Diese
Kurse waren kostenlos und offen für alle Interessierten. Der Schwerpunkt lag
auf Körpertraining, mit dessen Hilfe Universitätsleiter Yevhen Khudzyk
Ablenkung vom Kriegsalltag bieten wollte. Allmählich begannen die Künstler
wieder ans Theatermachen zu denken. Doch im neuen Kontext hatte ihre Arbeit
ein anderes Gewicht erhalten.
Auch in anderen Städten
wurden Projekte erarbeitet: Im legendären Shakespeare-Keller des
Iwano-Frankiwsk Dramatheaters zeigten Künstler Aufführungen für Flüchtlinge
und Kinder. Gespielt wurde unter anderem die burleske, extravagante
Inszenierung von Rostyslav Derzhypilsky und Oleksiy Hnatkovsky AENEID
nach dem gleichnamigen Gedicht von Iwan Kotljarewskyj – ein patriotisches,
heroisches Stück über den ungebrochenen ukrainischen Kampfgeist.
Währenddessen starteten Studenten und Dozenten für Puppenspiel und Animation
an der Kotljarewskyj Nationalen Universität der Künste in Charkiw das
Projekt #ANIMAARTFORPEACE. Sie traten in Notunterkünften auf und spielten
hauptsächlich für Kinder. Die transkulturelle Bewegung VOICES FOR UKRAINE
wurde durch die European Theatre Convention unterstützt. Die Plattform
bietet Künstlern in der Ukraine eine Möglichkeit, durch Kunst, Reflexionen
und Tagebücher auf den Krieg zu reagieren. Der kreative Prozess findet auf
der Straße und in Luftschutzbunkern statt.
Auf Tournee
durch Spanien
Einen
besonderen Platz nimmt das ProEnglish Theatre ein. Trotz des Krieges war es
eine der wenigen in Betrieb befindlichen Institutionen in Kiew. Die 2018 von
Alex Borovenskiy gegründete unabhängige Spielstätte ist das einzige
englischsprachige Theater in der Ukraine. Normalerweise würden Hedda
Gabler und eine eigene Adaption von Werken des amerikanischen
Science-Fiction-Autors Ray Bradbury auf dem Programm stehen. Doch gleich
nach Kriegsbeginn wurde das Theater in einen "sicheren Himmel" umgewandelt,
in einen "Art Shelter". Im Aufführungsraum, in dem normalerweise 40
Zuschauer Platz fanden, lebten nun 10 Personen – Theaterschaffende, Nachbarn
und jede Menge Katzen. Die Fenster waren nirgendwo zu sehen. Auf dem
Instagram-Konto des Theaters wurde ein Bild mit einer dicken Wand aus
englischen Lehrbüchern gepostet. Damit versuchte man die Fenster zu
schützen, sollte in der Nähe eine Bombe explodieren. Trotz allem gab es im
Theaterinneren noch Vorhänge, Bühnenlicht und sogar ein Soundpult.
Am 27. März präsentierte
das ProEnglish Theatre auf Facebook eine Livestream-Version von Harold
Pinters Drama Die neue Weltordnung. Das 1991 verfasste Stück des
britischen Nobelpreisträgers behandelt Themen wie Imperialismus,
Totalitarismus und Hegemonie. Schauspielerin Tanya Shelepko führte Regie bei
der zwölfminütigen Inszenierung. Die Besetzung aus drei Schauspielern hatte
als Protagonisten einen jungen Mann, der mit verbundenen Augen auf einem
Stuhl saß. Er sollte von zwei Männern gefoltert werden. Diese wurden in der
Kiewer Inszenierung von einer Schauspielerin und ihrem männlichen, per Video
aus der Westukraine zugeschalteten Kollegen, verkörpert.
Die zweite Premiere des
ProEnglish Theaters wurde am 9. April weltweit gestreamt. The Book of
Sirens (Das Buch der Sirenen) basiert auf dem Roman "Die Bücherdiebin"
des australischen Autors Markus Zusak (2005). Darin wird die Geschichte der
im Zweiten Weltkrieg bombardierten fiktiven deutschen Kleinstadt Molching
erzählt. Das neunjährige Mädchen Liesel ist die einzige Überlebende, weil
sie zum Zeitpunkt des Bombenangriffs heimlich im Keller ein Buch las.
