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Melpomene
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Ich schließe die Augen, sie schmerzen vom aggressiven Licht dieses
Sommertages. Das Rasenmähergeräusch erstirbt, der Grasschnitt wird auf den
Kompost geworfen und der Motor von Neuem gestartet. Momente absoluter Stille sind selten.
Nicht mal nachts wird es wirklich ruhig, denn dann beginnt der Garten in seiner fremden
Sprache von Dingen zu sprechen, die ich nicht verstehe und die mir unheimlich sind.
Dinge, die tiefer gehen, die ursprünglicher sind, als dass ein Mensch,
so ernüchtert wie ich, sie verstehen könnte.

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V
on Stephanie Doms
(01. 04. 2007)

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   Wie in hellblauen Kaffee gegossene, lauwarme Milch hängen die weißen Wolken am Sommerhimmel. Die Vögel zwitschern lustlos, nur die Grillen zirpen ohrenbetäubend und irgendwo mäht jemand den Rasen. Und das bei dieser Julihitze. Ich sitze auf der Fensterbank, den Kopf an die Mauer gelehnt. Ich habe nichts zu tun. Ich habe ja eigentlich nie etwas zu tun, doch heute ist einer dieser Tage, an denen man vergeblich nach irgendeiner Beschäftigung sucht, die einen auch nur im Entferntesten zu fesseln vermag. Antriebslosigkeit. Gedankenverlorenheit. Unendlich träges Verstreichen der sonst so zielstrebigen Zeit.

Ich stecke mir eine Zigarette zwischen die Lippen, zünde sie an. Mechanisch. Es ist längst Gewohnheit. Man gewöhnt sich an so vieles. An das Nichtstun. An die Nutzlosigkeit. An die Einsamkeit. Die Leere.

Und irgendwann findet man sich am Fensterbrett sitzend wieder, man lässt Zigarettenrauch lustlos zwischen halb geöffneten Lippen ausströmen, von morgens bis abends, und längst hat man jede Hoffnung verloren, je wieder so etwas wie Sinn erkennen zu können in all dem, denke ich und rauche.

   Gut vierzig Meter unter mir schleppt sich der um diese Jahreszeit schmutzig grüne Fluss dahin. Der Hang fällt steil zum Ufer hin ab. Wenn ich so sitze, trennt mich nur der schmale Weg, der zur Haustüre und ums Haus herum in den Garten führt, vom struppig mit Dornengeäst überwucherten Abgrund. Zwischen den quadratischen grauen Pflastersteinen steht büschelweise Gras, das bei dieser Hitze langsam verdorrt. Anfangs, ich hatte das Haus gerade erst gekauft, erschien mir der Anblick, das energische Wuchern wie eine bewusste Herausforderung. Es kam mir vor, als wollte das Unkraut mich provozieren. Es war mir gleichgültig. Und schon bald wichen die Disteln friedlichem Gras.

Auch im Garten gedieh alles üppig. Die Efeuranken an der Hausmauer ließen sich irgendwann einfach nicht mehr bändigen. Anfangs stutzte ich das Gewächs zweimal jährlich, denn es drohte mir gänzlich die Sicht aus meinem Arbeitszimmer in den Garten zu versperren. Doch mit der Hoffnung, jemals wieder eine herausragende Arbeit zu vollbringen, gab ich auch den Versuch auf, die Natur in ihre Schranken zu weisen.

Außer hohem Gras gibt es nur rote Rosen im Garten. Rosen. Nichts als Rosen. In allen Variationen und mit den unterschiedlichsten Gerüchen. Nicht, dass ich irgendwann einmal, mich hingebend an einen plötzlich Anfall von Gefühlsduselei, an einer von ihnen gerochen hätte. Doch besonders wenn die Sonne um die Mittagszeit auf die fetten, blutroten Köpfe im dunkelgrünen Blätterwerk knallt, hängt der ganze Garten voll von ihrem schweren, süßen Duft. Ein letztes Aufbäumen bevor die unvermeidbare Verwesung einsetzt, die Farbe stumpf wird und der Geruch dünn und fad.

