Motto:
"Du sollst herkommen, hast du nicht g'hört!?"
Prolog
und Gewimmel: mein Goethe, mein Deutsch. Nicht irgendwo auf einem fernen
Bildnis, nicht irgendwann in einer verlorenen, längst ungültigen, längst
abgeschriebenen Goethezeit, nicht in irgendeiner von den wackeren
Verfechtern der weltweiten Vereinfachung und ihren biederlichen
Helfershelfern durchgeführten Reform oder Gegenreform dessen befangen, was
innerhalb unserer Sprache, der deutschen Sprache, noch mit rechten Dingen
vor sich gehen darf. Nicht jenseits, sondern diesseits. Hier: bei uns, bei
uns Lesern. Genauer gesagt bei mir. In meiner Hosentasche, in meiner Brust.
In meinem
Herzen: zwei Seelen, ein Gemüt. Ganz dicht nebeneinander. Dazu ein blood
flow control system, innerhalb dessen natürlich zugleich gesteuert wird,
was man rund um den CN-Turm in Toronto (wo ja bekanntlich mal ein Hemingway
gewohnt hat) wie rund um den Europaturm in Frankfurt (wo ja bekanntlich mal
ein Goethe gewohnt hat) flow of language heißt. Und – wenn’s sein
darf – noch eine vierte Herzkammer, ein kleines Gästezimmer für den Geist,
den genie in the bottle, ja, den Zeitgeist, just in case, vielleicht
meldet der sich ja mal – oder vielleicht meldet er sich eben nicht.
Ein Rauchzeichen
aus der Nachbarstadt Mississauga, wo die Mississaugas of New Credit früher
ihre Jagdgründe hatten (jetzt haben wir dort unsere Produktionsstätten) gibt
mir bescheid, dass eine wichtige Nachricht vom Deutschen Akademischen
Austauschdienst in Bonn auf den Weg gebracht wurde. Keine fünf Minuten
später überreicht mir der Laufbursche das Totem, er hat es in der
Rauchzeichenentschlüsselungszentrale in Bayview Village gekriegt (mein Zelt
durfte ich vor gut zehn Jahren in der Nähe aufschlagen, und da steht es
immer noch, dem Medizinmann macht das nichts aus). Begabten
Manns Natur- und Geisteskraft? Rund um Bayview Village, Toronto reichlich
vorhanden. Der Kaiser, so einer meiner belesenen Freunde, der – als einziger
in Nordamerika – den ganzen Faust II gelesen hat, genauer gesagt den
ganzen ersten Teil des Faust II, weiß so eine Kraft durchaus
zu schätzen, besonders wenn es sich um keinen bösen Geist handelt, sondern
um einen guten. Nur
den Erzbischof von Ontario stört’s a bisserl. Denn so spricht man nicht zu
Christen. Aber der Medizinmann pflegt schon eher eine
aristotelisch-platonische Ideenlehre. Dass sowas an sich mephistophelisch
sei, streitet er ab.
Ding Dong, Ding
Dong. Ein Glockenton. Gut, edel und gerecht.
"Frag nicht, für wen
die Goetheglocke schallt, sie schallt für dich", hatte unser Hemingway
gesagt, als ich vor einiger Zeit schon wieder mal nicht hundertprozentig
wusste, für wen good old Goethe denn eigentlich die Glocken zieht, wenn er
den nicht ganz so lichten Mächten Einhalt gebieten will. Alles klar: Er
zieht sie für uns. "Von dem Dome, schwer und bang, tönt die Glocke
Grabgesang", singt auch der Schwabe – und wir singen mit. Ach! Klassiker.
Also: Post vom
DAAD. Ein atemberaubendes Totem, verrät mir der Laufbursche (hat wohl
während des Laufens mal kurz reingeschaut). Und er ist indeed ganz außer
Atem geraten. Ich lass ihn verschnaufen, hier, a Kipferl und einen tüchtigen
Schluck, wie das früher immer so gemacht wurde, und Sorgenbrecher sind die
Reben – oh well, Medizinmann-Talk. Wer wird schon klug daraus.
