrere Stücke von Matei Vişniec standen auf dem Programm, so zum Beispiel Die Rückkehr nach Hause, Der zum Tode verurteilte Zuschauer oder Occident Express. Letzterer gilt als einer der Höhepunkte des Festivals, handelt es sich dabei doch um eine fremdsprachige Inszenierung des gastgebenden Theaters. Anhand der Metapher des Orient-Express-Luxuszuges erzählt der Autor von den Fantasien derer, die in Osteuropa von einem besseren Leben im Westen träumen. Darüber hinaus ist Occident Express auch ein Abbild des wilden Kapitalismus, der die kommunistische Utopie im Osten abgelöst hat. Regisseur Alain Timár, Intendant des Théâtre des Halles, schafft eine minimalistische Inszenierung mit drei Top-Schauspielern des Gastgebertheaters, die perfekt Französisch sprechen. Somit sind die Voraussetzungen für erfolgreiche Darbietungen beim diesjährigen Festival in Avignon bestens erfüllt.

Alain Timár und Matei Vişniec traten auch mit der performativen Lesung Erinnerung an Orte, Erinnerung an Worte in den Synagogen in Suceava und Rădăuţi auf. Zusammen mit zwei Schauspielern und dem Musiker Marius Alexandru Aluncăriţe bekräftigten die beiden den Frieden. Nach einer kurzen Einleitung, die sich mit der Deportation der Juden aus der Bukowina im Jahr 1941 befasste, folgte ein von Timár gesprochenes Gebet auf Hebräisch. Vişniecs Text, bestehend aus fünf Modulen ("Fleischfressende Schmetterlinge", "Das Tier mit vier Mündern", "Schädlingsschnecken", "Menschen mit grünen Augen", "Der Fehlerbeheber"), erinnerte daran, dass die Gefahr der Wiederholung des Bösen überall lauert, sowohl außerhalb des Menschen als auch in seinem Inneren.

Spielerisches und komödienhaftes Ende

   Bei der Akademie, die Produktion des Theaters "Mihai Eminescu" aus Botoşani – nur 40 km östlich von Suceava entfernt, bot einen angemessenen, schwungvollen Abschluss. Alexandra Felseghi greift in ihrem Text eine Reihe von ländlichen Themen auf. In einem fiktiven Dorf (erkennbar allerdings an der verwendeten Sprache) wird im Winter ein Fest organisiert. Stattfinden soll es in einer Kneipe namens "Akademie". Die Organisation des Festes verändert die Dynamik des Ortes und belebt die Bevölkerung. Eine Reihe dramatischer Ereignisse erschüttert die Stimmung und führt zu tiefgreifenden Veränderungen in den Machtverhältnissen. Das Stück setzt sich mit den gängigsten Klischees der Dörfer auseinander. Jenseits des Humors bleibt jedoch ein bitterer Nachgeschmack: Es ist die Geschichte von Menschen, deren Universum auf dem Weg zum Aussterben ist. Es war das Bedürfnis von Regisseur Andrei Măjeri, eine Hommage an die ländliche Welt Rumäniens zu bringen. Das Bühnenbild (Adrian Balcău) präsentiert eine Collage aus Perser- und Bauernteppichen, umringt von Schneebergen, die auf einer rechteckigen Minibühne platziert sind. Besonders beeindruckend sind die zahlreichen weißen Plastikstühle, die von der Decke hängen – ein Symbol für die Einsamkeit des Dorflebens. Selbstverständlich werden Machtfiguren wie der Bürgermeister oder der Priester scharf ins Visier genommen. Umso bemerkenswerter für mich, dass im ausverkauften Saal etliche Kirchenvertreter und Nonnen im Publikum saßen!

Von Klein bis Groß versammelten sich anschließend hunderte Zuschauer auf dem Platz vor dem Theater, um einer eindrucksvollen Feuerwerk-Show beizuwohnen. Begleitet wurden die Theaterabende von zahlreichen Ausstellungen im Freien, im Theaterfoyer und in der -bibliothek mit auffallenden Namen wie "Kulturelle Nachspeise", "George Banu – der Geschichtenerzähler" oder "Wörter, die sich verlaufen haben". Letzteres war für mich ein absolutes Novum: Um alte Bücher vor dem Wegwerfen zu bewahren, wählte Luana Popa bestimmte Wörter aus Seitentexten heraus, kreiste diese ein und bildete damit neue Sätze. Der Rest der Seiten war von einer fantasievollen Zeichnung bedeckt. Ein weiteres Beispiel für das Panorama der Vielfalt, Diversität und Qualität der künstlerischen Arbeiten, die das internationale Festival "Die Tage des Matei-Vişniec-Theaters" 2023 präsentierte.

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