   Ich schnippe die Asche aus dem Fenster, sie fällt beinahe senkrecht zu Boden. Es ist windstill und schwül. Ich nehme einen tiefen Zug. Kein Genuss, keine Genugtuung, kein berauschendes Gefühl mehr wie damals, als ich nachts heimlich aus dem Dachbodenfenster meines Elternhauses kletterte, um dort oben unterm endlos hohen, sternenvollen Schwarz meine erste Zigarette zu rauchen. Damals war das Leben noch groß gewesen an kleinen Dingen, für die es sich lohnte, um Worte zu kämpfen. Heute habe ich Worte, aber nichts mehr, worüber ich mich wundern kann. Ja, damals ...

Ich schließe die Augen, sie schmerzen vom aggressiven Licht dieses Sommertages. Das Rasenmähergeräusch erstirbt, der Grasschnitt wird auf den Kompost geworfen und der Motor von Neuem gestartet. Momente absoluter Stille sind selten. Nicht mal nachts wird es wirklich ruhig, denn dann beginnt der Garten in seiner fremden Sprache von Dingen zu sprechen, die ich nicht verstehe und die mir unheimlich sind. Dinge, die tiefer gehen, die ursprünglicher sind, als dass ein Mensch, so ernüchtert wie ich, sie verstehen könnte; dass ein Mensch sie begreifen könnte, dessen Leben angesichts der Zeit nicht mal die Größe einer lästigen Obstfliege hat, von denen es so viele gibt, dass man sie ohne jede Reue und Ekel zwischen Daumen und Zeigefinger zerdrückt. Als ich noch nachts heimlich rauchte, während rot und grün blinkende Flugzeugsterne lautlos über mich hinweg glitten und ich eine Sehnsucht verspürte, die mich bis über meine Grenzen erfüllte – damals war diese unfassbare, brutale Gewalt des Existierens noch nicht beängstigend gewesen. Vielmehr wollte ich mich ihr ganz hingeben, verschwenderisch leidenschaftlich und mit ganzer Überzeugung.

Ich nehme noch einen tiefen Zug. Ohne das zeitweilige Kratzen im Hals und den dumpfen Schwindel im Kopf von damals. Damals ...

   Ich streiche mir mit der Linken über die schmerzenden Lider, massiere mit zwei Fingern die Nasenwurzel, über der sich häufig ein starker Schmerz ausgebreitet hat, als mich die innere Leere, die Wort- und Gedankenlosigkeit noch frustrierte. Jetzt überfällt er mich nur mehr, wenn ich abends zu viel Whisky gegen die Schlaflosigkeit trinke. Einen Augenblick glaube ich, tief drinnen in mir ein Schluchzen zu spüren, einen heißen Strom von Tränen. Doch es ist nur die Erinnerung an so etwas wie Gefühl, denn mit meinem Leben scheine ich längst alle Tränen verschwendet zu haben. Ich atme tief durch, ohne jedoch das plötzliche Bedürfnis loszuwerden, etwas in mir losbrechen, ausbrechen lassen zu müssen, um Schlimmeres zu vermeiden.

Ein Stück flussabwärts verbindet eine breite Betonbrücke die beiden bewaldeten Flussufer. Auf der mir gegenüberliegenden Seite erstrecken sich hinter den Bäumen weitläufige Felder, ab und zu ragt ein Kirchturm aus einem der kleinen, verstreuten Häufchen Häuser. Auf meiner Seite steigt das Gelände steil an. Zwei Autos, ein dunkelblaues und ein weißer Lieferwagen, überqueren knapp hintereinander den Fluss in meine Richtung und verschwinden zwischen den Bäumen weit unter mir aus meinem Blickfeld. Eine Frau in einem roten Trägerkleid, das sich um ihre Knie sanft wellt, steht auf dem Gehweg und blickt an der Brüstung stehend flussabwärts. Einige Radfahrer in gelben Trikots und mit gelben Fahrradhelmen haben angehalten, um einen Schluck aus ihren Wasserflaschen zu nehmen. Wie auf eine Schnur aufgefädelte, zitronengelbe Perlen stehen sie dicht hintereinander.

