Zum
Bemerkenswertesten unserer Zeit gehört mit Sicherheit, dass sie trotz
gewaltiger Produktionsmengen auf viele Ressourcen verzichten kann. Noch vor
zwei, drei Generationen schien dies völlig undenkbar. Niemand konnte sich
vorstellen, dass es einmal möglich sein würde, für immer noch vollere Regale
zu sorgen und gleichzeitig Böden – und schlimmer: Menschen "stillzulegen".
Wie auch? Die goldenen Nachkriegsjahrzehnte gewöhnten
an den Gedanken, dass sich die Prinzipien der Industriegesellschaft
unendlich fortschreiben ließen. Vielleicht, so versichern die Ökonomen,
würde dieser Prozess nicht immer ganz reibungslos verlaufen, die
Umstrukturierungen könnten einige Augenblicke lang schmerzvoll sein; aufs
Gesamte gesehen wären sie jedoch notwendig und hätten die Konsum- und
Wohlstandsgesellschaft erst möglich gemacht. - Tatsächlich war man materiell
besser gestellt als jemals zuvor. Man konnte sich Dinge leisten, von denen
Menschen früher nur geträumt hatten. Und man konnte sie sich leisten, weil
die nicht-konkurrenzfähigen Branchen und Produktionsweisen durch
produktivere Mitbewerber geschädigt und schließlich in andere Bereiche
verdrängt worden waren. Anders ausgedrückt: Weil immer weniger Landwirte die
benötigten Lebensmittel immer billiger erzeugen konnten, blieben der
Gesellschaft immer mehr Geld für den Kauf von Kohle und Stahl und immer mehr
Arbeitskräfte, um diese zu produzieren; weil immer weniger Arbeiter Kohle
und Stahl immer billiger lieferten, blieben immer mehr Geld für den Kauf von
Radios und Autos und immer mehr Arbeitskräfte zu deren Herstellung. Und so
fort.
Alles in
allem war die Geschichte der Industriegesellschaft eine fortlaufende
Erfolgsgeschichte. Und nichts schien es bis dato zu rechtfertigen, sie nicht
weiterzuerzählen. Die Wachstumszahlen stimmten ja und der Blick zurück
konnte optimistisch machen.

Die Blumenwiese ist
ein bäuerliches Kulturprodukt, das die Artenvielfalt von
"Naturlandschaften" in der Regel weit überragt. Durch die zunehmende
Intensivierung der Wiesennutzung, d.h. durch höhere Düngegaben und die
Zunahme der Schnitthäufigkeit, geht die Artenvielfalt der Wiese aber
stark zurück, weil nur noch die fünf bis acht produktivsten und
schnellwüchsigsten Futterpflanzen übrig bleiben.
Doch dann
kamen die 70er und die Industriegesellschaft schlitterte in die Krise. -
Nicht dass die Wirtschaftsleistung seitdem jemals geschrumpft wäre (das BIP
steigt ja nach wie vor an, wenn auch nicht mehr so steil wie zu
Wirtschaftswunderzeiten) – nein, die Krise zeigt sich vielmehr dadurch, dass
die Wegmechanisierung menschlicher Arbeitskraft, die Auslagerungen in
Billiglohnländer und die Konzentration der Produktion auf weniger Hände
nunmehr in einem Tempo erfolgt, dem man mit der Schaffung neuer
Arbeitsmöglichkeiten nicht mehr folgen kann. (Was, fragt man sich, soll
überhaupt noch produziert werden?)
Freilich, was sich in Massenarbeitslosigkeit, dem
forcierten Bauernsterben oder einfach der Angst, seinen Arbeitsplatz zu
verlieren, so dramatisch äußert, wird im öffentlichen Raum kaum einmal als
grundsätzliches Problem oder als Fehlentwicklung der
Industriegesellschaft angesehen, sondern schlicht und einfach als falscher
Umgang mit ihr und den sich verändernden ökonomischen Gegebenheiten. So
nimmt man es einem Unternehmen dann auch nicht übel, wenn es noch größer
oder noch "effizienter" werden will. Und selbstverständlich müssen Löhne,
Umsätze und Gewinne jährlich steigen – natürlich auf Kosten anderer... -
Beklagt wird dagegen die geringe Innovationskraft eines Landes, die
mangelnde Flexibilität der Arbeitskräfte (und deren Verfestigung durch die,
wie man meint, großzügigen Sozialhilfen) oder das fehlende politische
Geschick, die "Wirtschaft anzukurbeln" und damit die Wachstumszahlen
entsprechend zu erhöhen, kurzum: die unzureichende Anpassung an die
"notwendigen" wirtschaftlichen Abläufe.