Ja. Schönes, gut
leserliches Totem, alles bio, alles in Einklang mit der Natur. Wenn Spinoza
da wäre, würde er damit alle seine Linsen schleifen. Köpfchen über Wasser,
Schwänzchen in die Höh’. Eine Vogelschar zieht vorbei, hoch das Banner,
Real Canadian Goose steht drauf, Vollgas Richtung Pearson International
Airport – und dann natürlich weiter nach Frankfurt am Main, warte nur,
balde, vielleicht nimmt das Geflügel meinen Antwortbrief mit ("Sehr geehrte
Damen und Herren, liebe Geldgeber vom Deutschen Aka…"), allein, diese
wackeren kanadischen Gänse sind ja gar keine Vöglein im Walde, und auch
keine Enten, sondern fürchterlich komplexe interkulturelle Biester. Sie
fliegen zur Offenen Werkstatt "Gänsefeder und blaue
Blume" im Goethe-Haus.
Am besten, wir fliegen gleich mal mit. Das sind gute Flügel. Canadian Wings.
Ich muss jetzt
das Totem nur noch schnell in die Landessprachen übersetzen lassen, now that
would be English and French, in Goethes, Schillers und Karl Mays Sprache
natürlich auch (wiewohl dieser, the latter, wie wir, die
leisetreterischen Germanenhäuptlinge am Ontariosee, sagen, ja strenggenommen
südlicher stationiert ist, was uns jedoch im Moment auf der wundersam
übergeordneten narrativen Ebene unseres Versuchs einer schöngeistigen
Aneignung keineswegs stört, denn wir moch’n jetzt ja nicht Geographie,
sondern bloß Kulturphilosophie), und schon sind die letzten
kulturpolitischen Purzelbäume rund um die Großen Seen ein offenes Blatt, ein
Ahornblatt. Ein Lindenblatt, ein Blatt für literarische Unterhaltung. Ganz
dicht beschriftet. Mit unserer Literatur, der Weltliteratur.
The news hits me
hard. Ich meine, die Nachricht … ach was, Sie verstehen schon, was ich
meine. Also der Deutsche Akademische Austauschdienst bestätigt den freilich
bereits seit geraumer Zeit eh an allen Lagerfeuern hinreichend bestätigten
und wiederbestätigten Tatbestand des totalen Sprachverlusts (und zwar an
sämtlichen Börsen, wie übrigens auch die Erste Allgemeine Versicherung, die
Erste Allgemeine Rückversicherung und die Erste Allgemeine Verunsicherung in
ihren jeweiligen Jahresberichten säuberlich vermerken), den unaufhaltsamen
Untergang der deutschen Sprache, der deutschen Kultur, des deutschen Drum
und Dran (des mir vergessen ham). Goethe und die seinen? Endgültig
abgeschrieben.
Alle Welt zuckt
die Achseln, cause German’s really not all that important, you know. Nur
mich trifft es sozusagen mit voller Wucht. Der CN-Turm wackelt, bald steht
er schiefer als der Pisa-Turm. Das Drehrestaurant wackelt mit. Der Schenk
fragt was. Und mir kommt ein Goethewort in den Sinn: Hafis, o lehre mich,
wie du's verstanden! Denn meine Meinung ist nicht
übertrieben: Wenn man nicht trinken kann, soll man nicht lieben.
Ein west-östlicher Diwan an meiner linken Seite. Darunter die Stadt. Ich
richte mich gemütlich ein. "Zwei doppelte, bitte."
Von hier oben
sieht man alles. Sozusagen mit poetischem Adlerblick. Tausend Bücher
schweben zu meinen Füßen im schönen Aufgehobensein des einen
überdurchschnittlich lang verweilenden Augenblicks durch die frische Luft am
Ontariosee, die meisten zählen zur Literatur deutschsprachiger
Ausdrucksweise. Denn da bin ich zu Hause. Viele Autoren, so stelle ich es
mir gerne vor, winken freundlich aus der Ferne, manche auch etwas steif.
