Mit
fast rituellen Gesten hebt der auf der Bühne stehende Schauspieler ein
gerupftes Huhn hoch, küsst es und setzt es zum Grillen auf den Drehspieß.
Vier Mal wird das Prozedere wiederholt. Im Theatersaal verbreitet sich im Nu
ein angenehmer Duft.
Die Hähnchen sind Teil von
Babilonia Teatris neuester Produktion Stammbaum (Pedigree). Darin
erzählt ein junger Mann von seinem Leben als Sohn des Frauenpaares "Mutter Marta
und Mutter Perla". Es ist ein behagliches Universum bis zu dem Zeitpunkt,
als der Bursche mit einem seiner Mitschüler eine Rechenaufgabe zu lösen hat:
"Dennis und seine fünf Brüder, zusammen mit Mutter und Vater, kaufen vier
Hühner. Wie viele wird jeder essen?" Die Hühner dieser acht
Familienmitglieder können gerecht aufgeteilt werden. Was aber die reale
Familie des Erzählers anbelangt, bleibt – bei zwei Hühnern für drei Personen
– eine Hälfte übrig: jene, die für den abwesenden Vater bestimmt wäre.
Letztlich bleibt in Babilonia Teatris Stück die Mathematik jedoch nebensächlich. Der
Fokus wird klar auf die Familie gelegt.
Das
Recht auf Existenz des Anderen sowie Fragen nach Identität und Anderssein
sind die Themen, die dieses Stück vordringlich behandelt. Der von Enrico
Castellani (Autor und Darsteller zugleich) entworfene Text wirkt
scharfsinnig und tiefgründig, wird darin doch unter anderem die zukünftige
Entwicklung einer Gesellschaft, die sich der In-vitro-Fertilisation
verschrieben hat, infrage gestellt.
Die Inszenierung von
Valeria Raimondi, Mitbegründerin (zusammen mit Enrico Castellani) von
Babilonia Teatri, bedient sich poetischer Sprachbilder, vor allem, um die
zwei gutherzigen Mütter des Erzählers hervorzuzaubern: zwei weiße Kleider,
die von der Decke baumeln; später wird zum Elvis-Song "Can’t help falling in
love" damit getanzt. Knappe 50 Minuten beträgt die Spieldauer von
Stammbaum, ausreichend, um die Zuschauer nachdenklich zu stimmen. Wie
viele In-vitro-Kinder können weltweit einem und nur diesem Vater zugeordnet
werden? Was geschieht, wenn Bruder und Schwester sich zufällig treffen und
ineinander verlieben? Und, ganz nebenbei: Was passiert eigentlich am Ende
mit den Hühnern? Nun, zumindest dieses Geheimnis sei hier gelüftet: Die
Hähnchen wurden nach Vorstellungsende einem Gasthof aus der Turiner Gegend
gespendet.
Ein Potpourri aus
zeitgenössischer Dramatik
Stammbaum
gilt als eine der originellsten und berührendsten der insgesamt
siebenundzwanzig Produktionen des Festivals delle Colline Torinesi, das
dieses Jahr vom 4. bis zum 22. Juni stattgefunden hat. Ob Regisseurinnen,
Schauspielerinnen oder Autorinnen: Die Festspiele stellten starke Frauen ins
Zentrum ihrer 22. Auflage. Sasha Marianna Salzmann wurde dabei genau so viel
Aufmerksamkeit gewidmet wie Nelly Sachs, Emily Dickinson oder Elena
Ferrante.
Die erstgenannte Autorin,
1985 im damals noch sowjetischen Wolgograd geboren und später in Deutschland
aufgewachsen, wurde 2013 mit dem Mülheimer Publikumspreis für ihr Werk
Muttersprache Mameloschn
geehrt. In Salzmanns Frauenstück besteht die Familie aus drei Generationen.
Großmutter, Mutter und Enkeltochter besprechen die traumatische Geschichte
des 20. Jahrhunderts. Erzählungen über Holocaust und Kommunismus vermischen
sich mit jiddischen Witzen und Liedern, wobei die Großmutterfigur den
Vornamen der großen jiddischen Sängerin der DDR, Lin Jaldati, trägt. Drei
sehr gute Schauspielerinnen bieten in Paola Rotas Inszenierung eine
überzeugende Leistung. Freilich finden für Wiener Ohren leicht erkennbare
jiddische Ausdrücke wie "Mischpoche" oder "Mameloschn" (das übrigens
"Muttersprache" heißt) beim italienischen Publikum geringeren Anklang.
