Dies ist am 23. Mai 2006
aus den Medien bekannt: Über 170 Menschen sind bei Unruhen zwischen
kriminellen Banden – rund 800 Häftlinge, die diesen Banden angehören,
sollten in Hochsicherheitstrakte verlegt werden, weshalb deren
Kompagnons Polizeistationen angriffen – und der Polizei in São Paulo zu Tode
gekommen, davon über dreißig Polizisten. Die Staatsanwaltschaft ermittelt
gegen die Polizei wegen des Verdachts, unbeteiligte Zivilisten hingerichtet
zu haben.
Im Fernsehen wird eine
Frau gezeigt, die außer sich ist vor Angst: ihr Mann und ihr Sohn sind
beide Polizisten. Die Angst dieser Ehefrau und Mutter ist gut zu verstehen,
wenn man sich vor Augen hält, dass vor Kurzem ein Polizist, der mit seiner
Gattin in einem Restaurant beim Essen saß, von zwei Maskierten aus nächster
Distanz in den Kopf geschossen wurde. Auch vollkommen Unbeteiligte wie ein
25-jähriger Musiker, dessen Familie und Freunde sagen, sein einziges
Verbrechen sei gewesen, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein,
finden sich unter den Opfern.
57 Prozent der Bevölkerung, dies ergab eine am 18. Mai veröffentlichte
Umfrage, halten die Gewalt für das wichtigste Problem des Landes. Weit
abgeschlagen folgt an zweiter Stelle (mit 12 Prozent) die Gesundheit. Wie
die meisten Umfragen offenbart auch diese nichts, was man nicht auch ohne sie
gewusst hätte.
45.000, so Amnesty
International Schweiz, kommen pro Jahr in Brasilien durch Gewalt zu Tode.
Die Gründe sind vielfältig – der leichte Zugang zu den rund 18 Millionen
Kleinwaffen im Land gehört sicher dazu –, doch die ungeheuren sozialen
Unterschiede werden wohl der wesentlichste Grund sein.
*
Als ich mich Mitte März 2006 nach Recife aufmache – ich hatte gerade Peter
Robbs Death in Brazil gelesen, in dem der Australier Robb, der
zwanzig Jahre in Brasilien gelebt hatte, gleich zu Beginn, in Recife,
schildert, wie er Opfer eines gewaltsamen Angriffs wird – ist mir etwas
bang: mir ist klar, dass ich in eine gefährliche Stadt gekommen bin. Doch
jetzt, um sechs Uhr morgens, am fast menschenleeren Flughafen, kommt es mir
überhaupt nicht so vor. Die Frau an der Information empfiehlt mir ein Hotel
in Boa Viagem, einem Stadtteil, der von einem kilometerlangen Palmenstrand
gesäumt ist. Das Hotel ist ein zweistöckiges, unscheinbares Gebäude und
liegt zwei Häuserblocks, die mit automatisch gesicherten Türen versehen und
darüber hinaus von bewaffneten Sicherheitsleuten bewacht werden, vom Strand
entfernt. Es ist sauber, das Zimmer klein, der Preis ausgesprochen günstig;
der Eingang ist ständig beaufsichtigt: muss der Rezeptionist aufs Häuschen,
tut er das erst, nachdem eine der Küchenhilfen seinen Platz eingenommen hat.
Im nahen, in einem Hinterhof gelegenen Internetcafe, das vorwiegend von
(sehr lauten) Buben und (ruhigen) Mädchen besucht wird, die sich an
Videogames ergötzen, ist der Eingang mit Eisengittern und Schloss gesichert.
Diese Vorsichtsmaßnahmen und auch die unübersehbare Polizeipräsenz entlang
der Strandpromenade beruhigen mich, ich fühle mich recht sicher, obwohl ich
um den nicht gerade tollen Ruf der brasilianischen Polizei durchaus weiß.
Manchmal jedoch komme ich bei meinen Spaziergängen auch in Gegenden, die
mich an Ghettos aus amerikanischen Gangsterfilmen erinnern (aufgeklappte
Motorhaube, junge Männer in ärmellosen T-Shirts, laute Musik) – und
natürlich meide ich sie. Ansonsten lasse ich mich treiben. Ich habe mich
bewusst nicht über das Land kundig gemacht (ausser übers Klima: ich wollte
ja die richtigen Kleider mitnehmen), suche auch nichts Bestimmtes, will
einfach nur offen sein für das, was mir zustößt.
