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Liebe
Scheitern – Gott

Auch heuer wurde in Venedig wieder groß aufgekocht, pardon: Theater gespielt.
Der Vergleich zwischen Küche und Bühne liegt im Genussland Italien zwar immer nahe, für
Antonio Lattella, zum dritten Jahr in Folge künstlerischer Leiter der Biennale, gibt es anlässlich des heurigen
Mottos "Dritter Akt: Dramaturgien" hingegen eine spezielle Verbindung: "Die Hand des Kochs kann, metaphorisch
betrachtet, mit der eines Dramatikers verglichen werden, der beim Schreiben eines Theaterstücks seine
Inspiration dosiert, bevor er sie der Öffentlichkeit serviert. Wie ein Koch kann der Dramatiker ein Rezept fast
von Grund auf neu erstellen oder ein Rezept mit traditionellen Aromen ausarbeiten". Zur  Erklärung:
Nachdem
die beiden vorangegangenen Treffen den Regisseuren und Schauspielern gewidmet waren, fand
die heurige 47. Ausgabe
unter dem Generalthema "Dritter Akt: Dramaturgien" statt. Unter
dieser Vorgabe wurden vom 22. Juli bis zum 5. August insgesamt 23 neue Stücke in
28 Inszenierungen, darunter sechs Weltpremieren, gezeigt.

Von Irina Wolf
(04. 09. 2019)

...



Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.





 


(c) Andrea Avezzu

"Nostalgie nach Gott.
Wo das Ziel der Anfang ist.
"
(Regie: Lucia Calamaro)

 


 


(c) Andrea Avezzu

"Saul"
(Regie: Giovanni Ortoleva)

 


 


(c) Andrea Avezzu

"Love"
(Regie: Susie Dee)

 

 

 


 


Linktipp

www.labiennale.org

   "Im Motto wird bewusst der Plural verwendet", erklärt Regisseur Latella, "weil es im 21. Jahrhundert unterschiedliche Dramaturgien gibt, von der dramaturgischen Rolle des künstlerischen Leiters und der des Regisseur-Autors, der seine eigenen Texte inszeniert, über die Partnerschaft zwischen Regisseuren und Autoren, die für ein Ensemble schreiben, bis hin zu den Künstlern, die für Tanz- oder Musik-Theater beziehungsweise visuelles Theater aktiv sind, und nicht zuletzt die Dramaturgie für das Kindertheater, das ein neues Publikum schaffen soll".

Kein Wunder, dass das Festival mit der Vergabe des Silbernen Löwen an Jetse Batelaan eröffnet wurde, zählt doch der niederländische Regisseur mit seiner ästhetischen Position zu den eigenwilligsten Protagonisten der internationalen Kinder- und Jugendtheaterszene. Das reichhaltige Programm bot einen Reigen etablierter Künstlernamen wie Oliver Frljic, Sebastian Nübling, Julian Hetzel, Miet Warlop, Manuela Infante, Jens Hillje (Gewinner des Goldenen Löwen für sein Lebenswerk). Dass bemerkenswerte einheimische Kunstschaffende wie Pino Carbone, Lucia Calamaro oder Alessandro Serra nicht fehlen konnten, ist selbstverständlich.

Und was hat es mit dem Rezept auf sich? Schon seit mehreren Jahren ist das College zum fixen Bestandteil der Theaterbiennale geworden. Ziel ist es, "den Theaterschaffenden in Italien eine Stimme zu geben und – unter Berücksichtigung der bestehenden Schwierigkeiten und der Kluft zwischen den Generationen – mehr Sichtbarkeit zu schaffen". Das Rezept. Das war das Thema des diesjährigen Biennale Colleges.

Vierundzwanzig Stunden Theaterbiennale

   Ist es aber möglich, innerhalb von nur vierundzwanzig Stunden einen Eindruck der Festspiele zu gewinnen? Dass dies durchaus realisierbar ist, bewiesen die drei Produktionen, der ich an einem Samstag Ende Juli in der bezaubernden Lagunenstadt beiwohnte.

