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Frauen im Mittelpunkt

  In bester Spiellaune zeigte sich auch heuer wieder das Turiner Festival
delle Colline Torinesi
in seiner schon zweiundzwanzigsten Auflage. Ob Regisseurinnen,
Schauspielerinnen oder Autorinnen: Es waren vor allem die Frauen, die in den vergangenen drei
Wochen im Juni zur Hochform aufliefen, sei es in Form beeindruckender Darstellungskunst, durch
originelle Ideen bei der Inszenierung, nicht zuletzt aber auch durch ein allgemeines
Gespür für aktuelle soziale oder historisch brisante Themen.

Von Irina Wolf
(05. 07. 2017)

...



Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.
 



(c) Angelo Maggio

"Pedigree"
(Regie:
Valeria Raimondi)




 
Was geschieht, wenn
Bruder und Schwester
sich zufällig treffen und
ineinander verlieben?
Und, ganz nebenbei: Was
passiert eigentlich am
Ende mit den Hühnern?


 


(c) Claudia Pajewski

"Muttersprache Mameloschn"
(Regie: Paola Rota)



Großmutter, Mutter
und Enkeltochter bespre-
chen die traumatische
Geschichte des 20.
Jahrhunderts.





(c) Luca d' Agostino

"Tagebuch einer
serbischen Hausfrau
"
(Regie:
Fiona Sansone)




Die Geschichte von And-
jelika ist nicht nur eine
persönliche Erzählung,
viel mehr ist es das Bildnis
einer ganzen Generation,
die Opfer des Balkan-
krieges wurde.





(c) Doro Tuch

"50 Grades of Shame"
(Regie: She She Pop)

   Mit fast rituellen Gesten hebt der auf der Bühne stehende Schauspieler ein gerupftes Huhn hoch, küsst es und setzt es zum Grillen auf den Drehspieß. Vier Mal wird das Prozedere wiederholt. Im Theatersaal verbreitet sich im Nu ein angenehmer Duft.

Die Hähnchen sind Teil von Babilonia Teatris neuester Produktion Stammbaum (Pedigree). Darin erzählt ein junger Mann von seinem Leben als Sohn des Frauenpaares "Mutter Marta und Mutter Perla". Es ist ein behagliches Universum bis zu dem Zeitpunkt, als der Bursche mit einem seiner Mitschüler eine Rechenaufgabe zu lösen hat: "Dennis und seine fünf Brüder, zusammen mit Mutter und Vater, kaufen vier Hühner. Wie viele wird jeder essen?" Die Hühner dieser acht Familienmitglieder können gerecht aufgeteilt werden. Was aber die reale Familie des Erzählers anbelangt, bleibt – bei zwei Hühnern für drei Personen – eine Hälfte übrig: jene, die für den abwesenden Vater bestimmt wäre. Letztlich bleibt in Babilonia Teatris Stück die Mathematik jedoch nebensächlich. Der Fokus wird klar auf die Familie gelegt.

   Das Recht auf Existenz des Anderen sowie Fragen nach Identität und Anderssein sind die Themen, die dieses Stück vordringlich behandelt. Der von Enrico Castellani (Autor und Darsteller zugleich) entworfene Text wirkt scharfsinnig und tiefgründig, wird darin doch unter anderem die zukünftige Entwicklung einer Gesellschaft, die sich der In-vitro-Fertilisation verschrieben hat, infrage gestellt.

Die Inszenierung von Valeria Raimondi, Mitbegründerin (zusammen mit Enrico Castellani) von Babilonia Teatri, bedient sich poetischer Sprachbilder, vor allem, um die zwei gutherzigen Mütter des Erzählers hervorzuzaubern: zwei weiße Kleider, die von der Decke baumeln; später wird zum Elvis-Song "Can’t help falling in love" damit getanzt. Knappe 50 Minuten beträgt die Spieldauer von Stammbaum, ausreichend, um die Zuschauer nachdenklich zu stimmen. Wie viele In-vitro-Kinder können weltweit einem und nur diesem Vater zugeordnet werden? Was geschieht, wenn Bruder und Schwester sich zufällig treffen und ineinander verlieben? Und, ganz nebenbei: Was passiert eigentlich am Ende mit den Hühnern? Nun, zumindest dieses Geheimnis sei hier gelüftet: Die Hähnchen wurden nach Vorstellungsende einem Gasthof aus der Turiner Gegend gespendet.

Ein Potpourri aus zeitgenössischer Dramatik

   Stammbaum gilt als eine der originellsten und berührendsten der insgesamt siebenundzwanzig Produktionen des Festivals delle Colline Torinesi, das dieses Jahr vom 4. bis zum 22. Juni stattgefunden hat. Ob Regisseurinnen, Schauspielerinnen oder Autorinnen: Die Festspiele stellten starke Frauen ins Zentrum ihrer 22. Auflage. Sasha Marianna Salzmann wurde dabei genau so viel Aufmerksamkeit gewidmet wie Nelly Sachs, Emily Dickinson oder Elena Ferrante.