*
In Maceio, vier Busstunden südlich von Recife, gehe ich eines Nachmittags
auf dem Gehsteig so dahin, als mir auf der Straße ein Radfahrer mit einem
Korb voller Coca-Cola-Flaschen entgegenkommt. Plötzlich knallt es und
irgendetwas schießt an meiner linken Seite vorbei. Ich sehe – wie in
Zeitlupe und als ob dies nicht wirklich sei, ich gar nicht beteiligt,
sondern nur Zuschauer wäre –, dass an der Innenseite meines Oberarms ein
kleines, dreieckiges Stück
Fleisch weggerissen wird. Es schmerzt nicht, doch Blut spritzt nach allen
Seiten, ich winkle den Arm an, trotzdem scheint die Blutung zuerst gar nicht
zu stoppen und für einen kurzen Augenblick erfüllt mich hysterische Panik,
durchfährt es mich, ich werde hier auf der Straße verbluten; es dauert
mehrere Minuten bis ich den Blutstrahl stoppen kann.
Was war geschehen? Eine Colaflasche war wegen der Hitze geplatzt und ein
Glassplitter hatte mich getroffen. Der junge Radfahrer ist stehen geblieben,
weiß aber nicht, was er tun soll; ein Passant ruft mit seinem Mobiltelefon
die Ambulanz. Tourist sei ich, schreit er in den Apparat. Woher? erkundigt
er sich bei mir. Aus der Schweiz, gibt er weiter. Nach zwanzig Minuten
trifft die Ambulanz ein. Die Wunde wird gesäubert, ein Verband angelegt,
Blutdruck und Puls werden genommen, meine Personalien notiert.
Ich werde jetzt ins nächstgelegene Spital gebracht, wo die Wunde genäht
werden müsse, teilt man mir mit. Ich verabschiede mich bei meinem Helfer mit
dem Mobiltelefon, die Sirene wird eingeschaltet, ich lege mich auf die
Bahre und los geht’s.
Die Fahrt dauert und dauert und ich wundere mich: wohin wir denn ...? Die
Sanitäterin und der Sanitäter grinsen. In ein Spital hier in der Gegend,
sagen sie. Und es dauert weiter. Nach etwa zwanzig Minuten erreichen wir das
Spital, ein einstöckiges, von einem Gittertor aus Eisen gesichertes Gebäude,
das von drei Männern mit Gewehren bewacht wird. Vor Jahren war ich einmal in
einem ganz ähnlichen Spital (allerdings ohne bewaffnete Wachen) in Malawi
gewesen. Ich hatte einen Unfall verursacht gehabt und einer meiner Mitfahrer
bedurfte ärztlicher Hilfe. Hier möchte ich nicht Patient sein, dachte ich
damals, als ich mich im Spital umschaute. Doch jetzt, als ich selber in
einem ganz ähnlichen Spital Patient bin, fühle ich mich gut aufgehoben.
Ein paar Minuten dauert das Vernähen der Wunde. Als ich mich wieder
aufrichte, fragt die Ärztin, wie ich jetzt zurück zum Hotel komme?
Na ja, zu Fuß, sage ich.
Das sei keine gute Idee, diese Gegend hier alles andere als sicher, ein
Tourist zu Fuß ein gefundenes Fressen.
Ich nehme ein Taxi.
Noch zweimal werde ich in der Folge ein staatliches Spital aufsuchen.
In João Pessoa, einer Stadt von etwa 700.000 Einwohnern – da gab es nur eine
Wache am Spitaleingang: ein älterer, mit einem Stock bewaffneter Mann – um
die Fäden entfernen zu lassen, und in Piripiri, einem Ort mit 60.000
Einwohnern, da gab es gar keine Wache, wegen einer Lebensmittelvergiftung.
Übrigens: keiner meiner Spitalbesuche kosteten mich auch nur einen Cent.
Sozialservice nennt sich das.
