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In Brasilien
...

Dass es in Rio und in São Paulo viel Gewalt gibt, das weiß jeder. Dass das
Ausmaß dieser Gewalt im Mai 2006 in São Paulo an Bagdad, mithin an Krieg erinnert hat,
das haben damals viele geschrieben. Doch wie verhält es ich eigentlich mit der
Gewalt im Rest des Landes? Ein Augenschein in Brasiliens Nordosten.
...
V
on Hans Durrer
(04. 08. 2007)

...




(c) Blazenka Kostolna

Hans Durrer
contact [at] hansdurrer.com

geboren 1953 in Grabs (Schweiz), studierte Rechts-
wissenschaften (in Basel),
Journalistik (in Cardiff) und
angewandte Linguistik (in
Darwin); ist der Autor von
"Ways of Perception: On
Visual and Intercultural
Communication" (White
Lotus Press, Bangkok
2006).



Homepage

www.hansdurrer.com

 

 

 

Buchtipp
 

Paulo Lins.
Die Stadt Gottes.
Heyne, 2006, 494 S.
ISBN: 3453500245


Kurzbeschreibung

Brasilien, Rio de Janeiro:
Das sind traumhafte Sand-
strände, heiße Sambarhyth-
men, die Copacabana und
Ipanema. Das ist aber auch
Drogenhandel, Dreck und
Brutalität. Fast die Hälfte der
Bevölkerung lebt in den
Armenvierteln, den Favelas.
Nirgends liegen Glanz und
Elend so nah beieinander.

Paulo Lins, Autor des Romans
"Die Stadt Gottes", ist in so
einer Favela groß geworden.
So beschreibt er die Verhält-
nisse in den Elendsvierteln als
einer, der sie hautnah erfah-
ren hat: 'Ich glaube, das
selbst die meisten Brasilia-
ner sich die wirklichen Verhält-
nisse in der City of God nicht
vorstellen können, es gibt
hier große Berührungsängste.
Was in den Armenvierteln los
ist, wird nur durch die Presse
bekannt. Und die zeigt auch
nur Ausschnitte der Realität.
Die wirkliche Dimension der
Probleme kennt niemand.
Mein Buch und die Verfilmung
wollen, dass Ausgrenzung,
Rassismus und extreme
Armut in Brasilien hier und
in der ganzen Welt diskutiert
werden. Dass niemand mehr
wegsehen kann.'
" (Sandra Wiest, BRonline).

 

 

 

Tourist sei ich, schreit er
in den Apparat. Woher?
erkundigt er sich bei mir.
Aus der Schweiz, gibt er
weiter. Nach zwanzig
Minuten trifft die
Ambulanz ein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In João Pessoa, einer
Stadt von etwa 700.000
Einwohnern gab es nur
eine Wache am Spital-
eingang: ein älterer, mit
einem Stock bewaffneter
Mann.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlassene Restaurants
und Imbissbuden, vereinzelt
ein paar Leute, die am
Strand spazieren, ein
Fischer, der Garnelen zum
Kauf anbietet, ein Hund,
der in der Mittagshitze
die Straße überquert:
Luis Correira

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Übrigen, meint Kalina,
stelle sie sich nie vor der
eigenen Haustüre zum Ratschen auf die Straße,
weil man so für Räuber
und Diebe, die sich häufig
auf Motorrädern an einen
heranmachten, ein allzu
willkommenes Opfer
abgebe.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Je mehr ich von der
Gewalt im Land höre,
desto mulmiger wird mir.
André Heller geht mir
durch den Kopf ...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In Fortaleza wird eine
Fernsehsendung produ-
ziert, in der Verhaftete,
im Beisein der Polizei,
vor laufender Kamera
interviewt werden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Als wir nach wenigen
Minuten einen Platz
überqueren, erfassen
meine Augen eine verlas-
sene Häuserschlucht, die
mich an Domodossola
gemahnt, kurz darauf ist
mir, als befände ich mich
in der Schweiz.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"It is possible to think this:
without a reference point
there is meaninglessness.
But I wish you’d understand
that without a reference
point you are in the real."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Waffennarren seien die
Schweizer, sagt der
Kommentator. Dabei, kann
der Reporter fast nicht
fassen, dass es in der
Schweiz pro Jahr nicht
mehr als 43 Gewaltopfer
gebe, also etwa soviel
wie in São Paulo an
einem Wochenende.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