   Ich seufze abermals und schnippe den heruntergebrannten Zigarettenstummel ungefähr in die Richtung, in der zuvor das blaue Auto und der weiße Lieferwagen zwischen den Bäumen verschwunden sind. Ich stelle mir vor, wie der Zigarettenstummel im dürren Dornengestrüpp ein Feuer entfacht, stelle mir vor, wie die Flammen langsam und nach Nahrung lechzend den Berg herauf kriechen bis unter mein Fenster – ich hätte wohl weder die Kraft noch die Lust zu fliehen. Die Zitronengelben fahren weiter.

Ich schließe das Fenster und mit einem Mal ist es völlig still. Keine Vögel. Keine Grillen. Kein Rasenmäher. Nichts. Nur die unerträgliche Gedankenlosigkeit in meinem Kopf.

Ich ziehe mit einem Ruck die Vorhänge vor, als könnte die eilige Bewegung die lahme Leere in mir zumindest für einen Augenblick vertreiben. Es wird kaum merklich dunkler, die weißen, transparenten Vorhänge, die mehr vor dem Fenster zu schweben scheinen als hübsch gerafft auf den Boden zu fallen, können das Licht nicht aussperren. Ich lege mich auf das rote Sofa an der gegenüberliegenden Wand des Fensters. Ich drehe dem Licht den Rücken zu und der Welt auf der anderen Seite der Glasscheibe, die viel zu dünn und durchsichtig, viel zu zerbrechlich ist, um mich für immer zu bewahren vor allem, was da draußen ist. Ich bin nicht müde, dennoch döse ich sofort ein. Man gewöhnt sich irgendwann daran und kann den Körper dazu bringen, müde zu sein, wenn es der Kopf auch ist. Und mein Kopf ist es immer.

Ich bin wach, doch die Gedanken liegen weiter reglos. Es ist dämmrig geworden im Zimmer. Ich versuche zu erraten wie spät es wohl ist. Aber Zeit ist ohnehin irrelevant. Ich habe genug Zeit, denke ich. Doch in Wirklichkeit habe ich zu viel Zeit.

   Noch immer ist es still im Zimmer. Ich glaube ein leises Surren zu hören und denke, dass es wahrscheinlich vom Fernseher kommt und der Stereoanlage. Oder daran, dass du langsam verrückt wirst, denke ich bitter. Früher plagte mich diese Angst manchmal. Nachts, wenn mir so viel durch den Kopf ging, dass ich nicht schlafen konnte. Früher ...

Ich wälze mich schwerfällig herum. Hinter den weißen Vorhängen sieht man ein verwaschen blaues Viereck, den Himmel. Doch es kommt mir mehr vor wie eine Wand, die von hinten dezent beleuchtet wird. Ein vorgetäuschter Himmel. Ein Bühnenbild. Und ich fühle mich wie in einem schuhkartongroßen Aufnahmestudio. Unzählige Kameras sind auf mich gerichtet, über meinem Kopf schweben Mikrofone und alles wartet darauf, dass der einzige Schauspieler in diesem eigenartigen, traumgleichen Film seine Rolle spielt. Doch ich habe den Text vergessen.

Ich richte mich auf, lege die Hände flach auf die Knie und biege mein Kreuz gerade. Meine nackten, madenweißen Zehen betrachtend denke ich, dass sie etwas Befremdliches haben.

