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I don't wanna think, I wanna feel

Manchmal fällt es einem schwer, Gefühle in Worte zu fassen. Dann wünscht man sich Worte gelber als ein Rapsfeld und geruchsstärker als Gewürznelken; oder eine Stimme, die alles sagt. Vielleicht sagt Ed Vedder nicht alles, wenn er singt,
aber es reicht, um beim Hörer etwas auszulösen.

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      S
ie schossen Anfang der 90er Jahre wie die Schwammerl aus dem Boden, die Rockformationen aus dem westlichsten Zipfel Nordamerikas. Sie hießen Nirvana, Alice in Chains, Mudhoney, Screaming Trees, Soundgarden oder Pearl Jam. Plötzlich waren sie nicht nur in ihrer Heimatstadt Seattle bekannt, sondern in der ganzen Welt, und die Musikindustrie feierte die musikalische Rückbesinnung auf die 70er als Grunge.

        Grunge - das war mehr als auf den neuesten technischen Stand gebrachter Rocksound mit schweren Gitarren, Bass und Schlagzeug; Grunge stand für ein Lebensgefühl, das von Coolness, Zorn, Melancholie und viel Weltschmerz geprägt war. Holzfällerhemden waren wieder modern, lange Haare eine Verpflichtung und Rauschmittel eine Selbstverständlichkeit. In dieser tristen, macht- und mediengeilen Konsumwelt bildete man sich nur allzu gerne ein, nur in pseudorevolutionären Gesellschaftstheorien und dunklen Künstlerseelen eine Heimat zu haben. Man tat sich selbst leid und fand in den weltverneinenden Songzeilen etwa eines Kurt Cobain die Genugtuung, dass der eigene Pessimismus angebracht war. Glück war etwas für Leute, die sich etwas vormachten. Hoffnung eine Übung für religiöse Spinner, die sich der Wirklichkeit nicht stellen wollten. Nur wer von Schmerz und Trauer sprach, konnte ehrlich sein. Die anderen, die wussten, was sie wollten, waren Heuchler oder Opportunisten.

         Wer über diese Lebensphase nicht hinauskommt, wird entweder ein Intellektueller oder er schießt sich ein paar Jahre später eine Kugel durch den Kopf. Wenn er Glück hat, macht er sich damit zum Helden für die nächste oder übernächste Jugendgeneration. Selbstmord als letzte Konsequenz des Aufbegehrens und letztes Zeichen dafür, dass man mit dieser Welt nicht einverstanden war. Wer aber hört den Unbekannten, den vermeintlich Unbedeutenden, dessen Stimme an kein Ohr drang? Kein Zeichen, nur sinnloser Schmerz. Jahre später fragt man sich, ob tiefe Verzweiflung wirklich bewundert werden soll. Zurück bleibt die Trauer und im besten Fall Songs, die immer noch etwas auslösen.

          Man hat Pearl Jam 1992, als ihr Album "Ten" erschien, in eine Reihe mit jenen oben angeführten Bands gestellt, die damals unter dem Motto "Seattle rocks" zum Hype wurden. Sie waren neben Nirvana sogar die Stars der Szene und ließen sich zunächst auch als solche von der Musikindustrie vorführen. Sie waren die Repräsentanten einer aufmüpfigen Jugendkultur, die der Wohlstandsgesellschaft ins Gesicht pfurzte. Ihr Auftrag war die Coolness und den erfüllten sie mühelos. Auflehnung hieß das Programm - and fuck you. Bis einschließlich 1994 und ihrem dritten Studioalbum "Vitalogy" erfüllten sie dieses Programm, obwohl bereits dieses Album sperrig war und sich nicht mehr so gut verkaufte wie die beiden ersten Alben.