   Dies ist am 23. Mai 2006 aus den Medien bekannt: Über 170 Menschen sind bei Unruhen zwischen kriminellen Banden – rund 800 Häftlinge, die diesen Banden angehören, sollten in Hochsicherheitstrakte verlegt werden, weshalb deren Kompagnons Polizeistationen angriffen – und der Polizei in São Paulo zu Tode gekommen, davon über dreißig Polizisten. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen die Polizei wegen des Verdachts, unbeteiligte Zivilisten hingerichtet zu haben.

Im Fernsehen wird eine Frau gezeigt, die außer sich ist vor Angst: ihr Mann und ihr Sohn sind beide Polizisten. Die Angst dieser Ehefrau und Mutter ist gut zu verstehen, wenn man sich vor Augen hält, dass vor Kurzem ein Polizist, der mit seiner Gattin in einem Restaurant beim Essen saß, von zwei Maskierten aus nächster Distanz in den Kopf geschossen wurde. Auch vollkommen Unbeteiligte wie ein 25-jähriger Musiker, dessen Familie und Freunde sagen, sein einziges Verbrechen sei gewesen, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein, finden sich unter den Opfern.

57 Prozent der Bevölkerung, dies ergab eine am 18. Mai veröffentlichte Umfrage, halten die Gewalt für das wichtigste Problem des Landes. Weit abgeschlagen folgt an zweiter Stelle (mit 12 Prozent) die Gesundheit. Wie die meisten Umfragen offenbart auch diese nichts, was man nicht auch ohne sie gewusst hätte.

45.000, so Amnesty International Schweiz, kommen pro Jahr in Brasilien durch Gewalt zu Tode. Die Gründe sind vielfältig – der leichte Zugang zu den rund 18 Millionen Kleinwaffen im Land gehört sicher dazu –, doch die ungeheuren sozialen Unterschiede werden wohl der wesentlichste Grund sein.

*

   Als ich mich Mitte März 2006 nach Recife aufmache – ich hatte gerade Peter Robbs Death in Brazil gelesen, in dem der Australier Robb, der zwanzig Jahre in Brasilien gelebt hatte, gleich zu Beginn, in Recife, schildert, wie er Opfer eines gewaltsamen Angriffs wird – ist mir etwas bang: mir ist klar, dass ich in eine gefährliche Stadt gekommen bin. Doch jetzt, um sechs Uhr morgens, am fast menschenleeren Flughafen, kommt es mir überhaupt nicht so vor. Die Frau an der Information empfiehlt mir ein Hotel in Boa Viagem, einem Stadtteil, der von einem kilometerlangen Palmenstrand gesäumt ist. Das Hotel ist ein zweistöckiges, unscheinbares Gebäude und liegt zwei Häuserblocks, die mit automatisch gesicherten Türen versehen und darüber hinaus von bewaffneten Sicherheitsleuten bewacht werden, vom Strand entfernt. Es ist sauber, das Zimmer klein, der Preis ausgesprochen günstig; der Eingang ist ständig beaufsichtigt: muss der Rezeptionist aufs Häuschen, tut er das erst, nachdem eine der Küchenhilfen seinen Platz eingenommen hat.

Im nahen, in einem Hinterhof gelegenen Internetcafe, das vorwiegend von (sehr lauten) Buben und (ruhigen) Mädchen besucht wird, die sich an Videogames ergötzen, ist der Eingang mit Eisengittern und Schloss gesichert.

Diese Vorsichtsmaßnahmen und auch die unübersehbare Polizeipräsenz entlang der Strandpromenade beruhigen mich, ich fühle mich recht sicher, obwohl ich um den nicht gerade tollen Ruf der brasilianischen Polizei durchaus weiß. Manchmal jedoch komme ich bei meinen Spaziergängen auch in Gegenden, die mich an Ghettos aus amerikanischen Gangsterfilmen erinnern (aufgeklappte Motorhaube, junge Männer in ärmellosen T-Shirts, laute Musik) – und natürlich meide ich sie. Ansonsten lasse ich mich treiben. Ich habe mich bewusst nicht über das Land kundig gemacht (ausser übers Klima: ich wollte ja die richtigen Kleider mitnehmen), suche auch nichts Bestimmtes, will einfach nur offen sein für das, was mir zustößt.