   Ich stehe auf, durchquere den Raum und versuche, die Geschwindigkeit zu schätzen mit der ich mich bewege. Es scheinen Stunden zu vergehen bis ich unten in der Küche ankomme. Die Jalousien sind halb heruntergelassen und als ich die Kühlschranktür öffne, kneife ich geblendet die Augen zu. Unentschlossen blinzle ich in das grelle Licht. Der Kühlschrank summt. Eigentlich habe ich überhaupt keinen Hunger. Eine verrunzelte Gurke. Ein paar Tomaten. Ein Stück Parmesan in dicker, rot bedruckter Plastikumwicklung. Joghurt, dessen Deckel ich mich nicht öffnen traue, seit ich vor einigen Tagen auf das Ablaufdatum gesehen habe. Milch. Butter. Erdbeermarmelade. Ich lege zwei Scheiben Vollkornbrot auf einen Teller, bestreiche sie so dick mit Butter und Marmelade, dass mir schon beim Anblick übel wird.

Mit dem Teller in der Rechten schlurfe ich in den ersten Stock zurück, setze mich auf den schwarzen Sessel, der seitlich des Fensters neben der Couch steht, und schalte den Fernseher an. Sogleich erscheint ein grellbuntes Bild, das tonlos flimmert. Ich suche nach einem einigermaßen ansprechenden Programm – vergeblich , beiße von dem kleineren der beiden Brote ab und kaue.

Auf dem Bildschirm diskutieren gerade stumm zwei dicke Frauen in Leopardenfell gemusterten Minikleidern und hochhackigen Schuhen, die so schreiend rot sind wie ihre aufgeklebten Fingernägel. Der Talkmaster der Show trägt eine Perücke, die mich an das abwaschwasserbraune Meerschwein erinnert, das mein Banknachbar in der zweiten Klasse hatte. Das Lächeln des schmierigen Talkmasters widert mich noch mehr an als die Zehen, von denen ich gerne behaupten würde, sie gehörten nicht zu mir. Im Gegensatz zu mir war mein Banknachbar beliebt gewesen. Er war zum Spießer geboren. Und ich zum Versager. Manches ändert sich nie.

Ich wundere mich darüber, wie jemand so einen wabbeligen, unförmigen Körper haben kann, und denke wie so oft, dass der Mensch mit Abstand die hässlichste Existenzform ist. Schon alleine wegen der Zehen.

   Lustlos esse ich die beiden Brote, ohne wirklich darauf zu achten, und stelle dann den Teller vor mich auf die blanke Glasplatte des Couchtisches. Ich schalte den Fernseher ab. Die wabbeligen Frauen und der Meerschweinmensch verschwinden mit leisem Knistern. Ich betrachte mein Spiegelbild auf dem nun schwarzen Bildschirm.

Ratlos, was ich als nächstes tun könnte, runzle ich die Stirn ein wenig, starre weiter auf den stummen, reglosen Menschen im Fernseher. Der Mensch ist schlank, es sieht aus, als wäre er gut trainiert, aber das täuscht. In Wahrheit hat er bloß nie Hunger. Ich finde diesen Menschen ziemlich hässlich. Doch wenigstens trägt er kein Leopardenfellimitat und hohe rote Hacken, denke ich. Es könnte also schlimmer sein. Der Mensch trägt ein weißes, zerknittertes, aber ansonsten sauberes Hemd, eine dunkelblaue Stoffhose und keine Schuhe. Seine Füße liegen wie abgetrennt unter dem Couchtisch, als bestünde keinerlei Verbindung mehr zum restlichen Körper, als hätte nie eine Verbindung bestanden. Doch das ist nur der unerfüllte Wunsch des Menschen auf dem toten Bildschirm, der seine madenweißen Zehen nicht leiden kann. Der Mensch sitzt einfach nur da, die fein geschnittenen Hände mit den langen Fingern ruhen auf der Lehne des schwarzen, abgewetzten Ledersessels.

Außer meinem Körper sehe ich nichts. Außer meinem Körper gibt es auch nichts zu sehen.

Vollkommene Leere.

   Ich stehe auf und trage den Teller hinunter in die Küche. Ich lasse das Wasser laufen, bis es eiskalt ist. Ich trinke das Glas in einem Zug aus und fülle es aufs Neue.

