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Eine dünne Linie trennt das Mögliche vom Unmöglichen

Als ich Mitte Februar in Udine eintraf, um eine Theateraufführung über die
Arbeit von humanitären Organisationen zu besuchen, dachte ich nicht, dass diese
nur eine Woche später von großer Aktualität sein würde. Dass Vertreter von Hilfsorganisa-
tionen wie Ärzte ohne Grenzen oder das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) roman-
tische Charaktere sind oder Helden, die tatsächlich eine Veränderung in der Welt bewirken
können, das dachte sich Tiago Rodrigues, bevor er die Arbeit an Im Rahmen
des Unmöglichen
("Dans la mesure de l'impossible") begann.

Von Irina Wolf
(26. 05. 2022)

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Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.

 

 


(c) Magali Dougados


(c) Magali Dougados


 

Starke Bilder entstehen
in den Köpfen der Zuschau-
er. Gebannt hört man den
Schauspielern zu, die das
Publikum direkt anspre-
chen. Man ist völlig einge-
nommen von dem,
was man hört.



 


(c) Magali Dougados


(c) Magda Bizarro

   Schon vor fünf Jahren hegte der portugiesische Regisseur, seit 2014 künstlerischer Leiter des Nationaltheaters Lissabon und künftiger Direktor des Festivals d'Avignon, "den Wunsch und die Neugier, die Erfahrungen derjenigen zu kennen, die im Bereich der humanitären Hilfe arbeiten". Rodrigues wollte aber keinen Bericht über das Phänomen der humanitären Vereinigungen erstellen, sondern vielmehr "die Geschichten, die uns alle berühren und die Art und Weise, wie wir über Leid, Gewalt und Katastrophen denken", auf die Bühne bringen.

Für die auf Interviews basierende Produktion war geplant, dass der Regisseur und sein Team hilfeleistenden Menschen auf IKRK-Missionen folgen sollten. Doch die Pandemie machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. So mussten sie sich damit begnügen, in Genf mit Männern und Frauen zusammenzukommen, die humanitäre Arbeit zu ihrem Beruf gemacht haben. Somit spiegelt sich das Dilemma der humanitären Helfer, die zwischen sensiblen, sogar stark umkämpften Interventionsgebieten und dem "friedlichen Zuhause" hin und her pendeln in Im Rahmen des Unmöglichen wider, eine Produktion von Comédie de Genève in Koproduktion mit zahlreichen namhaften Theatern und Festivals, unter anderem Odéon – Théâtre de l’Europe – Paris, Piccolo Teatro di Milano – Teatro d’Europa, CSS Teatro stabile di innovazione del FVG – Udine, Festival d’Automne à Paris, Maillon Théâtre de Strasbourg – Scène européenne.

   Vier Schauspieler Adrien Barazzone, Beatriz Brás, Baptiste Coustenoble und Natacha Koutchoumov (seit 2017 gemeinsam mit Denis Maillefer Ko-Direktorin der Comédie de Genève) sowie der Musiker und Komponist Gabriel Ferrandini bilden die Besetzung von Rodrigues Inszenierung. Doch die Pandemie schlägt noch einmal zu: Nachdem Beatriz Brás positiv auf Corona getestet wurde, treten nur vier Künstler auf der Bühne des Teatro Palamostre in Udine  auf. Als Folge erleidet die Aufführung vom 19. Februar ein paar kleine Änderungen, wie uns Natacha Koutchoumov schon vor Beginn der Vorstellung ankündigt: Eine Szene fehlt, eine andere wird vom Tonband wiedergegeben.

Auf Französisch und Englisch, teilweise auf Italienisch und Portugiesisch, übermitteln die nur mehr drei Schauspieler die Geschichten der in Genf interviewten Helfer. Es sind unterschiedliche Erfahrungen, die bezeugen, wie diese Menschen die Welt und sich selbst wahrnehmen. Doch anstatt die Komplexität der Erfahrungen zu interpretieren, entschied sich Rodrigues, die Charaktere der Helfer selbst auf die Bühne zu bringen. Starke Bilder entstehen in den Köpfen der Zuschauer. Gebannt hört man den Schauspielern zu, die das Publikum direkt ansprechen. Man ist völlig eingenommen von dem, was man hört.

   Im schnellen Tempo wechseln sich beklemmende Erzählungen über nicht ausreichende Blutkonserven für Kinder, die diese Blutkonserven benötigen, mit schaurigen Geschichten über Feuerpausen und Fluchtkorridore ab. Am abscheulichsten fand ich die Lektüre eines Briefes über einen pädophilen Helfer, der Kinder aus beschossenen Gebieten für seine sexuellen Triebe ausnützte und feine Pastete als Katzenfutter in Interventionsgebieten einsetzte. Es sind Erzählungen über Leid und Gewalt, aber auch über Hoffnung und Freude, die die humanitären Helfer während ihrer Missionen erlebt haben, ebenso viele Versionen, wie es Menschen gibt. Saubere weiße Laken, in denen Leichen eingewickelt werden, sind ein Symbol der Würde.

An Symbolen fehlt es nicht. Das beginnt schon beim Bühnenbild, einer Konstruktion von zu Dünen und "Bergen" aufgeworfenen Zeltplanen, die von Kabeln gehalten und  von den Schauspielern in der Art von Bootssegeln bewegt wird; möglich gemacht durch ein System von Flaschenzügen, die sich auf beiden Seiten der Bühne befinden. Dadurch entstehen beeindruckend abstrakte Landschaften. Allmählich wird die Konstruktion gehoben und enthüllt den Schlagzeuger Gabriel Ferrandini. Mit seiner Live-Musik, die von sanften Geräuschen bis zu einem Stakkato von Schüssen reicht, fesselt er die Zuschauer.

   Tiago Rodrigues bekräftigt mit seiner neuesten Arbeit sein Talent als Autor eines poetischen und subversiven Theaters. Der Geniestreich liegt jedoch darin, dass die Regionen der Welt, in denen die Helfer agieren, nie genannt werden. Stattdessen sind sie unter einem einzigen Begriff zusammengeführt: "das Unmögliche". Während hilfeleistende Menschen Schmerz und Leid in den "Regionen des Unmöglichen" erleben, wandern ihre Gedanken des Öfteren zu den in den Gebieten des "Möglichen" zurückgelassenen Familien. Allein "das Gesicht einer Mutter ist im Bereich des Möglichen dasselbe wie im Bereich des Unmöglichen", wird in der Produktion angedeutet.

Im Rahmen des Unmöglichen ist aber kein dokumentarisches Theater. Tiago Rodrigues besteht darauf, dass er dokumentiertes Theater macht, ohne den Anspruch zu erheben, einen generellen Essay über die Problematik der humanitären Erfahrung produziert zu haben. Die Nähe von Leid, Gefahr und Gewalt, aber auch von Menschenwürde und Resilienz, verschafft uns durch diese Produktion Zugang zu einer anderen Art, die Welt zu erleben. Obwohl der Wunsch nach Veränderung Teil der Hauptmotivation der Helfer war, den humanitären Weg einzuschlagen, sind sie sich letztendlich bewusst, dass sie die Welt nicht verändern können. "Allein die Tatsache, dass humanitäre Aktivitäten existieren, ja sogar zunehmend andauern, zeichnet ein tragisches Bild der Menschheit" – mit diesen Worten schließt Tiago Rodrigues seine Arbeit ab. Die Realität hat uns inzwischen alle eingeholt.

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