*
Parnaiba (etwa 700.000 Einwohner) liegt am größten Delta der Americas, hier
geht es gemächlich zu, das Geldherausgeben im Supermarkt geschieht
mit derart aufreizender Langsamkeit, dass ich den Kerl an der Kasse
durchzuschütteln versucht bin; schwer vorstellbar, dass hier überhaupt
einmal irgendetwas passiert.
Mit einem Motorradtaxi fahre ich zu einer nahegelegenen, von Dünen umgebenen
Lagune. Mich reizt, in den Dünen spazieren zu gehen. Das sei keine gute
Idee, meint der stämmige Motorradfahrer. Erst gestern seien hier drei
Ausflügler angegriffen und beraubt worden. Ich lasse es bleiben.
Am nächsten Tag fahre ich nach Luis Correira, am Meer gelegen, wesentlich
kleiner und noch verschlafener als Parnaiba. Friedlicher kann ein Ort
eigentlich gar nicht wirken, doch ein paar Tage später lese ich in der
Zeitung, dass frühmorgens ein 30-jähriger Mann per Kopfschuss umgebracht
worden sei.
Mein Hotel liegt am
Strand, wenige Kilometer vom Ort entfernt. Ein älteres Ehepaar aus dem Süden
des Landes und ich sind die einzigen Gäste. Verlassene Restaurants und
Imbissbuden, vereinzelt ein paar Leute, die am Strand spazieren, ein
Fischer, der Garnelen zum Kauf anbietet, ein Hund, der in der Mittagshitze
die Straße überquert – eine Stimmung wie aus einem Westernfilm.
*
Meine nächste Station ist Teresina, die Hauptstadt des Staates Piaui, wo ich
mich sicher fühle, bis mich Kalina, die hier an einer der Unis Englisch
unterrichtet, darüber aufklärt, dass Teresina alles andere als sicher,
weswegen es auch (wie andernorts in Brasilien) gesetzlich erlaubt sei, in der Nacht bei Rot
einen rollenden Stopp zu machen, denn zu oft sei es vorgekommen, dass an
solchen Rotlichtern Automobilisten überfallen worden seien. Zudem treffe sie
ständig Vorsichtsmaßnahmen: Kehre sie erst spätabends nach Hause zurück, so
rufe sie vorher dort an, damit jemand Licht mache und an der Türe stehe, wenn sie
eintreffe. Im Übrigen stelle sie sich nie vor der eigenen Haustüre zum
Ratschen auf die Straße, weil man so für Räuber und Diebe, die sich häufig
auf Motorrädern an einen heranmachten, ein allzu willkommenes Opfer abgebe.
Ob sie glaubten, die Gewalt, die derzeit São Paulo heimsuche, könnte künftig
auch in Teresina möglich sein, wurden Studenten von Meio
Norte,
einer der wichtigeren Zeitungen im Staate Piaui, gefragt. Die meisten
konnten es sich nicht vorstellen.
Tags darauf berichtet Meio Norte, dass in Altos, einem Ort von etwa 20.000
Einwohnern, der ganz in der Nähe liegt, ein 30-jähriger Mann in den frühen
Morgenstunden auf einem öffentlichen Platz Opfer eines brutalen
Raubüberfalls (durchgeschnittene Kehle, Messerstiche im Rücken, Geld und
Dokumente fehlten) geworden sei. Im Fernsehen werden Bilder der in der
Pathologie von Teresina aufgebahrten Leiche gezeigt.
Der Direktor des Colégio
Agricola, wo ich einen Vortrag über interkulturelle Kommunikation halte,
erzählt, er sei in den letzten zwei Jahren achtmal mit einer Waffe bedroht
und beraubt worden, einmal sogar am hellichten Nachmittag, in einer
Apotheke; die vorangegangenen vier Jahre jedoch kein einziges Mal. Besser
wäre wohl, meinte er trocken, wenn er künftig nur noch in Shorts und
Plastiksandalen und nicht mehr mit Krawatte herumlaufe
Je mehr ich von der Gewalt im Land höre, desto mulmiger wird mir. André
Heller geht mir durch den Kopf: Trifft ein Wolf im Wald auf einen anderen
Wolf, denkt er: sicher ein Wolf. Trifft ein Mensch im Wald auf einen anderen
Menschen, denkt er: sicher ein Mörder.