Die erstgenannte Autorin, 1985 im damals noch sowjetischen Wolgograd geboren und später in Deutschland aufgewachsen, wurde 2013 mit dem Mülheimer Publikumspreis für ihr Werk Muttersprache Mameloschn geehrt. In Salzmanns Frauenstück besteht die Familie aus drei Generationen. Großmutter, Mutter und Enkeltochter besprechen die traumatische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Erzählungen über Holocaust und Kommunismus vermischen sich mit jiddischen Witzen und Liedern, wobei die Großmutterfigur den Vornamen der großen jiddischen Sängerin der DDR, Lin Jaldati, trägt. Drei sehr gute Schauspielerinnen bieten in Paola Rotas Inszenierung eine überzeugende Leistung. Freilich finden für Wiener Ohren leicht erkennbare jiddische Ausdrücke wie "Mischpoche" oder "Mameloschn" (das übrigens "Muttersprache" heißt) beim italienischen Publikum geringeren Anklang.

   Dafür haben aber die Monologe des Festivals, von denen hier zwei genannt seien, einen tiefen Eindruck hinterlassen. In Tagebuch einer serbischen Hausfrau (Diario di una casalinga serba) wird die Geschichte von Andjelika erzählt, einer jungen Frau, deren Kindheit sich in Titos Jugoslawien abspielt und die ihre Jugendjahre in Milosevics Serbien verbringt. Die Adaptierung für die Bühne (des gleichnamigen Romans von Mirjana Bobic Mojsilovic) ist jedoch nicht nur eine persönliche Erzählung, viel mehr ist es das Bildnis einer ganzen Generation, die Opfer des Balkankrieges wurde. Es verwundert nicht, dass sich ausgerechnet Ksenija Martinovic, eine junge Schauspielerin serbischer Herkunft, die seit vielen Jahren in Italien lebt, dieses Themas angenommen hat (für ihre hervorragende schauspielerische Leistung 2014 erhielt sie, dies sei hier nebenbei erwähnt, den Nationalen Preis für junge Theaterwirklichkeiten).

Die Inszenierung des Stücks, ausgeführt von Fiona Sansone, ist dabei geprägt von einem minimalistischen und zugleich fantasievollen Bühnendesign. Mit Zeitungen und ein paar Holzkisten, die zur Kostümaufbewahrung dienen oder als Sockel gestapelt werden, wird eine ganze historische Periode zum Leben erweckt. Dazu erklingt passende Hintergrundmusik, die von patriotischen jugoslawischen Liedern bis zu serbischen Pop-Schlagern reicht.

   Nicht minder souverän geht auch das Turiner Teatro Dionisio das 2015 vielfach preisgekrönte Stück Ifigenia in Cardiff an. Inspiriert von der Geschichte der Iphigenie, die in der griechischen Mythologie von ihrem Vater geopfert wurde, um gute Winde für die Fahrt nach Troja zu bekommen, erzählt Gary Owens zeitgenössisches Stück das Leben von Effie, einer jungen arbeitslosen und drogensüchtigen Frau aus Cardiff. Es ist ein außergewöhnlicher Monolog, der den bereits bröckelnden Sozialstaat widerspiegelt und die Frage stellt, wer heutzutage im Interesse von Eigennutz geopfert wird. Ein direkter Angriff auf die von Profit getriebene westliche Gesellschaft. Dass der erfahrene Regisseur Valter Malosti die Schauspielerin Roberta Caronia als Protagonistin ausgewählt hat, erweist sich als großer Gewinn. Ganz alleine an der Rampe, schafft sie es, für sechzig Minuten lang ein breites Wechselspiel aus Stimmungen und Gefühlen dem Publikum zu vermitteln. Eine bemerkenswerte Darstellung und eine brillante schauspielerische Leistung.

Wie jedes Jahr bot das Festival delle Colline Torinesi auch 2017 eine internationale Programmschiene, vertreten durch renommierte Künstler wie das deutsche Frauenkollektiv She She Pop, die Libanesen Lina Majdalane und Rabih Mroué oder den Griechen Euripides Laskaridis. In 50 Grades of Shame zeigten She She Pop in ihrer bekannten Art und Weise einen Bilderreigen, inspiriert von Frank Wedekinds Frühlings Erwachen und E. L. James Erotikroman 50 Shades of Grey. Nach dem Vorbild von Wedekinds utopischen Erziehungsmodellen verwandelt sich die Bühne in eine Lehranstalt, in der die Frauengruppe und ihre Gäste die Lehrkörper bilden. Auf zwei großen Bildschirmen entstehen Überblendungen von verschiedenen Körperteilen der Performer, übertragen durch mehrere Live-Kameras. Es sind dadaistische Bilder, die die Fantasie der Zuschauer beflügeln. In zahlreichen kleinen Szenen, komisch, bitter und grotesk zugleich, gelingt She She Pop ein humorvoller Zugang zum andauernden Thema der Sexualaufklärung. Der absolute Höhepunkt der Turiner Festspiele!

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