Regisseur Alex Borovenskiy bediente sich bei seiner Inszenierung der
sowjetischen Radiodurchsagen aus dem Zweiten Weltkrieg, sowjetischen
Kriegsliedern und Sirenengeheul. Außerdem wurde Live-Musik am Klavier
gespielt. Die einzigen Requisiten waren Fleischdosen und Bücher. Anabell
Ramirez, die Protagonistin des Monodramas, unternahm vom 2. bis 12. Mai mit
dem Theater eine Tournee durch mehrere Städte Spaniens.
Gelungene Kooperation
Lemberg-Wien
Und dann öffneten am 1.
April in Lemberg Theater, Oper, Philharmonie, Orgelhalle, Museen wieder ihre
Türen. Das Maria Zankovetska Dramatheater zeigt mindestens einmal pro Woche
eine Produktion. Bis zum Welttheatertag am 27. März hatte das UCU School
Theater das erste Stück seit Kriegsbeginn auf die Bühne gebracht. Obwohl die
Proben zu Der große Keller während der Bombenangriffe stattfanden,
fühlten sich die Künstler in der Kirche der Weisheit Gottes geschützt. Die
Produktion basiert auf zwei Texten von Taras Schewtschenko – einem der
wichtigsten Dichter der ukrainischen Geschichte. Hauptthema ist das Ausheben
des "großen Kellers" entweder in der Kirche von Bohdan Khmelnytskyi im Dorf
Subotiw oder in der Seele – dazu dient der zweite Text "Der Moskauer
Brunnen". Symbolisch steht der Keller für das Tor zum Himmel, ein
Bild der Heiligkeit der ukrainischen Identität und ein Weg der Erlösung.
Die
Erstausgabe des Stücks erschien im Jahr 2014 während der Maidan-Revolution.
Schewtschenko spricht klar und präzise über die Mächte des Bösen, die die
Ukraine umgeben. "Ursprünglich war geplant, die Produktion einmal im Monat
zu spielen", erzählt Dmytro Naumets, der selbst Teil der Besetzung ist.
Wegen der großen Anzahl der Schauspieler (insgesamt sind es 12) ist es
schwierig, die Gruppe zu koordinieren. Sofern möglich, wird "regelmäßig" im
Kirchenkeller gespielt. Wie ist das Publikum zusammengesetzt? "Der Großteil
des Publikums besteht aus Menschen, die aus anderen Gegenden der Ukraine
nach Lemberg geflohen sind, um Schutz zu suchen. Sie leben auf dem
Unigelände und brauchen eine Ablenkung. Da aber die UCU weit weg vom
Stadtzentrum liegt, ist die Anfahrt schwierig. Und doch gibt es für diese
Inszenierung eine große Nachfrage", erläutert Naumets.
Am 3. Mai wurde Dank einer
Kooperation mit Alireza Daryanavard und dem WERK X-Petersplatz Der große
Keller in der Regie von Yevhen Khudzyk in ukrainischer Sprache mit
deutschen Untertiteln auf der Webseite des Wiener Theaters gestreamt. Da
sich "die Bühne" im Keller befindet, ist das Licht spärlich. Trotzdem ist
das Video qualitativ hochwertig. Als Requisiten dienen eine Holzkiste, ein
Eimer und eine Schaufel. Die Kapitel der Geschichte werden von einem
Schauspieler angekündigt: drei Seelen, drei Krähen, drei Lira-Spieler und
der Moskauer Brunnen. Die Erzählung handelt unter anderem von vergewaltigten
Frauen während der Zarenzeit, Angriffe von Tataren und Polen auf die Ukraine
und einem Ruf nach Freiheit. Die Mehrheit der großen Besetzung ist in
Volkstrachten gekleidet, wobei die Frauen oft Klagelieder singen. Besonders
bewegend sind die Hochzeitsszenen und -bräuche. Beeindruckend sind auch die
gut ausgewählten Videoeinblendungen. Eine überaus gelungene Inszenierung,
die von der Spielfreude und Harmonie der Schauspieler lebt. "Bei der
Aufzeichnung der Aufführung bestand das Publikum aus 60 bis 70 Zuschauern",
sagt Naumets und fügt hinzu, dass die UCU aktuell zwei weitere Produktionen
im Repertoire hat.