Die nächsten paar Tage
gehe ich, den Rucksack mit Geld und Wertsachen eng an mich gepresst, sehr
viel vorsichtiger durch die Strassen. In Shorts und Plastiksandalen.
*
Meine Erfahrungen mit den Brasilianern sind fast ausschließlich positiv,
ich erlebe sie als freundlich und hilfsbereit. Nervig finde ich eigentlich
nur, dass einige wenige noch nie was von Schlangestehen gehört zu haben
scheinen, doch diese laut auf Schweizerdeutsch zurecht zu weisen, hilft
meist.
Und dann die Strände, ein
Traum nach dem andern. Und die Musik. Forró und Calypso (und ganz besonders
die Companhia do Calypso), für mich, und zwar jederzeit. Einmal, an
einem Konzert der Solteirões do Forró, morgens um zwei, als es mir
vorkommt, als hätte ich einige der Songs schon von anderen Gruppen gehört,
erkundige ich mich bei meinen Nachbarn: Das sei so üblich bei Konzerten, dass
man, wenn man die eigenen Songs (so viele habe man häufig gar nicht)
gespielt habe, hernach die Hitparade rauf und runter dudle. Mich stört’s nicht, im
Gegenteil, ich kann gar nicht genug von diesen Rhythmen und Melodien
kriegen.
Was ich sehe und erlebe (meist friedlich auf Plastikstühlen, die allüberall
auf Straßen und Plätzen hingestellt werden, sitzende Leute) bringe ich nur
schwer mit dem zusammen, wovon ich lese und höre. Ein norwegischer Architekt
erzählt von einem Schweizer Ehepaar, das abends um sechs an einem der
Strände von Fortaleza mit Messern bedroht wurde, im Fernsehen wird von einem
Überfall in Fortaleza berichtet, bei dem ein Polizist (der achte in diesem
Jahr) erschossen wurde, die Bilder einer Geiselnahme in São Paulo werden so
oft gezeigt, dass man glaubt, selber live dabei zu sein.
In Fortaleza wird eine Fernsehsendung produziert, in der Verhaftete, im
Beisein der Polizei, vor laufender Kamera interviewt werden. Erstaunlich
viele, doch nicht alle, kooperieren. Mit andern Worten, sie werden an den
Pranger gestellt bevor sie überhaupt verurteilt worden sind. Als ich dies
einem hiesigen Journalisten gegenüber erwähne, zeigt er sich erstaunt
darüber, dass mich dies erstaunt
– das sei doch in den USA gang und gäbe.
*
Es ist ein nationaler
Feiertag, als ich in Sobral eintreffe, die Stadt wirkt ausgestorben. Mit
einem Motorradtaxi mache ich mich auf die Suche nach einem Supermarkt, der
geöffnet hat. Der ältere Motorradfahrer kennt einen. Und zudem eine sehr
gute Bäckerei. Als wir nach wenigen Minuten einen Platz überqueren, erfassen
meine Augen eine verlassene Häuserschlucht, die mich an Domodossola gemahnt,
kurz darauf ist mir, als befände ich mich in der Schweiz, in Glarus. Ich
habe keine Ahnung, was diese Assoziationen hervorruft, mag auch gar keine
Erklärungen suchen, nicht zuletzt, weil ich weiß, dass es keine Gewissheit
geben kann, dass höchstens mehr oder weniger plausible Interpretationen
möglich sind – und solche interessieren mich für einmal nicht. Doch ist das
Leben überhaupt aushaltbar ohne Orientierungspunkte?
Was mir in Sobral
zugestoßen ist, ist mir bestimmt schon unzählige Male passiert, ohne dass ich
es speziell beachtet hätte. Des Nachts, in Hotelzimmern mit zum Lesen
ungenügendem Licht, strecke ich mich nun regelmäßig auf dem Bett aus und
lasse aus dem Unterbewussten aufsteigen, was da hochkommen will –
Bildeindrücke von hier und da, nichts scheint miteinander in erkennbarem
Bezug zu stehen. Es ist dies eine faszinierende, doch vor allem zutiefst
verstörende, mit viel Angst verbundene Erfahrung. Es gebe keinen Sinn im
Leben außer dem, den ich ihm selber gebe, habe ich einmal gelesen. Ein
einleuchtender Satz, auch wenn ich ihn gefühlsmäßig ablehne, denn mir
scheint, es sei nicht an uns, den Sinn des Lebens nach Lust und Laune zu
erfinden, sondern ihn in dem zu entdecken, was ist. Es gibt Momente, in
denen das gelingt. Und weil dem so ist, schaff ich es immer weniger, unsere
erfundene Wirklichkeit (von den Ideen eines "heiligen" Landes bis zu den
Prinzipien, auf denen die Wissenschaft gründet) wirklich ernst zu nehmen.