Während ich in den zweiten Stock hinaufgehe, das Wasserglas in der Hand, knöpfe ich bereits mein Hemd und meine Hose auf. Im Badezimmer lege ich alles über den Hocker unter dem Frisiertisch. Nachdem ich mir gedankenverloren ins Waschbecken starrend und ausgiebig die Zähne geputzt habe, wasche ich mir das Gesicht und die Hände mit Seife. Danach trockne ich mich ab und schalte das Licht aus.

Im Dunkeln tappe ich ins Schlafzimmer, das Wasserglas stelle ich auf das Nachtkästchen nahe ans Bett, ich schlage die leichte Seidendecke zurück und schüttle den Kopfpolster auf. Ich gehe zum Fenster, öffne es. Die Handflächen auf das äußere Fensterbrett gestützt lehne ich mich weit hinaus, um flussabwärts den orange beleuchteten Kirchenturm des Nachbarortes zu sehen und tief die Abendluft einzuatmen, die noch immer schwül und reglos ist. Ich sehe auch die Brücke. Und dasselbe rote Kleid mit dem tiefen Rückenausschnitt. Dieselbe unbewegliche Haltung. Ich werde mir mit einem Mal peinlich berührt meiner Nacktheit bewusst. Hastig ziehe ich die schweren roten Vorhänge vor das geöffnete Fenster. Nur einen spaltbreit noch kriecht das bläuliche Dämmerlicht ins Schlafzimmer.

Eine Weile starre ich noch unter der Bettdecke liegend an den Plafond, starre in die Dunkelheit, durch den Vorhangspalt hinaus aus dem Fenster zu meinen Füßen. Ich habe mit einem Mal das Gefühl, das Bett finge an sich zu drehen, langsam zuerst, dann immer schneller. Das Zimmer wiegt zuerst nur leicht mit, dann schließt es sich dem seltsamen, taktlosen Tanz an. Gerade als ich denke, ohnmächtig zu werden, schlafe ich ein.

   Ich habe die Arme unter dem Kopf verschränkt. Seit ich aufgewacht bin, habe ich mich nicht bewegt, noch immer liege ich auf dem Rücken, die Bettdecke, unter der es unangenehm feuchtwarm ist, bis über die Brust gezogen. Das Kopfkissen ist flach zusammengedrückt, mein Nacken steif. Trotz des geöffneten Fensters ist die Luft abgestanden und schwül. Ein ausdrucksloses Licht hängt unentschlossen im Raum.

Seufzend schlage ich die Bettdecke zurück, stehe auf und ziehe die Vorhänge zurück. Der Himmel ist bewölkt und draußen ist es so feucht-heiß wie in meinem Zimmer.

Ich schüttle Polster und Decke auf und schlurfe hinunter in die Küche. Mein Magen verkrampft sich, als verlange er nach Essbarem. Dabei ist mir überhaupt nicht nach Essen zumute.

Das Stück Brot, das noch in der Frischhaltebox liegt, ist trocken und steinhart und ich bin mir nicht sicher, ob der grünbräunliche Fleck auf der Schnittfläche nicht vielleicht Schimmel ist. Ich schließe die Brotbox mit angeekelt gerunzelter Stirn.

Auch der Kühlschrank gibt nicht wirklich viel her und ich muss mir eingestehen, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als einkaufen zu gehen. Einen Moment überlege ich, ob ich mich wieder ins Bett legen und weiterschlafen, den verkrampften Magen ignorieren soll. Doch eins wie das andere erscheint mir wenig reizvoll.

   Im Badezimmer wasche ich mir das Gesicht mit eiskaltem Wasser und putze mir die Zähne. Mit der flachen Hand fahre ich mir über das raue Kinn und die Wangen – kratzig –, habe aber keine Lust mich zu rasieren. Ich ziehe das Hemd und die Hose an, die über dem mit rotem Leder bezogenen Hocker unter dem Frisiertisch liegen. Im Schlafzimmer mache ich das Bett und schließe das Fenster, die Geldtasche liegt auf dem Nachttisch neben einer leeren Flasche Whisky. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich sie ausgetrunken habe.