Dafür
haben aber die Monologe des Festivals, von denen hier zwei genannt seien,
einen tiefen Eindruck hinterlassen. In Tagebuch einer serbischen Hausfrau
(Diario di una casalinga serba) wird die Geschichte von Andjelika erzählt,
einer jungen Frau, deren Kindheit sich in Titos Jugoslawien abspielt und die
ihre Jugendjahre in Milosevics Serbien verbringt. Die Adaptierung für die
Bühne (des gleichnamigen Romans von Mirjana Bobic Mojsilovic) ist jedoch
nicht nur eine persönliche Erzählung, viel mehr ist es das Bildnis einer
ganzen Generation, die Opfer des Balkankrieges wurde. Es verwundert nicht,
dass sich ausgerechnet Ksenija Martinovic, eine junge Schauspielerin
serbischer Herkunft, die seit vielen Jahren in Italien lebt, dieses Themas
angenommen hat (für ihre hervorragende schauspielerische Leistung 2014
erhielt sie, dies sei hier nebenbei erwähnt, den Nationalen Preis für junge
Theaterwirklichkeiten).
Die Inszenierung des
Stücks, ausgeführt von Fiona Sansone, ist dabei geprägt von einem
minimalistischen und zugleich fantasievollen Bühnendesign. Mit Zeitungen und
ein paar Holzkisten, die zur Kostümaufbewahrung dienen oder als Sockel
gestapelt werden, wird eine ganze historische Periode zum Leben erweckt.
Dazu erklingt passende Hintergrundmusik, die von patriotischen
jugoslawischen Liedern bis zu serbischen Pop-Schlagern reicht.
Nicht
minder souverän geht auch das Turiner Teatro Dionisio das 2015 vielfach
preisgekrönte Stück Ifigenia in Cardiff an. Inspiriert von der
Geschichte der Iphigenie, die in der griechischen Mythologie von ihrem Vater
geopfert wurde, um gute Winde für die Fahrt nach Troja zu bekommen, erzählt
Gary Owens zeitgenössisches Stück das Leben von Effie, einer jungen
arbeitslosen und drogensüchtigen Frau aus Cardiff. Es ist ein
außergewöhnlicher Monolog, der den bereits bröckelnden Sozialstaat
widerspiegelt und die Frage stellt, wer heutzutage im Interesse von
Eigennutz geopfert wird. Ein direkter Angriff auf die von Profit getriebene
westliche Gesellschaft. Dass der erfahrene Regisseur Valter Malosti die
Schauspielerin Roberta Caronia als Protagonistin ausgewählt hat, erweist
sich als großer Gewinn. Ganz alleine an der Rampe, schafft sie es, für
sechzig Minuten lang ein breites Wechselspiel aus Stimmungen und Gefühlen
dem Publikum zu vermitteln. Eine bemerkenswerte Darstellung und eine
brillante schauspielerische Leistung.
Wie jedes Jahr bot das
Festival delle Colline Torinesi auch 2017 eine internationale
Programmschiene, vertreten durch renommierte Künstler wie das deutsche
Frauenkollektiv She She Pop, die Libanesen Lina Majdalane und Rabih Mroué
oder den Griechen Euripides Laskaridis. In 50 Grades of Shame zeigten
She She Pop in ihrer bekannten Art und Weise einen Bilderreigen, inspiriert
von Frank Wedekinds Frühlings Erwachen und E. L. James Erotikroman
50 Shades of Grey. Nach
dem Vorbild von Wedekinds utopischen Erziehungsmodellen verwandelt sich die
Bühne in eine Lehranstalt, in der die Frauengruppe und ihre Gäste die
Lehrkörper bilden. Auf zwei großen Bildschirmen entstehen Überblendungen von
verschiedenen Körperteilen der Performer, übertragen durch mehrere
Live-Kameras. Es sind dadaistische Bilder, die die Fantasie der Zuschauer
beflügeln. In zahlreichen kleinen Szenen, komisch, bitter und grotesk
zugleich, gelingt She She Pop ein humorvoller Zugang zum andauernden Thema
der Sexualaufklärung. Der absolute Höhepunkt der Turiner Festspiele!