Karl Kraus und das Judentum

Von den frühen Stellungnahmen in der Fackel bis zur Darstellung des
‘Jüdischen’ in den Letzten Tagen der Menschheit

Von Markus Murauer


Inhaltsverzeichnis


Einleitung


I. Jüdisches Leben in der Reichs-, Haupt- und Residenzstadt Wien

1. Die Monarchie und ihr Zentrum am Vorabend der Katastrophe (Eine kurze Einführung)

2. Definitionsprobleme: Wer ist Jude? Was versteht man unter Judentum?

2.1. Notwendige Begriffsklärungen: Assimilation, Akkulturation und Integration

3. Wie assimiliert waren die Wiener Juden?

3.1. Das ‘assimilierte’ jüdische Bürgertum

4. Der Antisemitismus

4.1. Neuerliche Definitionsprobleme

4.2. Wie äußert sich Judenfeindschaft um 1900?

 

II. Karl Kraus und sein Verhältnis zum Judentum

5. Kraus und der Zionismus

5.1. Verhöhnung des Zionismus – Eine Krone für Zion

5.2. Die Behandlung des Zionismus in der Fackel

5.3. Späte Anerkennung des Zionismus und Neueinschätzung des Judentums

EXKURS: Kraus und die katholische Kirche

6. "Durch Auflösung zur Erlösung!"

7. Kraus und der Antisemitismus

7.1. Das Rauschen des Diskurses

7.2. Die Dreyfus-Affäre

7.3. Verhaltene Abgrenzung

8. Kraus und die jüdische Identität

8.1. Die Selbsthaß-Hypothese

8.2. Kraus, ein Erzjude?


III. Der konservative Kulturkritiker und seine Darstellung des ‘Jüdischen’

9. Grundzüge der Kraus’schen Kulturkritik

9.1. Der Fortschritt

9.2. Das Geschäft mit dem Krieg – Kritik des Kapitalismus

9.3. Die Presse als Zentrum der Kulturzerstörung

10. Die Darstellung des ‘Jüdischen’

10.1. Der Einfluß Weiningers

10.1.1. Das Judentum als "platonische Idee"

10.1.2. Das Judenbild Weiningers und seine Wirkung auf Kraus

10.2. Methoden der Darstellung

10.2.1. Die "mythopoetische" Methode

10.2.2. Die Bedeutung des ‘Mauschelns’

10.2.3. Tendenziöse Formulierungen und antijüdische Stereotype

10.3. Die letzten Tage der Menschheit

10.3.1. "Die Historischen und die Vordringenden"

10.3.2. Die "Idee"

10.3.3. Antijüdische Apokalypse?

Ergebnisse

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

 


Einleitung


     
     1999. Es wird wieder gefeiert. Nicht nur in Weimar, sondern auch in Wien. Nur daß die Feiern in Wien nicht eine ganze Stadt in ihren Bann ziehen, sondern nur ein paar Literarhistoriker, Kulturjournalisten und zeitgenössische Künstler. Was feiern wir? Ach ja, den 100. Geburtstag der Fackel.

Handelt es sich also um ein besonders günstiges Jahr, um eine Arbeit über Karl Kraus vorzulegen? Kann man vielleicht sogar damit rechnen, daß diese Diplomarbeit nicht nur vom betreuenden Professor und interessierten Freunden und Bekannten gelesen wird? Das wäre doch wohl zu viel verlangt.

Bei Jubiläen von verstorbenen Schriftstellern geht es im Grunde immer nur um den Versuch einer Aktualisierung ihrer oft verstaubten und nur über den Literatur-Kanon noch einigermaßen präsenten Werke. Die Initiatoren, nicht selten Verlage, die an der Wiederbelebung des Umsatzes interessiert sind, geben sich alle Mühe, um auf die Aktualität der DichterInnen, die oftmals in ihrer Zeitlosigkeit liegt, hinzuweisen. Da hat es der sich wissenschaftlich mit der Literatur Auseinandersetzende doch etwas bequemer: er braucht zur Beschäftigung mit einem Autor kein Jubiläum und muß kein Thema präsentieren, das dem Zeitgeist genehm ist. Der Diplomand will keinen Verkaufsschlager landen, sondern zunächst einmal den Befähigungsnachweis erbringen, daß er wissenschaftlich arbeiten kann. Wollte er allerdings diesem Anspruch allein genügen, würde sich das wohl auf seine Arbeit auswirken. Die Beschäftigung mit Literatur soll kein rein formaler Akt sein, sondern ein bißchen von der Leidenschaft vermitteln, die Literatur ausmacht. Die wichtigste Vorgehensweise des wissenschaftlichen Arbeiters, die Analyse, scheint diesem Anspruch zu widersprechen. Bei der Analyse wird mit genau definierten Begriffen operiert, wenn nicht gar seziert - saftiges Fleisch wird auseinandergenommen, bis das Skelett zum Vorschein kommt. Ist die Literaturwissenschaft also mit der Tätigkeit des Gerichtsmediziners vergleichbar? Hängt zwischen den wissenschaftlich fundierten Zeilen des Germanisten gar der süße Geruch toten Fleisches? (Was reichen würde, um die wissenschaftliche Disziplin ihrer Sterilität zu berauben, wäre das doch eine sinnliche Erfahrung.)