Vor der Haustüre liegt eine Zeitung mit einigen nüchtern-weißen Briefkuverts obenauf. Der Postbote ignoriert grundsätzlich die Tatsache, dass einen halben Meter rechts von der Tür ein Briefkasten hängt und ich habe längst aufgehört, mich über die Dummheit der Menschen zu ärgern. Da ich die Tür bereits hinter mir abgeschlossen habe, lasse ich die Post einfach liegen, sie wird auch später noch da liegen, und ob ich sie jetzt zum Altpapier werfe oder erst in einer halben Stunde, macht nicht sonderlich viel Unterschied.

   Ich zünde mir eine Zigarette an und blicke hinunter auf den Fluss, die Brücke ist stärker befahren als gestern. Ich gehe ums Haus herum, den Schotterweg am Gartenzaun entlang bis zur Hauptstraße. Es ist nicht viel los. Wenn Autos vorbeifahren, blicke ich zur Seite und lasse den Zigarettenrauch möglichst gleichgültig ausströmen. Ich fühle das Starren der Fahrer, bilde es mir zumindest ein. Ich gehe schneller. Bald ist meine Haut überzogen von einer dünnen Schweißschicht und als ich die Eingangstür des kleinen Supermarktes aufstoße und mich klimatisierte Luft umgibt, fröstle ich beinahe wohlig.

Die Besitzerin, eine untersetzte ältere Frau mit bernsteinfarben getönter Dauerwelle und Brille sitzt an der Kassa und grüßt säuerlich lächelnd über ein halbhohes Regal mit Fertigsuppen zu mir herüber. Die junge Frau, die gerade dabei ist, Gurken und Kartoffeln auf das Förderband zu packen und gleichzeitig ihren kleinen Sohn davon abzuhalten, alle Süßigkeiten aus dem Ständer neben ihm zu räumen, hebt den Kopf, nickt aber nur knapp und widmet sich wieder ihren Diätcolaflaschen. Sonst sind keine Kunden im Laden. Grußlos, mit gesenktem Kopf, flüchte ich mich hinter Fruchtsäfte und Dosentomaten, komme dann aber drauf, dass ich für meinen Großeinkauf einen Einkaufswagen benötigen werde und muss noch mal zurück. Die bernsteinfarbene Dauerwelle zieht gemächlich die Einkäufe übers Lesegerät, die junge Frau hebt abermals den Kopf, sieht mich diesmal länger an. Ausdruckslos. Ich bekomme den Einkaufswagen nicht los, er hat sich mit dem anderen verkeilt. Ich rüttle. Mir wird heiß. Ich habe das Einkaufen satt und bereue, mich nicht wieder ins Bett gelegt zu haben. Die Frau sieht mich noch immer an. Mittlerweile verständnislos. Ich zerre, rüttle und schwitze. Der Kleine im Einkaufswagen beginnt zu jammern. Doch die junge Frau stiert weiterhin zu mir herüber. So lange, bis ihr der Zwerg seine Zwergenfaust, mit der er entschlossen einen Schokoriegel  umklammert, von der Seite in den Bauch rammt. Wenn du wüsstest, kleiner Schreihals, denke ich und frage mich, wann ich aufgehört habe, ernsthaft eine Revolution in Betracht zu ziehen.

   Die Frau dreht sich mit erhobenem Zeigefinger zu ihm hin. Steile Stirnfalten, wegen denen man früher oder später seine Vorsätze verwirft, wenn man ohnehin zum Versager geboren ist. Der Einkaufswagen löst sich. Erleichterung. Hinter dem schützend hohen Regal mit Fruchtsäften und Dosentomaten atme ich tief durch, doch das Gefühl der Aufgewühltheit in meinem vor Hunger bodenlosen Bauch will nicht weichen. Eines der Vorderräder des Einkaufswagens klemmt, ich lenke und fahre angestrengt. Obst. Gemüse. Milchprodukte. Wurst- und Käseabteilung. Die Bedienung fühlt sich in der Unterhaltung mit dem Brotfräulein gestört und bemüht sich vergeblich zu einem höflichen "Ja, bitte?" Die Metallringe in ihren Ohren und der rechten Augenbraue irritieren mich. Sie erinnern mich an die kleinen Metallklammern an den Frankfurter Würsteln, die ich bei meiner Großmutter öfters bekommen habe, wenn ich sie samstags besuchte.