*

   In Maceio, vier Busstunden südlich von Recife, gehe ich eines Nachmittags auf dem Gehsteig so dahin, als mir auf der Straße ein Radfahrer mit einem Korb voller Coca-Cola-Flaschen entgegenkommt. Plötzlich knallt es und irgendetwas schießt an meiner linken Seite vorbei. Ich sehe – wie in Zeitlupe und als ob dies nicht wirklich sei, ich gar nicht beteiligt, sondern nur Zuschauer wäre –, dass an der Innenseite meines Oberarms ein kleines, dreieckiges Stück Fleisch weggerissen wird. Es schmerzt nicht, doch Blut spritzt nach allen Seiten, ich winkle den Arm an, trotzdem scheint die Blutung zuerst gar nicht zu stoppen und für einen kurzen Augenblick erfüllt mich hysterische Panik, durchfährt es mich, ich werde hier auf der Straße verbluten; es dauert mehrere Minuten bis ich den Blutstrahl stoppen kann.

Was war geschehen? Eine Colaflasche war wegen der Hitze geplatzt und ein Glassplitter hatte mich getroffen. Der junge Radfahrer ist stehen geblieben, weiß aber nicht, was er tun soll; ein Passant ruft mit seinem Mobiltelefon die Ambulanz. Tourist sei ich, schreit er in den Apparat. Woher? erkundigt er sich bei mir. Aus der Schweiz, gibt er weiter. Nach zwanzig Minuten trifft die Ambulanz ein. Die Wunde wird gesäubert, ein Verband angelegt, Blutdruck und Puls werden genommen, meine Personalien notiert.

Ich werde jetzt ins nächstgelegene Spital gebracht, wo die Wunde genäht werden müsse, teilt man mir mit. Ich verabschiede mich bei meinem Helfer mit dem Mobiltelefon, die Sirene wird eingeschaltet, ich lege mich auf die Bahre und los geht’s.

   Die Fahrt dauert und dauert und ich wundere mich: wohin wir denn  ...? Die Sanitäterin und der Sanitäter grinsen. In ein Spital hier in der Gegend, sagen sie. Und es dauert weiter. Nach etwa zwanzig Minuten erreichen wir das Spital, ein einstöckiges, von einem Gittertor aus Eisen gesichertes Gebäude, das von drei Männern mit Gewehren bewacht wird. Vor Jahren war ich einmal in einem ganz ähnlichen Spital (allerdings ohne bewaffnete Wachen) in Malawi gewesen. Ich hatte einen Unfall verursacht gehabt und einer meiner Mitfahrer bedurfte ärztlicher Hilfe. Hier möchte ich nicht Patient sein, dachte ich damals, als ich mich im Spital umschaute. Doch jetzt, als ich selber in einem ganz ähnlichen Spital Patient bin, fühle ich mich gut aufgehoben.

Ein paar Minuten dauert das Vernähen der Wunde. Als ich mich wieder aufrichte, fragt die Ärztin, wie ich jetzt zurück zum Hotel komme?
Na ja, zu Fuß, sage ich.
Das sei keine gute Idee, diese Gegend hier alles andere als sicher, ein Tourist zu Fuß ein gefundenes Fressen.
Ich nehme ein Taxi.

Noch zweimal werde ich in der Folge ein staatliches Spital aufsuchen. In João Pessoa, einer Stadt von etwa 700.000 Einwohnern – da gab es nur eine Wache am Spitaleingang: ein älterer, mit einem Stock bewaffneter Mann – um die Fäden entfernen zu lassen, und in Piripiri, einem Ort mit 60.000 Einwohnern, da gab es gar keine Wache, wegen einer Lebensmittelvergiftung. Übrigens: keiner meiner Spitalbesuche kosteten mich auch nur einen Cent. Sozialservice nennt sich das.