...

Im kroatischen
Opatija, hat mir kürzlich jemand erzählt, können die Frauen aus der
Umgebung ihr Gemüse nicht mehr verkaufen, weil sie neuerdings Gebühren
für den Standplatz zahlen müssen. Das erinnert mich an die Hygiene- und
Sozialversicherungsverordnungen, mit denen man hier den
Klein-Klein-Produzenten von Wurst oder Käse das Leben schwer macht. Wenn
das so weitergeht, wird es bald das Natürliche nicht mehr geben, dass
einer von seinem Baum die Äpfel pflückt und sie irgendwo am Straßenrand
verkauft!
Aber muss eine
Entwicklung in jedem Fall richtig sein, nur weil sie den Mustern folgt, die
den gegenwärtigen Wohlstand hervorgebracht haben? Oder kann sich ein
erfolgreiches Konzept irgendwann so verkehren, dass es zum Fluch wird und
ein Richtungswechsel unumgänglich erscheint? Ich erinnere mich daran, wie
meine Großmutter von uns Jungen dafür belächelt wurde, dass sie stundenlang
am Feld den Rechen zog wegen, wie wir meinten, "der paar Büschel Heu". Das
Bewusstsein der Knappheit, das sich in ihrer Arbeit ausdrückte, ist uns
längst fremd geworden. Zwar bestaunen wir nach wie vor, wie sparsam etwa die
alten Städtebauer mit dem Bauland umgingen und wir sind fasziniert von der
Tatsache, dass das Land bis in die schwindelerregenden alpinen Steilhänge
hinauf bewirtschaftet wird, aber "notwendig" – notwendig erscheint uns das
schon lang nicht mehr. Wir sind mit Traktoren und den verbesserten
landwirtschaftlichen Methoden aufgewachsen und eigentlich ganz froh darüber,
dass wir nicht mehr wie vor 50 oder 100 Jahren wirtschaften müssen.
Franz Innerhofer:
"Der Werfer musste Fuder um Fuder dem Stadler vor die Füße schmeißen,
musste die Werfergabel in das Heu stoßen, anreißen, sich mit seiner
ganzen Kraft an den Gabelstiel klammern, sich mit seinem ganzen Gewicht
hineinhängen, stemmen, sich recken und sofort wieder nieder, hinein in
das Heu und hinauf damit auf den Stock, kaum die Wagenbretter unter den
Füßen, stand schon wieder das nächste Fuder da."
Gleichzeitig
breitet sich ein Unbehagen über die von der Marktgesellschaft
hervorgerufenen Entwicklungen aus. Gerade in den so genannten
strukturschwachen Regionen. Gerade auf dem Land. Eben haben wir noch über
die Alten den Kopf geschüttelt, weil ihnen jedes Zipfelchen Land nutzvoll
war, jetzt schütteln wir selbst den Kopf, wenn die herrlichsten Ackerflächen
stillgelegt oder schlimmer: zubetoniert und zu großzügigen Parkplätzen
irgendeines Supermarktes werden. Wir sehen, wie durch die Zurichtungen für
den Markt vieles von dem verschwindet, was wir an der traditionellen
Landbewirtschaftung so geschätzt haben, sei es nun die Zurückhaltung im
Umgang mit der Natur, die abwechslungsreichen Kulturlandschaften oder ihr
Hang zur Eigenversorgung. (Und wir sehen auch, wie die durch
Produktivitätssteigerungen "freigesetzten" Arbeitskräfte sich entgegen der
Theorie nicht daran machen, weitere Bedürfnisse der Gesellschaft zu
befriedigen, sondern zu Arbeitslosen werden, die auf staatliche
Unterstützung angewiesen sind – wenn sie Glück haben.)
