"Im
Motto wird bewusst der Plural verwendet", erklärt Regisseur Latella, "weil
es im 21. Jahrhundert unterschiedliche Dramaturgien gibt, von der
dramaturgischen Rolle des künstlerischen Leiters und der des
Regisseur-Autors, der seine eigenen Texte inszeniert, über die Partnerschaft
zwischen Regisseuren und Autoren, die für ein Ensemble schreiben, bis hin zu
den Künstlern, die für Tanz- oder Musik-Theater beziehungsweise visuelles
Theater aktiv sind, und nicht zuletzt die Dramaturgie für das Kindertheater,
das ein neues Publikum schaffen soll".
Kein Wunder, dass das
Festival mit der Vergabe des Silbernen Löwen an Jetse Batelaan eröffnet
wurde, zählt doch der niederländische Regisseur mit seiner ästhetischen
Position zu den eigenwilligsten Protagonisten der internationalen Kinder-
und Jugendtheaterszene. Das reichhaltige Programm bot einen Reigen
etablierter Künstlernamen wie Oliver Frljic, Sebastian Nübling, Julian
Hetzel, Miet Warlop, Manuela Infante, Jens Hillje (Gewinner des Goldenen
Löwen für sein Lebenswerk). Dass bemerkenswerte einheimische Kunstschaffende
wie Pino Carbone, Lucia Calamaro oder Alessandro Serra nicht fehlen konnten,
ist selbstverständlich.
Und was hat es mit dem Rezept auf sich? Schon seit
mehreren Jahren ist das College zum fixen Bestandteil der Theaterbiennale
geworden. Ziel ist es, "den Theaterschaffenden in Italien eine Stimme zu
geben und – unter Berücksichtigung der bestehenden Schwierigkeiten und der
Kluft zwischen den Generationen – mehr Sichtbarkeit zu schaffen". Das
Rezept. Das war das Thema des diesjährigen Biennale Colleges.
Vierundzwanzig Stunden Theaterbiennale
Ist
es aber möglich, innerhalb von nur vierundzwanzig Stunden einen Eindruck der
Festspiele zu gewinnen? Dass dies durchaus realisierbar ist, bewiesen die
drei Produktionen, der ich an einem Samstag Ende Juli in der bezaubernden
Lagunenstadt beiwohnte.
Mit Spannung erwartet
worden war die Premiere der neuen Arbeit von Lucia Calamaro: Nostalgia di
Dio. Dove la Meta è l'inizio (Nostalgie nach Gott. Wo das Ziel der Anfang
ist). Die mehrfach ausgezeichnete italienische Künstlerin ist bekannt
für ihre philosophischen Dialoge zur Problematik des menschlichen Lebens.
Doch nicht nur der Text stammt aus ihrer Feder; sie zeichnet auch für Regie,
Bühnenbild und Kostüme verantwortlich. Calamaro kreiert auf einer fast
leeren Bühne mit nur einem Tennisnetz, einer Tür und ein paar Stühlen reale
Situationen wie ein Abendessen zwischen Freunden oder eine Wallfahrt zu den
Kirchen Roms. Hauptthema der fast dreistündigen Inszenierung sind
Beziehungsprobleme.
Die vier von Calamaro
entworfenen Charaktere stehen vor einigen Hindernissen: Alkohol, Trennung,
unerfüllter Kinderwunsch, Streit, Entwicklung einer Neurose zur absurden
Katalogisierung von Geräuschen. Es ist ein von innerlicher Zerbrechlichkeit
geplagtes Quartett, das sich in einer zunehmend technisierten und
regulierten Welt bewegt. Calamaro schafft es, mit sprachlichen Konventionen
auf raffinierte Weise zu spielen. Ihre mittlerweile klassischen Stilmerkmale
wie der beißende Dialog zwischen den Protagonisten und der lässige Monolog,
der sich scheinbar an einen externen Zuhörer richtet, stellen eine große
Herausforderung für die Schauspieler dar, welche diese bravourös meistern.
Eine
weitere Weltpremiere bot Giovanni Ortoleva, 26-jähriger Regisseur aus
Florenz und 2018 Gewinner des besonderen Vermerks der
Biennale-College-Ausschreibung "junge italienische Regisseure bis 30 Jahre"
an. Saul heißt sein Werk, das auf dem gleichnamigen Drama von André
Gide, 1904 entstanden und vom Alten Testament inspiriert, basiert.
Hauptthema des von Ortoleva zusammen mit Riccardo Favaro umgeschriebenen
Textes ist das Versagen. Somit stellt der junge Künstler das Scheitern des
zeitgenössischen sozialen und wirtschaftlichen Systems in den Mittelpunkt
seiner Arbeit. Seine Geschichte von Saul rückt Rockstars näher an Könige und
Hotelsuiten an Kaiserpaläste heran. Dabei speist sich die Umschreibung mehr
aus dem Kino und aus der Musik als aus Gides Originaltext.
Zum Abschluss meiner vierundzwanzig Stunden gab es eine
europäische Erstaufführung. Der starke internationale Charakter der
Theaterbiennale wurde auch durch die Anwesenheit des australischen Duos
Susie Dee und Patricia Cornelius bekräftigt. Seit über dreißig Jahren haben
sich die beiden einem militanten Theater verschrieben. Mutig in ihren
Themen, zwischen moralischer Begründung und Gesellschaftskritik, liegt der
Fokus ihrer Produktionen auf der Gegenwart.
Zwei Werke von Dee (Regisseurin, Schauspielerin,
Theatermanagerin) und Cornelius (eine der angesehensten Stimmen der
englischsprachigen Dramatik) waren bei den Festspielen zu sehen: Shit
und Love (Liebe). Letzteres spiegelt die Geschichte von
Menschen der untersten Gesellschaftsschicht wider. Die Handlung spielt auf
einem drei mal drei Meter großen Brett mitten auf der leeren Bühne. Es ist
eine Welt voller Drogen, Verbrechen und Gefängniszellen. Drei Protagonisten
erzählen, wie sie missbraucht wurden. Sie geraten schnell außer Kontrolle,
sind schwer zu mögen, geschweige denn zu lieben. Das Stück handelt nicht nur
von der Liebe in all ihren Formen, sondern enthüllt auch die düstere Seite
der menschlichen Seele, die bereit ist, im Namen der Liebe viel zu viel zu
ertragen.