*

   Parnaiba (etwa 700.000 Einwohner) liegt am größten Delta der Americas, hier geht es gemächlich zu, das Geldherausgeben im Supermarkt geschieht mit derart aufreizender Langsamkeit, dass ich den Kerl an der Kasse durchzuschütteln versucht bin; schwer vorstellbar, dass hier überhaupt einmal irgendetwas passiert.

Mit einem Motorradtaxi fahre ich zu einer nahegelegenen, von Dünen umgebenen Lagune. Mich reizt, in den Dünen spazieren zu gehen. Das sei keine gute Idee, meint der stämmige Motorradfahrer. Erst gestern seien hier drei Ausflügler angegriffen und beraubt worden. Ich lasse es bleiben.

Am nächsten Tag fahre ich nach Luis Correira, am Meer gelegen, wesentlich kleiner und noch verschlafener als Parnaiba. Friedlicher kann ein Ort eigentlich gar nicht wirken, doch ein paar Tage später lese ich in der Zeitung, dass frühmorgens ein 30-jähriger Mann per Kopfschuss umgebracht worden sei.

Mein Hotel liegt am Strand, wenige Kilometer vom Ort entfernt. Ein älteres Ehepaar aus dem Süden des Landes und ich sind die einzigen Gäste. Verlassene Restaurants und Imbissbuden, vereinzelt ein paar Leute, die am Strand spazieren, ein Fischer, der Garnelen zum Kauf anbietet, ein Hund, der in der Mittagshitze die Straße überquert – eine Stimmung wie aus einem Westernfilm.

*

   Meine nächste Station ist Teresina, die Hauptstadt des Staates Piaui, wo ich mich sicher fühle, bis mich Kalina, die hier an einer der Unis Englisch unterrichtet, darüber aufklärt, dass Teresina alles andere als sicher, weswegen es auch (wie andernorts in Brasilien) gesetzlich erlaubt sei, in der Nacht bei Rot einen rollenden Stopp zu machen, denn zu oft sei es vorgekommen, dass an solchen Rotlichtern Automobilisten überfallen worden seien. Zudem treffe sie ständig Vorsichtsmaßnahmen: Kehre sie erst spätabends nach Hause zurück, so rufe sie vorher dort an, damit jemand Licht mache und an der Türe stehe, wenn sie eintreffe. Im Übrigen stelle sie sich nie vor der eigenen Haustüre zum Ratschen auf die Straße, weil man so für Räuber und Diebe, die sich häufig auf Motorrädern an einen heranmachten, ein allzu willkommenes Opfer abgebe.

Ob sie glaubten, die Gewalt, die derzeit São Paulo heimsuche, könnte künftig auch in Teresina möglich sein, wurden Studenten von Meio Norte, einer der wichtigeren Zeitungen im Staate Piaui, gefragt. Die meisten konnten es sich nicht vorstellen.

Tags darauf berichtet Meio Norte, dass in Altos, einem Ort von etwa 20.000 Einwohnern, der ganz in der Nähe liegt, ein 30-jähriger Mann in den frühen Morgenstunden auf einem öffentlichen Platz Opfer eines brutalen Raubüberfalls (durchgeschnittene Kehle, Messerstiche im Rücken, Geld und Dokumente fehlten) geworden sei. Im Fernsehen werden Bilder der in der Pathologie von Teresina aufgebahrten Leiche gezeigt.

   Der Direktor des Colégio Agricola, wo ich einen Vortrag über interkulturelle Kommunikation halte, erzählt, er sei in den letzten zwei Jahren achtmal mit einer Waffe bedroht und beraubt worden, einmal sogar am hellichten Nachmittag, in einer Apotheke; die vorangegangenen vier Jahre jedoch kein einziges Mal. Besser wäre wohl, meinte er trocken, wenn er künftig nur noch in Shorts und Plastiksandalen und nicht mehr mit Krawatte herumlaufe

Je mehr ich von der Gewalt im Land höre, desto mulmiger wird mir. André Heller geht mir durch den Kopf: Trifft ein Wolf im Wald auf einen anderen Wolf, denkt er: sicher ein Wolf. Trifft ein Mensch im Wald auf einen anderen Menschen, denkt er: sicher ein Mörder.