Allen Bedenken zum Trotz versuchen wir dann aber
doch mitzuschwimmen. Immerhin ist man heute vom Markt abhängig und nicht
mehr vom Boden. (Die Subventionspraxis hat diese Zurichtung im Übrigen viel
zu lange gefördert.) Das Bewahren, heißt es, können wir uns bei
Bräuchen und Dirndkleidern leisten, aber nicht in Wirtschaftsfragen. ("Mit
Laptop und Lederhose!", Edmund Stoiber) - So intensivieren wir also; haben
10 000-Liter-Kühe in der Herde. Wir spezialisieren uns; lassen das Getreide,
den Garten und die Hühner sein. Und wir warten darauf, dass wieder einer
seine Stalltür schließt, um seinen Grund zu pachten.
Den Letzten
beißen die Hunde, das wissen wir. Und irgendwann sind wir vielleicht selbst
die Letzten, weil wir nicht mehr mithalten können mit den Preisen in den
Supermarktregalen. Wir leben beispielsweise in den Alpen und werden
feststellen müssen, dass das Einrichtungshaus, das dort am Ortseingang
entstanden ist, sich unser Holz für seine Möbel "nicht mehr leisten kann".
Oder wir erkennen, dass wir den Emmentaler – so sehr wir uns bemühen –,
nicht so billig wie die Konkurrenz erzeugen können, weil uns dafür Klima und
die Grundstücksgrößen fehlen...

Für die
traditionellen Gesellschaften war es so selbstverständlich wie
notwendig, die regionalen Ressourcen zu nutzen. Wer heute in ein
Geschäft geht, findet dort nichts Regionales mehr, es sei denn, dieses
Regionale ist "konkurrenzfähig" und in den nötigen Quantitäten
herstellbar.
Die
Industriegesellschaft hat uns in der Tat von vielen Zwängen befreit.Wir
müssen heute nicht mehr alles selbst herstellen und auch nicht mehr den
allerärgsten Steilhang nützen. Die Industriegesellschaft hat uns
gleichzeitig genötigt, die Produktion zu spezialisieren und in die
Gunstlagen zu verlagern; so hat sich die Produktion auf die ebenen und
fruchtbaren Flächen konzentriert. Und allmählich wird klar, dass der
"Rückzug aus der Fläche", d.h. die Konzentration der Produktion auf immer
weniger Plätze, ganze Regionen überflüssig machen kann. Ja mehr noch: Eric
Hobsbawm, der renommierte Historiker meint, es gebe heute "für die Vertreter
des Wirtschaftsliberalismus keinen ökonomischen Grund [mehr], weshalb
Frankreich nicht seine Landwirtschaft schließen und seine gesamten
Nahrungsmittel importieren sollte."
So verschwinden das Land und seine Leute.
Die in diesem Schwerpunkt gesammelten Beiträge
beschäftigen sich mit sehr verschiedenen Aspekten des Verschwindens von
Land. Wobei die Autoren in der Regel nicht stehenbleiben beim bloßen
Feststellen eines Prozesses, sondern darüber hinaus in aller Deutlichkeit
aufzeigen, dass es auf dem Land durchaus etwas Bewahrenswertes, etwas
"Konservierenswertes" gibt. Viele werden darin ein Nachhutgefecht, sehen,
wir aber glauben, dass es sich lohnt, dafür einzutreten, dass das Land als
eigenständiger Lebens- und Wirtschaftsraum erhalten bleibt und man seine
dezentral-flächenhafte Nutzung beibehält!
Freilich
sollen dem Leser hier keine Einsichten aufgezwungen werden, vielmehr hat
diese Artikelsammlung den Zweck, über gewisse Dinge, die unser Leben ganz
entscheidend beeinflussen, neu nachzudenken: sie wieder zu
debattieren. Manche Beiträge sind lang und komplex, es bedarf einiger
Anstrengung, sie zu fassen. Trotzdem erscheinen sie uns als lesenswert, um
nicht zu sagen lesensnötig.
Hermann Maier
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