Wir wollen hier nicht weiter über Sinn und Unsinn / Möglichkeit und Unmöglichkeit der Literaturwissenschaft sinnieren. Hier liegt eine Arbeit über Karl Kraus und das Judentum vor, die wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht werden will. Es handelt sich dabei um ein höchst widersprüchliches und komplexes Thema. Derjenige, der das Verhältnis des Karl Kraus zum Judentum zu seinem Thema macht, muß sich darüber im klaren sein, daß es sich um ein außerordentlich heikles Thema handelt, bei dem Fehleinschätzungen und Falschinterpretationen als ständige Gefahren lauern:

"Bei der Behandlung der Frage nach Kraus und seinem Verhältnis zum Judentum kann man meiner Meinung nach eigentlich überhaupt nur Irrtümer begehen, wofür Kraus selber stark vorgesorgt hat."

Hätte der seinen ersten akademischen Grad anstrebende Literaturwissenschafter (der sich wohl noch nicht einen solchen nennen darf) also die Finger von diesem Thema lassen und somit dem Beispiel der bisherigen Kraus-Forscher folgen sollen, die bis auf wenige Ausnahmen nur kurze Anmerkungen zu diesem zweifellos komplizierten Verhältnis gemacht haben? Spielt Kraus’ Verhältnis zum Judentum eine so untergeordnete Rolle in seinem Werk, daß man getrost darüber hinwegsehen kann? Die hier vorgelegte Arbeit beantwortet schon allein durch ihr Bestehen diese Frage. Wie nimmt nun aber der "Nachwuchs"-Literaturwissenschafter ein so heikles Thema in Angriff?

Der Literaturwissenschafter kann lediglich Texte aufsuchen und mit seiner Meinung nach für das Textverständnis wesentlichen geschichtlichen, zeitgeschichtlichen und allgemein wissenschaftlichen Kontexten verknüpfen. Er hat in der Folge die Aufgabe, sein logisch-rationales Denkvermögen und seine menschliche Erfahrung einzusetzen, um aus dem Wechselspiel von Text und Kontext ein Werkverständnis abzuleiten, das intersubjektiv nachvollziehbar bleibt. Die Grundlage jeder These muß der Text bleiben, stellt nun einmal der Text die Arbeitsgrundlage des Literaturwissenschafters dar. Das soll und kann natürlich nicht heißen, daß der Literaturwissenschafter kein Recht auf hypothetische Überlegungen hat. Die Literaturwissenschaft lebt wie jede andere geisteswissenschaftliche Disziplin von der Denkkraft ihrer Forscher und aussagekräftigen Formulierungen. Bei allem Recht auf Thesenbildung und ihrer Notwendigkeit für einen interessanten wissenschaftlichen Diskurs darf der denkkreative Akt des Literarhistorikers aber nicht zur wilden Spekulationsübung verkommen. Thesen müssen Thesen bleiben; sie können mit Argumenten untermauert, aber nicht wie mathematische Sätze bewiesen werden; sie können zwar als Behauptungen formuliert werden, dürfen aber nicht als Tatsache hingestellt werden. Thesen können überzeugend dargeboten werden, müssen deshalb aber noch lange nicht die gesamte wissenschaftliche Öffentlichkeit überzeugen. (Was sie auch in den seltensten Fällen tun.) Die Philologie ist keine meßbare Wissenschaft. Das mag für den Meßtechniker ein Problem sein, nicht aber für den sich an der Kritik des anderen schärfenden Geisteswissenschafter, der etwas zur Diskussion stellt.

Es soll hier über Karl Kraus und das Judentum diskutiert werden. Die Diskussionsgrundlage stellen dabei natürlich Kraus’ Äußerungen zum Judentum bzw. seine Darstellung jüdischer Figuren und eines jüdischen Einflusses dar. Die in bezug auf dieses Thema relevanten Texte bedürfen allerdings der breiten historischen Betrachtung. Die frühen Polemiken gegen den Zionismus oder das akkulturierte jüdische Bürgertum bleiben ohne genaue zeitgeschichtliche Kenntnisse unverständlich. Das Judentum war gerade damals keine klar faßbare soziale, religiöse oder gar nationale Einheit. Die Vielfältigkeit der jüdischen Lebensformen muß genauso aufgezeigt werden wie die meist negativen Judenbilder dieser Zeit. Es wäre unmöglich, Kraus’ Position auch nur annähernd zu verstehen, wenn man nicht genauestens über die komplexe soziale und psychologische Situation der Juden in dieser Zeit informiert wäre. Als Jude war man in der damaligen Gesellschaft vor Probleme gestellt, die heute kaum mehr nachvollziehbar sind. Nicht zuletzt deshalb wird im ersten Teil dieser Arbeit ein relativ detaillierter historischer Bericht über das jüdische Leben im Wien der Jahrhundertwende gegeben.