Habachtstellung. Ich winke zurück.
Toronto-Mann,
was nun? Goethe-Fan, was tun? Schnell ein Foto geschossen! Das Stückchen
Ewigkeit verstaue ich im Album. Es ist ein Bild vom Ursprung der Sprache.
Ein besseres hat’s noch nie gegeben. Und die schräge Achse der Welt dreht
sich um einen Schatz im Ontariosee, wie das Bleichgesicht aus Radebeul sagen
würde, um einen Wortschatz, um meinen Wortschatz. Er steht – wie so
vieles im Leben – im Begriff, dramatisch zu schrumpfen. Kaum zu fassen, sag
ich mir (noch) auf Deutsch. I don’t get it. Kein Goethe mehr da. Kein Sturm.
Kein Drang. Kein Knab’, kein Röslein, kein Leiden. Kein Stechen auf der
Heiden. Kein Zwitschern, kein Schweigen.
"How come?",
will ich schon fast fragen, will ein Ich in mir fragen, das Ich, zu dem ich
mich zähle, das Ich über mir, über meinem Sprachkörper, meinem Dasein, auf
den Datenträgern und den Welten, die dahinter stecken, festgehalten, halb
Sprache und halb Mensch.
"Passte eben
nicht ins Konzept", antwortet der Präsident des No-German-Clubs, noch ehe
ich meine Frage stelle. Total abgeschafft. German? Not good.
Kann man nichts
machen. That’s life. Genauer gesagt: It is what it is. Und doch fragt es in
mir weiter, ich weiß jetzt also wie gesagt nicht genau, wer bzw. was da in
mir fragt, aber irgendwas fragt in mir weiter: How could this happen so
fast? Ich bin verblüfft. In der einfachen Sprache der Prärien, in der
Sprache der wackeren Fallensteller und Kanufahrer: Weg mein Goethe, weg mein
Deutsch. Abgehauen. Verschwunden. Stiften gegangen. Nicht mehr da. Und:
Goethe hin, alles hin.
Der Präsident
hat abgelegt. Er muss jetzt andere Telefonate erledigen. Ich stecke eine
Münze, einen loonie (das ist auch so’n fliegendes Biest, a loon,
zum Dollar plattgemacht), in den letzten noch nicht zertrümmerten
Goethe-Automaten, bald wird auch der recycelt. "Fürwahr! Gerade war er noch
da!", ertönt eine blöde Stimme aus dem Automaten, die im Menu, das merke ich
erst jetzt, aha, ich habe also das Weimar Mode gewählt, als Weimar
Voice ausgewiesen wird. Welcome to the Weimarer Zeit. Lotte in
Weimar! Unsinn, die Weimarer Zeit ist was anderes. Ich muss schnell
wieder mal den Präsidenten anrufen. Ich muss … wie bitte? Kein Anschluss?
Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Hokuspokus!
How did you enjoy the Ereignis?
Von wegen Weimar
Voice! Also wenn das der beste Goethe-Automat ist … Coin return. Das
Ding will meine Münze nicht wieder rausspucken. Es hätte wohl kaum schlimmer
kommen können. Jetzt ist auch der loonie weg. Now what? Versuchen wir mal
den Goethezeit-Knopf. Your session
timed out. Good bye!
Good bye, Alter
Meister. Auf Englisch fällt dann
der Meister freilich weg. Good bye, old man! Du hattest Zeit deines
Lebens was zu sagen und konntest das, was du zu sagen hattest, auch
schriftlich festhalten – und sieh einer an, zwei Jahrhunderte später ist
deine Tinte immer noch recht gut verwendbar, ein verwendbares Zeug. Du
hättest ruhig länger bei uns verweilen können. Es war so schön!