Mit Spannung erwartet worden war die Premiere der neuen Arbeit von Lucia Calamaro: Nostalgia di Dio. Dove la Meta è l'inizio (Nostalgie nach Gott. Wo das Ziel der Anfang ist). Die mehrfach ausgezeichnete italienische Künstlerin ist bekannt für ihre philosophischen Dialoge zur Problematik des menschlichen Lebens. Doch nicht nur der Text stammt aus ihrer Feder; sie zeichnet auch für Regie, Bühnenbild und Kostüme verantwortlich. Calamaro kreiert auf einer fast leeren Bühne mit nur einem Tennisnetz, einer Tür und ein paar Stühlen reale Situationen wie ein Abendessen zwischen Freunden oder eine Wallfahrt zu den Kirchen Roms. Hauptthema der fast dreistündigen Inszenierung sind Beziehungsprobleme.

Die vier von Calamaro entworfenen Charaktere stehen vor einigen Hindernissen: Alkohol, Trennung, unerfüllter Kinderwunsch, Streit, Entwicklung einer Neurose zur absurden Katalogisierung von Geräuschen. Es ist ein von innerlicher Zerbrechlichkeit geplagtes Quartett, das sich in einer zunehmend technisierten und regulierten Welt bewegt. Calamaro schafft es, mit sprachlichen Konventionen auf raffinierte Weise zu spielen. Ihre mittlerweile klassischen Stilmerkmale wie der beißende Dialog zwischen den Protagonisten und der lässige Monolog, der sich scheinbar an einen externen Zuhörer richtet, stellen eine große Herausforderung für die Schauspieler dar, welche diese bravourös meistern.

   Eine weitere Weltpremiere bot Giovanni Ortoleva, 26-jähriger Regisseur aus Florenz und 2018 Gewinner des besonderen Vermerks der Biennale-College-Ausschreibung "junge italienische Regisseure bis 30 Jahre" an. Saul heißt sein Werk, das auf dem gleichnamigen Drama von André Gide, 1904 entstanden und vom Alten Testament inspiriert, basiert. Hauptthema des von Ortoleva zusammen mit Riccardo Favaro umgeschriebenen Textes ist das Versagen. Somit stellt der junge Künstler das Scheitern des zeitgenössischen sozialen und wirtschaftlichen Systems in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Seine Geschichte von Saul rückt Rockstars näher an Könige und Hotelsuiten an Kaiserpaläste heran. Dabei speist sich die Umschreibung mehr aus dem Kino und aus der Musik als aus Gides Originaltext.

Zum Abschluss meiner vierundzwanzig Stunden gab es eine europäische Erstaufführung. Der starke internationale Charakter der Theaterbiennale wurde auch durch die Anwesenheit des australischen Duos Susie Dee und Patricia Cornelius bekräftigt. Seit über dreißig Jahren haben sich die beiden einem militanten Theater verschrieben. Mutig in ihren Themen, zwischen moralischer Begründung und Gesellschaftskritik, liegt der Fokus ihrer Produktionen auf der Gegenwart.

Zwei Werke von Dee (Regisseurin, Schauspielerin, Theatermanagerin) und Cornelius (eine der angesehensten Stimmen der englischsprachigen Dramatik) waren bei den Festspielen zu sehen: Shit und Love (Liebe). Letzteres spiegelt die Geschichte von Menschen der untersten Gesellschaftsschicht wider. Die Handlung spielt auf einem drei mal drei Meter großen Brett mitten auf der leeren Bühne. Es ist eine Welt voller Drogen, Verbrechen und Gefängniszellen. Drei Protagonisten erzählen, wie sie missbraucht wurden. Sie geraten schnell außer Kontrolle, sind schwer zu mögen, geschweige denn zu lieben. Das Stück handelt nicht nur von der Liebe in all ihren Formen, sondern enthüllt auch die düstere Seite der menschlichen Seele, die bereit ist, im Namen der Liebe viel zu viel zu ertragen.

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