Die Verkäuferin ist ziemlich dick und ziemlich rosa, mir geht das Frankfurter Würstel-Bild nicht mehr aus dem Kopf. Das Angebot an Aufschnitten und Fleisch verunsichert mich. Die Bedienung wird ungeduldig, pappt die unappetitlichen Finger – meine madenweißen Zehen erscheinen mir mit einem mal viel ansehnlicher platt auf die Theke neben das große Fleischermesser. Sie beginnt zu zappeln, das blonde Brotfräulein räuspert sich und verschränkt die Arme vor den reizlos flachen Brüsten.

Ich entscheide mich für etwas Beinschinken, eine halbe Salamistange und den abgepackten Käse mit der roten Wachshaut. Und sonst? Ich schüttle den Kopf. Sie schiebt mir die zig Mal in Papier und Plastik verpackte Wurst über den Tresen, den Käse hinterher, und nickt, was wohl eine Verabschiedung sein soll. Ich nicke zurück, was mehr Erleichterung als eine Verabschiedung ausdrücken soll. Ich werfe Wurst und Käse in den Einkaufswagen und schiebe hastig weiter. Vorbei am Brotfräulein, dessen hochgezogenen Augenbrauen ich möglichst nicht mit Blicken zu begegnen versuche. Sie ist wirklich ziemlich blond. Und ziemlich dünn. Wie ein halbfertig gebackenes Baguette. Als ich schon fast bei der Tiefkühlabteilung bin, stecken die beiden wieder die Köpfe zusammen. Ich versichere mir nicht sehr glaubhaft, dass sie nicht über mich sprechen.

   Ich packe noch ein paar Tiefkühlpizzen, Spinat, Eiernudeln, Dampfnudeln und gemischtes Gemüse zu den übrigen Einkäufen und trete mit einem kurzen Umweg über die Spirituosenabteilung den Weg zur Kassa an. Die bernsteinfarbene Dauerwelle lächelt süßsauer. Mein Magen knurrt sehr laut und sie lächelt noch säuerlicher. Magensäuresauer. Mir ist schwindlig, der Hunger steigt mir zu Kopf. Gelassen sieht sie dabei zu, wie ich hastig meine Einkäufe aufs Förderband lege. Kalter Schweiß steht mir in kleinen Tröpfchen auf der Oberlippe, aber ich traue mich nicht, ihn wegzuwischen mit meinen zitternden Händen.

"Schwül heute, nicht wahr?", sagt sie mit einem boshaften dünnen Lächeln, wobei sie meine Oberlippe fixiert und die Äuglein zusammen kneift hinter ihrer dicken Brille. Ich beschränke mich auf ein halbherziges Nicken. Und ihre fahlen Lippen werden noch dünner und ihr Lächeln noch boshafter.

Ich reiche ihr einige große Scheine, setze mich bewusst nicht der Peinlichkeit aus, beim Kleingeld herauszählen mit zittrigen Händen alles zu verstreuen. Die riesige Papiertüte halb vorm Gesicht manövriere ich den Einkaufswagen mit dem klemmenden Vorderreifen in die Metallvorrichtung, stemme mich mit dem Rücken gegen die Ausgangstür und verlasse voll bepackt und so fluchtartig wie irgend möglich den Laden.