Aber nun bist du
weg. Ich wende mich, weil mir die Dame vom Institut deines Namens diesen
course of action ans Herz legte, hoffnungsvoll an den diensthabenden
Dings, den Originalgeniekraftkerl-Lehrling, den Zauberlehrling, der mit
seinem ungespitzten Bleistift verstört herumlungert, da der Meister nun mal
kurz seine Meisterjahre hinkriegen will, die er für seinen
höchstwahrscheinlich aus bürokratischen Gründen bisher immer nocht nicht
zugestellten goldenen Meisterbrief braucht – und dem Famulus
unverschämterweise nicht verraten wollte, wo der Spitzer steckt.
Einen
Zauberlehrling Goetheschen Schlages erkennt man bekanntlich an … Ach! da ist
er ja, mit seinem abgewetzten Zauberlehrling-Hut und seinem
Zauberlehrling-Stab und seinem EU-normierten Zauberbuch! Hantiert an unserer
Welt. Hantiert an unserer Sprache. Übt sich brav in Sachen Ontologie. Will
uns was herbeizaubern.
Er wirkt
verlegen, es scheint schon wieder etwas entzwei gegangen zu sein. Aber der
Uhu ist ja schnell zur Hand. Hier, hier und hier wird das neue Paradigma
zusammengeklebt, das neue, mindestens hundert Jahre haltbare Paradigma der
Spätmoderne, das gerade zusammengebrochen ist. Paradigmenzusammenbruch
lautet die Diagnose des Systems. Das System ist gut. Wir sind gut. Goethe
ist gut. Nur, er ist ja weg.
Der
Zauberlehrling hat gerade einen Gegen-Duden angezündet, den er aus Versehen
herbeigezaubert hat, der Gegen-Duden war blöd und schlecht, jetzt brennt das
falsche Ding, der echte Duden ist wieder da, ein bisschen revidiert, ein
bisschen reformiert, ein bisschen aschenfarbig (denn vom Gegen-Duden ist ja
natürlich bis zuletzt doch noch etwas zurückgeblieben, aber keine Sorge,
Düngemittel sind gut für die Sprache, besonders die natürlichen), dabei
immerhin wie gesagt wieder durchaus da, total vorhanden, zugegen, präsent,
anwesend. In unserer Zeit, der deutschsprachigen Zeit.
Der
Zauberlehrling sagt was. Und was sagt er? Etwas Kolossales sagt er: "Dass
nenn’ ich eine gute Zeitrechnung!" Um mich herum versammeln sich ein paar
weitere Kunden, die ebenfalls ihr Kleingeld zurück kriegen wollen. Ich bin
also doch nicht so allein, wie ich glaubte. Money matters.
Die Standuhr
tickt, wir müssen uns beeilen. Ein allerletzter, wunderschöner, altmodischer
windiger Schachtelsatz fängt an, ein Mysterium der Besinnung, der
Besonnenheit, der Schreiblust, wer weiß, wo er hinführt, dieser erbauliche,
windige Schachtelsatz. Call me Ishmael. Besser: Eduardo, so nennen wir einen
Baron … Doch hat nicht soeben etwas jäh aufgeblitzt? Nein. Der Schachtelsatz
führt in die Schachtel. Dort ist es recht dunkel.
Wenn wir es so
gut sagen könnten wie die Dichter, würden wir die Dichter nicht brauchen.
Ein Blick auf meine alte kanadische Uhr, die Sanduhr am Huronsee, und ich
weiß: Die Zeit vergeht. Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Vor mir
eine offene Tür. Soll ich sie einrennen? Hinter der Tür die Sanduhr. Sie
tickt für mich, für uns, für uns alle. Doch eine Sanduhr kann ja gar nicht
ticken.
Da drüben! Ein
Sprachbrei! In der Goethe-Küche. Es ist geschehn, so sei’s getan. Moment …
Bin ich es, der das gerade gedichtet hat oder hat mir ein anderer die Worte
in den Gedanken gesteckt, den ich gerade zu hegen gemeint hatte, auf eigene
Faust, aus freien Stücken, d.h. so durch und durch frei von der Leitung
eines anderen, von der Leitung des Gruppengedankenleiters, ja halt total
aufgeklärt (denn wir sind doch heutzutage in unseren akademischen Landen
total aufgeklärt, oder?). Wie dem auch sei, Goethezeit: vorbei.