Die nächsten paar Tage gehe ich, den Rucksack mit Geld und Wertsachen eng an mich gepresst, sehr viel vorsichtiger durch die Strassen. In Shorts und Plastiksandalen.

*

   Meine Erfahrungen mit den Brasilianern sind fast ausschließlich positiv, ich erlebe sie als freundlich und hilfsbereit. Nervig finde ich eigentlich nur, dass einige wenige noch nie was von Schlangestehen gehört zu haben scheinen, doch diese laut auf Schweizerdeutsch zurecht zu weisen, hilft meist.

Und dann die Strände, ein Traum nach dem andern. Und die Musik. Forró und Calypso (und ganz besonders die Companhia do Calypso), für mich, und zwar jederzeit. Einmal, an einem Konzert der Solteirões do Forró, morgens um zwei, als es mir vorkommt, als hätte ich einige der Songs schon von anderen Gruppen gehört, erkundige ich mich bei meinen Nachbarn: Das sei so üblich bei Konzerten, dass man, wenn man die eigenen Songs (so viele habe man häufig gar nicht) gespielt habe, hernach die Hitparade rauf und runter dudle. Mich stört’s nicht, im Gegenteil, ich kann gar nicht genug von diesen Rhythmen und Melodien kriegen.

Was ich sehe und erlebe (meist friedlich auf Plastikstühlen, die allüberall auf Straßen und Plätzen hingestellt werden, sitzende Leute) bringe ich nur schwer mit dem zusammen, wovon ich lese und höre. Ein norwegischer Architekt erzählt von einem Schweizer Ehepaar, das abends um sechs an einem der Strände von Fortaleza mit Messern bedroht wurde, im Fernsehen wird von einem Überfall in Fortaleza berichtet, bei dem ein Polizist (der achte in diesem Jahr) erschossen wurde, die Bilder einer Geiselnahme in São Paulo werden so oft gezeigt, dass man glaubt, selber live dabei zu sein.

In Fortaleza wird eine Fernsehsendung produziert, in der Verhaftete, im Beisein der Polizei, vor laufender Kamera interviewt werden. Erstaunlich viele, doch nicht alle, kooperieren. Mit andern Worten, sie werden an den Pranger gestellt bevor sie überhaupt verurteilt worden sind. Als ich dies einem hiesigen Journalisten gegenüber erwähne, zeigt er sich erstaunt darüber, dass mich dies erstaunt
das sei doch in den USA gang und gäbe.

*

   Es ist ein nationaler Feiertag, als ich in Sobral eintreffe, die Stadt wirkt ausgestorben. Mit einem Motorradtaxi mache ich mich auf die Suche nach einem Supermarkt, der geöffnet hat. Der ältere Motorradfahrer kennt einen. Und zudem eine sehr gute Bäckerei. Als wir nach wenigen Minuten einen Platz überqueren, erfassen meine Augen eine verlassene Häuserschlucht, die mich an Domodossola gemahnt, kurz darauf ist mir, als befände ich mich in der Schweiz, in Glarus. Ich habe keine Ahnung, was diese Assoziationen hervorruft, mag auch gar keine Erklärungen suchen, nicht zuletzt, weil ich weiß, dass es keine Gewissheit geben kann, dass höchstens mehr oder weniger plausible Interpretationen möglich sind – und solche interessieren mich für einmal nicht. Doch ist das Leben überhaupt aushaltbar ohne Orientierungspunkte?