Und dann kam 1996 "No code" und jeder Pearl-Jam-Hörer wusste, dass die Band in eine neue Phase eingetreten war. Man hatte aus Interviews gehört, dass sie von der Musikindustrie und ihren Vermarktungsstrategien die Nase voll hätten und dass sie am liebsten aus dem Millionenvertrag mit Sony aussteigen wollten. Da dieser nicht kündbar sei, würden sie die Firma mit möglichst aufwendigen und teuren Covers schädigen. "No code" war der Beweis dafür. Die Texte waren auf der Rückseite von Hochglanzbildern abgedruckt, die sicher mehr kosteten als ein normales Cover.
Diese Art der Auflehnung war zwar nett, wäre aber nicht ernst genommen worden, wenn sie nicht auch musikalisch einen Sprung gemacht hätten. Pearl Jam hatte sich in den zwei Jahren, die man sich für dieses Album Zeit ließ, gewaltig weiterentwickelt. In manchen Liedern war jetzt eine Nachdenklichkeit zu spüren, die davon zeugte, dass man tiefe persönliche Erfahrungen gemacht hatte. Und trotzdem war da auch eine neue Gelassenheit, die der Musik insgesamt mehr Qualität verlieh. Lieder wie "Who you are", "Smile" oder "Present Tense" sind entspannt und dennoch kraftvoll; Lieder, an denen man sich nicht satt hört.
Bei aller Veränderung vergaß man nicht, sich selbst treu zu bleiben. Es gab keine Experimente mit dem Computer, wie sie zu dieser Zeit viele etablierte Rockkünstler bereits wagten, weil sie Angst hatten, dass die klassischen Rockinstrumente E-Gitarre, Bass, Schlagzeug und Keyboard nicht mehr ausreichten. Sie hatten ihren künstlerischen Ausdruck gefunden und versuchten diesen zu perfektionieren. Und das ging auch auf den beiden Alben "Yield" (1998) und "Binaural" (2000), die bisher folgten, so weiter. Keine Experimente, keine neuen musikalischen Konzepte. Stattdessen hochqualitative Rockmusik mit guten Texten und viel Gefühl.

         Vedders Stimme ist sicher der Schlüssel für die authentische Wirkung der Band. Sie steht genauso für Hingabe und Inbrunst wie für Gelassenheit und Demut. Er schreit, pfaucht, brüllt, singt und vertraut vor allem auf seine Intuition.
Daneben kann er sich aber auch auf die musikalische Ausdruckskraft seiner Bandkollegen verlassen, die für den (inzwischen) unverwechselbaren Sound von Pearl Jam sorgen. Denn Pearl Jam bestehen nicht aus Vedder allein, der zwar mit seiner Stimme, seinen Texten und dem was man allgemein als Charisma bezeichnet (wer mir erklären kann, was Charisma ausmacht, dem zahle ich eine Kiste Bier oder wahlweise eine gute Flasche Wein - und kommen Sie mir nicht mit Franz Beckenbauer oder gar Boris Becker als Beispiel) das Herz dieser Band ist. Pearl Jam sind auch die Gitarristen Stone Gossard und Mike McCready sowie Bassist Jeff Ament und auch Jack Irons sollte man nicht vergessen, der die Alben "No code" und "Yield" am Schlagzeug einspielte ehe er aus gesundheitlichen Gründen ausschied und durch einen Veteranen der Grunge-Szene, dem ehemaligen Soundgarden-Drummer Matt Cameron ersetzt wurde. Für die Musik zeichnen nämlich alle verantwortlich, jedes Bandmitglied steuert in der Regel einen oder mehrere Songs für ein Album bei. Selbst die Texte stammen nicht nur von Vedder.

          Kritische Stimmen meinen, dass die Musik von Pearl Jam nichts weiter als ein guter Abklatsch  auf die 70er Jahre sei. Alles, was sie spielten, sei im Grunde schon da gewesen, also nichts Neues. Aber was erwarten diese Stimmen von der Rockmusik? Wissen sie nicht, dass Rockmusik anderen Gesetzen gehorcht als die "Kunst"? Und wissen sie nicht, dass Rockmusik mit der hehren Kunst, für die Originalität, Innovation und Avantgardismus wichtige Kriterien sein mögen, gar nichts zu tun haben will?