"Schlage immer
den direkten Weg ein", hatte ein Herr Ocam einst gesagt, die günstig (zu
schwäbischen Preisen) erstellte Rasierklinge in der Hand, einen nicht minder
preiswert erstellten Goethekopf vor Augen. Direkt beim Geheimrat anrufen?
Null null eins … so, jetzt sind wir aus Nordamerika raus, vier neun …
Deutscher Grund und Boden. "Darf ich bitte Herrn Goethe sprechen?"
"Mr. Goethe
ain’t here any longer", sagt der Schalk, der Geist, der stets verneint. Und
ich merke schon, irgendwie hat er recht, der Kerl. Und dann merke ich:
Irgendwie hat er nicht recht. Es ist zum Wimmeln. Ich meine, fast. Fast ist
es zum Wimmeln. Fast wäre es zum Wimmeln. Fast wäre es zum Wimmeln gewesen.
Aber eben auch
nur fast. Ich will’s nämlich trotzdem noch einmal versuchen. Noch ein
letztes Mal. Ja, trotzdem. Mein Goethe, mein Deutsch, meine
Aneignungsg’schichte:
Hey, Mister
Goethe! Komm her! Du sollst herkommen, hast Du nicht g‘hört!?
(Goethegeist-Antwort: Kommen? Wer ruft mir denn?" – der Dativ, unser
Freund) Nur, so spricht man ja gar nicht zu einem Goethe. Denn Goethe ist
wohlgemerkt nicht Helge, der von seinem kleinen Bruder vor ein paar wenigen
Jahrzehnten in eben dem stattlichen Bauernhof im verwunschenen St. Veit im
Defereggental, in dem auch wir (d.h. ich und meine Familie) zu der Zeit
logierten (jaja, in der Goethezeit, in der Immerzeit, herbei, herbei,
gekocht ist der Goethebrei, in der Zeit im Blick, der Zeit im Bild), ebenso
gerufen wurde, Helge! Komm her! Du sollst herkommen, hast Du nicht
g‘hört? Nein, Goethe ist ganz bestimmt nicht irgendeiner, er ist nicht
irgendein Goethe, sondern eben der Goethe, unser Goethe, unser
aller Goethe, er ist The Great Goethe, ein Vetter des Great
Gatsby, der freilich ein paar wenige Jahrhunderte später – und im
Unterschied zum Geheimrat nur in der fiktiven Welt der Literatur – geboren
wurde, sich aber ebenfalls recht gut aufs Licht verstand – und freilich sind
solche Leut‘ in ihrer Erhabenheit schwer anzupacken. "Du gleichst dem Geist,
den du verstehst, nicht mir." Johann Wolfgang von Goethe: eine größere
Aneignung. Ein Diebstahl. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Wort noch
Leid.
Den Sprachfluss
des jungen Werther (oder im Goetheschen Wortlaut: des jungen Werthers) etwa
kann man nicht sozusagen einfach intrinsisch rückwirkend ins Bett geleitet
haben wollen, wiewohl viele Literaturherumschnüffler, die sich mehr oder
weniger insgeheim vorstellen, dass in ihnen die Goethezeit tickt, meinen,
ihn in ihrer Brust tosen zu hören.