Was mir in Sobral zugestoßen ist, ist mir bestimmt schon unzählige Male passiert, ohne dass ich es speziell beachtet hätte. Des Nachts, in Hotelzimmern mit zum Lesen ungenügendem Licht, strecke ich mich nun regelmäßig auf dem Bett aus und lasse aus dem Unterbewussten aufsteigen, was da hochkommen will – Bildeindrücke von hier und da, nichts scheint miteinander in erkennbarem Bezug zu stehen. Es ist dies eine faszinierende, doch vor allem zutiefst verstörende, mit viel Angst verbundene Erfahrung. Es gebe keinen Sinn im Leben außer dem, den ich ihm selber gebe, habe ich einmal gelesen. Ein einleuchtender Satz, auch wenn ich ihn gefühlsmäßig ablehne, denn mir scheint, es sei nicht an uns, den Sinn des Lebens nach Lust und Laune zu erfinden, sondern ihn in dem zu entdecken, was ist. Es gibt Momente, in denen das gelingt. Und weil dem so ist, schaff ich es immer weniger, unsere erfundene Wirklichkeit (von den Ideen eines "heiligen" Landes bis zu den Prinzipien, auf denen die Wissenschaft gründet) wirklich ernst zu nehmen. "It is possible to think this: without a reference point there is meaninglessness. But I wish you’d understand that without a reference point you are in the real", schreibt Sharon Cameron in Beautiful Work: A Meditation on Pain.

Als die brasilianische Mannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft zum ersten Mal zum Zuge kommt, machen Schulen, Ämter und Läden frühzeitig zu, damit sich alle die Übertragung im Fernsehen ansehen können. Viele tun das in Restaurants, und nicht wenige haben sich für diesen Anlass den nationalen Fussballdress angezogen. Fußball vereint, und dieser Identitäts-Kitt ist wohl nötig, damit das Land nicht noch ganz auseinander bricht. Doch Fußball trennt auch, wie man an den Straßenschlachten nach den Spielen häufig sehen kann. Mit anderen Worten: Wenn wir die Welt, die wir uns erfunden haben, allzu ernst nehmen, wendet sie sich gegen uns.

*

   In Camocin treffe ich auf einen jungen Anwalt aus São Paulo, der mir vom Leben dort erzählt. Komme er spätabends nach Hause und sehe in seinem Wohngebiet verdächtige Gestalten, fahre er so lange um die Häuser, bis sich diese Typen wieder aus dem Staub gemacht hätten. Nie würde er seinen Wagen in die Tiefgarage fahren, wenn Unbekannte davor herumlungerten.

Im Fernsehen läuft ein Bericht über die Schweiz: Die brasilianische Fußballmannschaft ist gerade zum Trainingslager in Weggis eingetroffen. Waffennarren seien die Schweizer, sagt der Kommentator. Bilder von einem Schützenfest werden gezeigt, erwähnt wird auch, dass in jedem Schweizer Haushalt ein Gewehr zu finden ist. Dabei, und das kann der Reporter fast gar nicht fassen, gebe es in der Schweiz pro Jahr nicht mehr als 43 Gewaltopfer, also etwa soviel wie in São Paulo an einem Wochenende.

Es versteht sich: Was ich über die Gewalt im Lande höre und lese, bleibt nicht ohne Wirkung, beeinflusst mich. Nach einbrechender Dunkelheit traue ich mich immer weniger aus dem Hotel, obgleich ich doch aus der Kriminologie weiß, dass die meisten Gewalttaten Beziehungsdelikte sind, dass sich also Opfer und Täter von Gewaltdelikten fast immer kennen. Nur eben: dies zu wissen, beruhigt nur wenig. Und überhaupt: was ist mit Raub, Diebstahl, Entwendung etc.? Gerade berichtete das Fernsehen, dass innerhalb weniger Tage zwanzig – oder waren es fünfzig? – Studenten unter Androhung von Gewalt ihre Handys abgenommen wurden. Andererseits, und vor allem: Mir ist doch in den drei Monaten, die ich jetzt hier unterwegs bin, absolut gar nichts passiert.

   In einer Kleinstadt am Strand, etwa sechzig Kilometer von Fortaleza, frage ich einen Franzosen, der dort ein Restaurant betreibt und seit Jahren im Land lebt, wie denn er mit der Gewalt hier lebe. Nun ja, sagt er, der Ort hier sei ja nicht mit Fortaleza zu vergleichen und überhaupt, man gewöhne sich eben daran.

Auch, weil es da ja noch ganz anderes gibt: angenehme, lebensfrohe Menschen (nein, nicht alle Brasilianer sind so, doch viele und prozentual sicher mehr als es lebensfrohe Schweizer gibt), Forró, Calypso und sagenhafte Sandstrände so weit das Auge reicht. Und, nicht zu vergessen: das beste Frühstück der Welt.

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