Abgesehen davon muss Originalität nicht zwangsläufig darin bestehen, eine neue musikalische Stilrichtung zu kreieren. Das Experiment ist noch kein Gradmesser für die künstlerische Bedeutung. Pearl Jam haben sich immer auf ihr Gefühl verlassen, ihr Anspruch war nie ein intellektueller oder avantgardistischer. Das mag den intellektuellen Hörer stören, aber zum Glück ist Kunst nicht gleich Intellektualismus und besteht nicht nur aus möglichst komplexen Weltinterpretationen. Eddie Vedder hat meistens Geschichten erzählt oder Stimmungen beschrieben. "I’m happy trying to communicate as a human with a fragile heart und a questionable brain", sagt der Mittdreißiger heute.

         Pearl Jam haben zweifellos ihre Wurzeln in der Tradition des Rock ‘n’ Roll. Das war von Beginn an klar, nur dauerte es, bis sie sich dessen auch ganz bewusst waren. Sie zogen schon 1992 aus, um der Welt Liebe, Zorn, Schmerz und ein wenig Gerechtigkeit zurückzugeben. Die Essenz dieser Tradition ist die Leidenschaft, mit der diese Musik zelebriert wird. Rock dieser Kategorie ist ein Glaubensbekenntnis, das auch seine Glaubenssätze benötigt: Hey hey, my my, Rock ‘n’ Roll can never die. (Neil Young: Hey hey, my my) Oder wie Vedder singt: We’re faithfull, we all believe, we’re all believin’ (Faithfull). Hier steht der Musiker ganz hinter seinem Werk und er ist bereit, alles zu geben. Aus seiner Kehle klingen Worte wie Liebe und Freiheit nicht schal und leer. Er weiß, dass es Werte gibt, für die es sich immer zu kämpfen lohnt.

          Diese Musik kann traurig sein und tief berühren, auch verunsichern, sie kann aber genauso gut den Widerstand und die (Selbst-)Befreiung aggressiv einfordern. Gerade Pearl Jam haben von Beginn an auf eine Mischung aus schnellen Hardrock-Songs und klassischen Rock-Songs vertraut. Die Wildheit und Unbekümmertheit war immer ein Teil ihrer Bandidentität. Selbst auf "No code" gibt es so halsbrecherisch schnelle Nummern wie Hail, hail, Habit oder Lukin’. Dabei hat man als Hörer nie das Gefühl, diese Songs wären bloß Zugeständnisse an die frühen Fans, die noch immer den aggressiven Rock fordern. Pearl Jam können beides: Richtig einheizen und zum Nachdenken bringen. Mit zunehmendem Alter wurde freilich die schon immer vorhandene ruhige, versponnene Seite perfektioniert (Beispiele dafür sind Immortality, Sometimes, Present Tense, All those yesterdays, Parting ways). Dennoch haben sie sich auch das Image einer Band bewahrt, die ein Stadion mit ihren schnellen Rhythmen zum Kochen bringen kann. (So gesehen im Juni 2000 in Salzburg, als zwar nicht ein Stadion kochte, dafür aber die gesamte Innenstadt.)

        Pearl Jam haben sich über die Jahre als glaubwürdige Vertreter des Rock ‘n’ Roll und seiner Botschaften etabliert. Neil Young hat sie nicht umsonst schon früh als seine Erben akzeptiert. Er spielte mit seinen "Enkeln" mit "Mirrorball" (1995) eines der besten Rockalben der 90er Jahre ein. Pearl Jam erneuern die Verbindung zu Young bei (manchen) Live-Konzerten auf ihre Weise. Wenn sie wie in Salzburg als letzte Zugabe den Young-Klassiker Rockin’ in the free world anstimmen, ist das mehr als die Interpretation eines vielleicht ewig gültigen Songs. Es ist das Bekenntnis zu einer Tradition und ihre gleichzeitige Erneuerung.

        Obwohl sie mit ihrer Musik keine neue Epoche der Musikgeschichte geschrieben haben, ist aus Pearl Jam eine Band geworden, die bleibt. Frei nach dem Motto: "Hey, hey, my, my, rock ‘n’ roll can never die"!



Markus Murauer


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