Großes Schild:
Trete Er nie einem Geist nahe, den Er nicht begreift (freilich, was für
einen Geist begreift einer schon? Das heißt, abgesehen vom genie in the
bottle, dem Geist, der stets verneint, dem Zeitgeist). Was wenn man ihm aber
mal, denk ich jetzt mal – kategorischer Geist-Imperativ hin und her, Anstand
hin und her, gute Kinderstube hin und her, Holzschnitzerei in den Vorhöfen
der Germanistik hin und her – trotzdem ausnahmsweise ein klein
bisschen (und bezeichnenderweise rein methodologisch) nahetritt. Das ist der
erste Gedanke, der einem kommt, der mir kommt, wenn es mal darum geht, eine
Totalitätsperspektive zu erschließen, die den kanadischen Pfadfinder
deutschsprachiger Ausdrucksweise, den Kultur-Scout, den
Dichtungskundschafter im Dickicht, in der Lichtung, auf dem See, das
Greenhorn in der Goetheforschung schnurgerade in das allertiefste Wesen der
deutschen Literatur und Kultur transponieren soll. Denn wenn schon nun mal
bekanntlich gegebenenfalls der Berg zu Mohammed kommen kann, dann darf sich
auch der alte Geheimrat mit all seinen Lebensweisheiten, mit seinen
Dichter-Worten, seiner Dichterzeit und all dem sonstigen kulturträchtigen
Kram ruhig zu mir her bemühen – mit all dem Kram, von dem es in der Schule
immer so schön heißt, man muss ihn sich aneignen.
Vielleicht
klappt es ja. Ein schlichtes Goethewort: "Hallöchen, ich bin der Goethe."
Mal hinschauen: Goethekopf, Goethebrust, Goetheherz, Goetheseelen (denn zwei
Seelen wohnen, ach! und zahlen auch Miete, ach was! die zahlen sie nicht –
in meiner Brust). Ja halt Goethezeit. Also doch nicht ganz vorbei.
Jedenfalls nicht auf inwendiger Ebene.
Passt. Aber
auswendig lernen will ich dich auf keinen Fall, nichts für ungut. "Habe nun,
ach! Philosophie, Juristerei und Medizin und leider auch Theologie ..." Wie
bitte? Nein, gar nicht. Das heißt nicht Auswendiglernen. Das kann ich, weil
ich’s will. Das will ich, weil ich’s mag. Das mag ich, weil’s gut klingt.
Und weil mehr dahinter steckt, als einer so auf Anhieb meinen würde. Das ist
jetzt nicht gegen den Durchschnittsmenschen gerichtet. Der
Durchschnittsmensch ist, soweit es ihn überhaupt gibt, ein anständiger,
netter, gebildeter, in vieler Hinsicht überdurchschnittlicher Mensch, einer,
mit dem man gut kann. Ein ganzer Kerl. Und kräftig ist er auch. Ein
Kraftkerl.
Wir aber blicken
nach oben, durch die Zeiten hindurch, über Bücher und Wälder hinweg. Wie
sagte denn gleich der Medizinmann? Uhr aufziehen. Goethezeit erleben. Sich
mit seinen Siebensachen davonmachen. Den Mut zur großen Tat haben – und
kurzerhand entschlossen sagen: Das ist mein!
Kulturobjekte
lassen sich leicht aneignen. Kulturdinge. Kulturgegenstände. Etwa ein
Goethe, wenn’s sich so fügt. Nur, welches mag wohl die passende Art und
Weise sein, so einen Goethe anzugehen, hinzukriegen, anzupacken,
einzupacken, fragt sich das Ich in mir nach angemessen erfolgter Rücksprache
mit dem Über-Ich über mir. Die Antwort liegt sonnenklar in den Sternen: Es
gibt nur eine Art und Weise.
Es gibt nur eine
Art, Texte zu lesen. Man muss einstürmen, sich Inhalte aneignen, Bedeutungen
beimessen, kurz: sich nehmen, was immer auch zum Mitnehmen da ist. Und
wenn’s Titanen-Texte sind: mit den Titanen ins Gespräch geraten.
Es gibt nur eine
Weise, mit Titaten ins Gespräch zu geraten. Man muss sie von ihrem Sockel
runterholen. Man muss sie duzen, man muss sie umarmen. Man muss mal
gemeinsam mit ihnen einen heben.
Ganz gelassen
auf sie zugehen. Die Augen öffnen und sich in ihre Worte einfühlen,
einschleichen, einnisten, einleben. Das Glas ganz gemütlich zum Mund führen.