Im Fokus Dmytro Naumets
Das Wiener WERK
X-Petersplatz bot am 17. Mai ein weiteres Stream: die Performance Ich
lasse los – Text, Schauspiel und Regie von Dmytro Naumets. Mit dem
Untertitel "Ein poetischer Akt für Ohren und Herzen" stellt Naumets' Solo
die Stimme und die persönlichen Erfahrungen des Menschen in den Mittelpunkt.
Dem Schauspieler gelingt es mit nur wenigen Papierblättern als Requisiten,
die Aufmerksamkeit des Betrachters für die Gesamtdauer von 50 Minuten zu
fesseln. Musik und Licht verleihen dem Schauplatz eine poetische Note.
Gefilmt wird aus mehreren Perspektiven – frontal sowie vertikal von oben.
Das gibt einen sehr guten Überblick über "die Bühne".
Naumets'
Gedankenströme kreisen um Liebe, Angst und den Wunsch, Schönheit zu
schaffen. Jahrelang hat er Gedichte geschrieben. Und über Jahre hinweg hatte
er die Idee dieses Stücks gehegt, sich aber nicht getraut, es zu machen.
Dann war er letzten Sommer auf Urlaub in Odessa und hat die Gedichte
chronologisch zusammengesetzt. So entstand der Text. Naumets zeichnet
auch für das Bühnenbild verantwortlich. Dabei handelt es sich bei dem Stream
mehr um eine "Kinoaufnahme", da der Theatermacher Szene für Szene (ohne
Publikum) gedreht und anschließend die Aufnahmen selbst zusammengeschnitten
hat. Seitdem spielt er das Stück vor Publikum.
Und wie schaut die Zukunft
aus? "Am 28. Mai habe ich die Premiere meines neuen Solos – eine reflexive
Antwort auf 'Ich lasse los'. Es ist eher ein Improvisationsstück. Vom Thema
her geht es um die geringe Entscheidungsmacht des Schauspielers. Es ist ein
Monolog, in dem ich über mich selbst reflektiere. Man kann sagen, es ist
auch eine Art Stand-Up-Show über mangelnde Selbstverwirklichung",
detailliert Naumets sein Vorgehen. Für die Premiere hat er einen Raum
gemietet, unter dem sich ein Bunker befindet. Sollte der Fliegeralarm
losgehen, dann würden Zuschauer und Schauspieler in den Schutzraum
hinuntergehen. Dort wird weitergespielt. Dass Naumets seinem Beruf nachgehen
kann, hat er dem ukrainischen Militär zu verdanken. Und deshalb spricht er
vor jeder Aufführung seine Dankbarkeit an die Menschen aus, die für sein
Land und für die Freiheit kämpfen.
Die neue Normalität
Dass im Rahmen der
Kulturveranstaltungen die Anforderungen des Kriegsrechts berücksichtigt
werden müssen, findet sich in einer Anfang April ausgestellten Erklärung des
Kulturministeriums wieder. So sollen sich im Falle eines Luftalarms
Zuschauer und Schauspieler in den Schutzraum begeben (jede Kulturinstitution
besitzt einen unterirdischen Luftschutzbunker). Somit ist die Anzahl der
Plätze begrenzt. Im Schauspielhaus von Uschhorod hatte die Aufführung des
Stückes Ein Handel mit einem Engel der Kiewer Dramatikerin Neda
Nezhdana erst angefangen, als die Luftschutzsirenen zu heulen begannen. Der
Theaterdirektor eilte auf die Bühne und forderte alle auf, in den
Luftschutzbunker hinunterzugehen. Die Aufführung sollte wieder aufgenommen werden,
wenn innerhalb einer Stunde Entwarnung gegeben würde – ansonsten müsste die
Vorstellung auf einen neuen Termin verschoben werden. Zum Glück kam die
Entwarnung nach einer dreiviertel Stunde. Das Publikum kehrte in den
Zuschauerraum zurück und das Stück wurde von Anfang bis Ende aufgeführt.
Uschhorod ist eine malerische Stadt an der Karpaten-Westseite. An der Grenze
zur Slowakei gelegen, ist sie von Ungarn und Rumänien aus leicht zu
erreichen. Zusammen mit der benachbarten Bukowina ist Uschhorod derzeit
einer der sichersten Orte in der Ukraine.