   Sie hat die Hand schon an der Eingangstür, als mir im Vorbeihasten das gemischte Gemüse aus der randvollen Tüte direkt vor ihre Füße fällt. Herzstillstand. Sie trägt rote Sandalen mit hohen Absätzen und Riemchen um die schlanken Fesseln, sie hat bezaubernde Knöchel und einen verwirrenden Moment lang bin ich gefesselt von dieser kleinen, nackten, knöchrigen Rundung. Ihre Knöchel und die volle Tüte – ich gerate aus dem Gleichgewicht. Sie bückt sich nach dem Gemüse zu ihren Füßen. Das knielange, rote Kleid hat vorne und hinten einen tiefen Ausschnitt und ich weiß nicht, was ich schöner finden soll – den zarten Rücken oder ihre vollen Brüste. Herzrasen. Ihre Haut ist blass und muttermallos. Ihr Haar schneewittchenschwarz. Mit einem Lächeln reicht sie mir das Gemüse. Ich schwanke keuchend auf schmelzenden Beinen. Die eiskalte Packung, die sie mir reicht, ist von einer weißen Tröpfchenschicht überzogen. Sie lächelt immer noch, als ich ihr endlich das Gemüse aus der Hand nehme. Ihre Handgelenke sind schmal, so zerbrechlich, dass ich mich nicht traue, ihre feinen Finger wie zufällig zu berühren. Ich will mich bedanken. Bekomme keinen Ton heraus. Sie lächelt. Ich räuspere mich, bedanke mich nochmals. Diesmal mit Ton. Ich schwitze, fühle mich klebrig und zäh.

"Schwül heute, nicht wahr?" Sie hat große grüne Augen, einen kleinen Mund, der so blutrot ist wie die von fettgrünen Blättern umgebenen Rosen in meinem Garten. Ihr stiller Blick brodelt lebhaft, die Lippen voll, der Hals so zierlich und wie die kleinen Ohren schmucklos.

   Ich nicke schwach. Mit surrendem Kopf und größer werdenden schwarzen Flächen vor Augen halte ich das Gemüse noch immer in der Hand, die immer kälter wird, während ich mich wie in einem Fiebertraum fühle. Bitte Gott, lass mich nicht träumen!, flehe ich und kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt an Übersinnliches geglaubt habe. Ich bereue, kein frisches Hemd angezogen zu haben. Rasiert habe ich mich auch nicht mehr ...

Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass mir die Knie versagen und ich, die Einkäufe auf dem Gehsteig verstreuend, langsam vornüber kippe, oder daran, dass ich nicht anders kann, dass ich ihren blutroten Lippen plötzlich so nah bin ...

Schlagartig bin ich wach, so schlagartig, dass ich beinahe von der Couch falle. Ich eile ans Fenster, reiße es auf. Das Sonnenlicht schmerzt in den Augen, das Rasenmähergeräusch, das Grillenzirpen in den Ohren und die plötzliche Traumlosigkeit macht mein Herz rasend. Taumelnd klammere ich mich ans Fensterbrett, suche die Brücke mit hastigen Blicken ab. Doch nichts.

   Ich weiß nicht, wie mir wird. Falle die Treppe hinunter, über meine eigenen Beine, die nicht mithalten können mit meinen sich überschlagenden Gedanken, stolpere aus der Tür, über die Zeitung und ein paar Kuverts auf der Matte den Abhang hinunter. Schwindel erregend steil. Erregend auch ihr Rücken, diese Brüste. Dornen überall. Blut. Blutrote Lippen. Das Sonnenlicht viel zu grell. Weiße Flächen vor Augen. Weiße Knöchel, atemberaubend. Stolpernd fallen, immer wieder. Vor ihre Füße. Dieser Schmerz. Diese plötzliche Flut an Bildern. An Worten. Woher diese Worte? Und doch – unerträglich schmerzhaft keine Worte für dieses Bild. Diesen Traum. Ihre Lippen so nah – denke ich und sehe noch durch die schmutzig grünen Fluten über mir, dass die weißen Wolken wie lauwarme, in hellblauen Kaffee gegossene Milch am Sommerhimmel hängen. Nie mehr Leere.
 


 

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