Die aufwendige soziologische Darstellung ist nicht nur als historische Einführung gedacht, sondern dient als Fundament für die Einordnung von Kraus’ Äußerungen zum Judentum. Nur wer die tatsächliche historische Situation kennt, kann negative Äußerungen zum Judentum angemessen beurteilen. Für die richtige Einschätzung solcher Texte ist natürlich auch eine genaue Kenntnis des damaligen antisemitischen Diskurses notwendig. Im Kapitel 4.2. Wie äußert sich Judenfeindschaft um 1900? werden die wichtigsten Muster antisemitischer Argumentation beleuchtet. Der dabei herausgearbeitete Diskurs der Judenfeindschaft um die Jahrhundertwende wird klar machen, welches Bild vom Juden die Menschen dieser Zeit im Kopf hatten, womit also die Juden und das Judentum in Verbindung gebracht wurden. Erst auf der Grundlage dieses Wissens können wir Kraus’ Stellungnahmen zum Judentum und seine künstlerische Gestaltung des ‘Jüdischen’ richtig einschätzen.

Der erste Teil ist aber keine rein historische Abhandlung, bei der Kraus als Individuum nicht vorkommt. Es wird schon in diesem ersten Teil versucht, die allgemeinen jüdischen Problemfelder mit den für Kraus relevanten Problembereichen zu verknüpfen.

Im zweiten Teil rücken dann Kraus’ Aussagen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Durch eine genaue Analyse seiner frühen Stellungnahmen zum Judentum wird zunächst sein Verhältnis zur jüdischen Glaubensgemeinschaft sichtbar. Sein Verhältnis zum Judentum geht aber weit über den konfessionellen Aspekt hinaus. Das wird in den hier behandelten Polemiken gegen das für Kraus "schein"assimilierte jüdische Bürgertum deutlich, gegen das er genauso anschreibt wie gegen den Zionismus. Über seine Einstellung zur "Judenfrage" hinaus geht es in diesem Teil aber auch um die strukturelle Zuordnung seiner Aussagen. Hier werden die Verbindungslinien zu jenem antikorruptionistischen und antiliberalen Diskurs aufgezeigt, der im ersten Teil herausgearbeitet wurde.

Die Aufarbeitung seines Verhältnisses zum Judentum kann natürlich psychologische Fragestellungen nicht ausklammern. Im Gegensatz zu manch anderen Arbeiten über jüdische Schriftsteller wird allerdings nicht die jüdische Identität und ihre vielfältigen Krisen zum Zentrum der Überlegungen gemacht. Die in diesem Zusammenhang bereitgestellten Theorien (vor allem die Selbsthaß-Hypothese) werden zwar als mögliche Erklärungsansätze mitgedacht, spielen aber insgesamt eine untergeordnete Rolle in dieser Untersuchung.

Der Teil über Krausens Verhältnis zum Judentum versteht sich nicht als Auslotung der psychischen Befindlichkeit des Autors. Es geht hier vielmehr darum, aus seinen unzusammen-hängenden und oftmals irritierenden Stellungnahmen überhaupt dieses Verhältnis sichtbar und dadurch verständlich zu machen.

Sein Verhältnis zum Judentum klärt sich nicht über psychologische Fragestellungen auf. Hier ist von einem Autor die Rede, dessen Beziehung zum Judentum nur über sein kulturkritisches Denken verstanden werden kann. Die Auseinandersetzung mit dem Judentum fand spätestens in der Phase seiner Kulturkritik nicht mehr über soziale und ökonomische Fragestellungen statt. Das Judentum wurde von Kraus als kulturelles Phänomen, als Geisteshaltung begriffen. Welche Geisteshaltung er damit verband und welchen Stellenwert diese in seiner Kulturkritik einnahm, wird im dritten Teil dieser Arbeit gezeigt.

Nicht zuletzt geht es hier nicht nur um die Aufklärung einer Beziehung im weitesten Sinne, sondern um die Darstellung des Judentums bzw. des ‘Jüdischen’ im Werk. Das Aufzeigen literarischer Verfahrensweisen ist für das Verständnis des hier behandelten Themas genauso wichtig wie das Aufzeigen der kulturkritischen Dimension seines Bezuges zum Judentum.

Der Verfasser hat damit genug Hinweise gegeben, was er mit dieser Arbeit beabsichtigt hat. Der Leser mag sich auf den folgenden Seiten ein eigenes Urteil darüber bilden.

 

Salzburg, Anfang Juli 1999 -  Markus Murauer                                       >>> Nächster Teil >>>


 

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