"It is possible to think this: without a reference point there is
meaninglessness. But I wish you’d understand that without a reference point
you are in the real", schreibt Sharon Cameron in Beautiful Work: A
Meditation on Pain.
Als die brasilianische
Mannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft zum ersten Mal zum Zuge kommt,
machen Schulen, Ämter und Läden frühzeitig zu, damit sich alle die
Übertragung im Fernsehen ansehen können. Viele tun das in Restaurants, und
nicht wenige haben sich für diesen Anlass den nationalen Fussballdress
angezogen. Fußball vereint, und dieser Identitäts-Kitt ist wohl nötig,
damit das Land nicht noch ganz auseinander bricht. Doch Fußball trennt
auch, wie man an den Straßenschlachten nach den Spielen häufig sehen kann.
Mit anderen Worten: Wenn wir die Welt, die wir uns erfunden haben, allzu ernst
nehmen, wendet sie sich gegen uns.
*
In Camocin treffe ich auf einen jungen Anwalt aus São Paulo, der mir vom
Leben dort erzählt. Komme er spätabends nach Hause und sehe in seinem
Wohngebiet verdächtige Gestalten, fahre er so lange um die Häuser, bis sich
diese Typen wieder aus dem Staub gemacht hätten. Nie würde er seinen Wagen
in die Tiefgarage fahren, wenn Unbekannte davor herumlungerten.
Im Fernsehen läuft ein Bericht über die Schweiz:
Die brasilianische
Fußballmannschaft ist gerade zum Trainingslager in Weggis eingetroffen.
Waffennarren seien die Schweizer, sagt der Kommentator. Bilder von einem
Schützenfest werden gezeigt, erwähnt wird auch, dass in jedem Schweizer
Haushalt ein Gewehr zu finden ist. Dabei, und das kann der Reporter fast gar
nicht fassen, gebe es in der Schweiz pro Jahr nicht mehr als 43 Gewaltopfer,
also etwa soviel wie in São Paulo an einem Wochenende.
Es versteht sich: Was ich
über die Gewalt im Lande höre und lese, bleibt nicht ohne Wirkung,
beeinflusst mich. Nach einbrechender Dunkelheit traue ich mich immer weniger
aus dem Hotel, obgleich ich doch aus der Kriminologie weiß, dass die meisten
Gewalttaten Beziehungsdelikte sind, dass sich also Opfer und Täter von
Gewaltdelikten fast immer kennen. Nur eben: dies zu wissen, beruhigt nur
wenig. Und überhaupt: was ist mit Raub, Diebstahl, Entwendung etc.? Gerade
berichtete das Fernsehen, dass innerhalb weniger Tage zwanzig – oder waren
es fünfzig? – Studenten unter Androhung von Gewalt ihre Handys abgenommen
wurden. Andererseits, und vor allem: Mir ist doch in den drei Monaten, die
ich jetzt hier unterwegs bin, absolut gar nichts passiert.
In einer Kleinstadt am
Strand, etwa sechzig Kilometer von Fortaleza, frage ich einen Franzosen, der
dort ein Restaurant betreibt und seit Jahren im Land lebt, wie denn er mit
der Gewalt hier lebe. Nun ja, sagt er, der Ort hier sei ja nicht mit
Fortaleza zu vergleichen und überhaupt, man gewöhne sich eben daran.
Auch, weil es da ja noch
ganz anderes gibt: angenehme, lebensfrohe Menschen (nein, nicht alle
Brasilianer sind so, doch viele und prozentual sicher mehr als es
lebensfrohe Schweizer gibt), Forró, Calypso und sagenhafte Sandstrände so
weit das Auge reicht. Und, nicht zu vergessen: das beste Frühstück der
Welt. |