Kulturlüstern anstoßen. Bruderschaft trinken. Johann und Wolfgang auf die
Schulter klopfen: "You guys are alright."
Zwei Kraftkerle.
Zwei Haudegen in stürmischen, in drängenden, in klassischen, in
totalitätsträchtigen Zeiten. Zwei Oberhäuptlinge am Ontariosee. Zwei
Schreiberlinge. Zwei Kumpel. Sie wohnen, ach! in meiner WG. In meinem
Wigwam in The Greater Toronto Area. In meinem Longhouse. In meinem Kanu.
Unsinn, in meinem Kanu wohnen sie nicht. Sie setzen sich da nur mal
gelegentlich hin, wenn’s gerade mal nichts zum Schreiben gibt. Diese Kumpel
halten zusammen.
Aber jetzt
wollen sie sich ja trennen. Johann fährt wieder nach Weimar zurück, und
Wolfgang zieht’s natürlich nach Leipzig (ich darf in Toronto bleiben), weil
er in Herrn Auerbachs Keller, wie mir ein Vetter von Herrn Mephisto im
Vertrauen auf einem im Café Größenwahn (des is in Wien – und heißt jetzt
übrigens Griensteidl) veranstalteten "Kongress der Kleinen von den meinen"
mitteilte, "some very important unfinished business" zu erledigen hat. Ein
postmoderner – oder besser gesagt: ein spätmoderner) – Hokuspokus-Lieferant
aus dem nahen, fernen rumänischen Sărata (deutsch: Salzdorf, nicht mit
Salzburg verwechseln, dieses liegt in Österreich, jenes wie gesagt in
rumänischen Landen), der u.a. in seinen jüngeren Jahren alle Tische in
Auerbachs Keller gedrechselt hat, berichtete seinen Sărata-Zechbrüdern beim
jüngsten lokalen Kultur-Event, Wolfgang habe neulich "ganz, ganz deutlich"
g’sagt: "I need a drink."
Worauf jener
kürzlich erwähnte Vetter mit dem unwiderstehlichen Sonderangebot
hervorrückte: "My cousin is going to give you the fix."
Und alles war
prächtig. Und alles ist prächtig. Und unsere Sprache ist wieder da.
Und unsere Sprache war nie weg. Und wir sind alle Brüder, wo dein sanfter
Flügel weilt. Ja, der Kollege aus Stuttgart hat g’sagt, man darf.
"Aneignung? Schmelzende Schönheit! Freiheit!", hat er mal gedichtet. Und
dann hat er eine ganze Reihe von Emails zur ästhetischen Erziehung der
Menschheit geschrieben. Und alle Welt bedient sich. Und alle Welt ist frei.
Und wir eignen uns an, was immer auch wir wollen – selbstredend nicht als
Hungerleider ohne einen Begriff von der praktischen Philosophie, sondern als
erhabene, wohlerzogene gentlemen mit hundertprozentig vertretbaren
moralischen Prinzipien. Du sollst nicht begehren deines ... also wie gesagt
mit hundertprozentig vertretbaren moralischen Prinzipien.
Land am Neckar,
Land der Wonne. Viel geliebtes Ländle, jeder reicht jedem das Händle. Und
Goethe und Schiller sind best buddies. Und sie haben schrecklich viel
gelesen. Und sie schreiben weiter. Keep writing, guys, you’re doing a great
job. Und Schillers Schädel liegt immer noch auf Goethes Schreibtisch. Und
Ontario und Baden-Württemberg werden verbrüdert (Friedens-Tschick – und
alles, was die Mode streng geteilt, wieder tunlichst zusammengeflickt),
let’s go there and study! Stuttgart ist das Zentrum der Welt.
Stuttgart,
Stuckgart, Stutgard, Studtgart, Schtuegart. Was soll’s. Ein jeder nennt
jenes schmucke Indianerdörfle am Neckar, wie er will, berichtet bereits 1628
ein Basler Medizinmann namens Sebastian Münster in seinem Cosmogonia
betitelten Totem. Liegt in Schwaben – oder jedenfalls wird das so an den
Lagerfeuern berichtet. Da will jeder wenigstens ein Mal im Leben hin, und
sei es auch nur, um a bisserl durch die Vergangenheit zu reiten – oder eben
durch die Zukunft. Hüh hott! Das nenn ich mir Kultur! Sogar unsere Frau
Königin ist da mal vorgefahren, nun gut, vorgeritten.
Ja, die Queen,
Elizabeth II, das war, wenn ich mich nicht irre, 1965, und
als sie weißgekleidet im Damensitz auf einem Rappen ins Neue Schloss
einritt, Junge, Junge, boy, oh boy, das Höchste der Gefühle, ich hab
das von einem Augenzeugen, der damals so an die acht Jahre alt war, wenn ich
mich nicht irre, es handelt sich um einen Mann schwäbischen Schlages (also
damals war er dann wohl eher ein Junge schwäbischen Schlages), sagen wir
deswegen mal ruhig, ich bin selbst mit dabei gewesen – und Falkenauge und
Chingacook und all meine Mannen hier sind natürlich irgendwie mitgeritten,
wenn man’s recht bedenkt. Okay, hinterher gelaufen. Fußvolk der
Kulturgeschichte.
Von jenem
legendären Staatsbesuch in Schwaben hält sich übrigens hartnäckig die
Anekdote, so wurde mir ferner aus schwäbischem Mund berichtet, dass die
Queen, die bei dieser Gelegenheit auch in die Schillerstadt Marbach
"transportiert" wurde, und zwar im offenen Mercedes 600 Pullman-Landaulette,
irgendwann gefragt haben soll: "And where are the horses?". Weil sie
eigentlich keineswegs das am Neckar gelegene Marbach, sondern vielmehr
dasjenige an der Lauter auf der Schwäbischen Alb im Sinn hatte, der Pferde
wegen, versteht sich. Königliches, Allzukönigliches. Oder wie wir Untertanen
am Ontariosee zu sagen belieben: royal stuff.
Herr Schiller
hat es ihr aber nicht übel genommen. Ganz im Gegenteil. Er hat schnell sein
Erhabenheitsdrama Maria Stuart hingekritzelt und es Seiner Majest
ät,
der Queen
gewidmet. "For Lizzy". Und natürlich hätte ihm die Queen ja mal mailen
können, vielleicht hat sie das sogar wirklich getan, nur, wir wissen’s nicht
genau: "Schiller, come here!" Vielleicht, nein, höchstwahrscheinlich hat
sie’s getan. "Du sollst herkommen, hast du nicht g’hört? Und bring deinen
Freund gleich mal mit, der soll mir was dichten, denn Shakespeare’s
Geburtstag naht sich wieder, also macht schon, ihr schwankenden Gestalten!"
Buckingham-Deutsch, versteht sich.
Und wenn Wolfi
dann aufs Neue in god old Leipzig schriftstellerisch adäquat ins Fässchen
schaut, um unter Berücksichtigung des aktuellen Standes der Goetheforschung
in Erfahrung zu bringen, wie aus a bisserl Sturm und Drang flugs recht viel
Dichtung und Wahrheit wird, ist es ja durchaus angebracht, ihn als Leser,
als Freund, als Kritiker, als meckernder Literatur-Herumschnüffler, als
Kundschafter und Kulturmedizinmann beim kulturwissenschaftlichen Umtrunk zu
fragen, wie’s so geht.
"Danke, es geht
mir gut". So leicht klappt das. "Allein sie haben schrecklich viel gelesen."
Dichtersprache. Ganz dicht. Sehr theatralisch. Logisch. Prologisch.
"Auf! Hinaus ins
weite Feld! Rein in den dichten Urwald! Flugs über den Atlantik hinweg!" Wir
spielen unsere Flöte, und schon ist er da, der Goethe.
Manchmal kommt
einem bei all dem ergreifenden Goethe-Talk tatsächlich in den Sinn, es in
Anlehnung an die königliche Schiller-Email, die wir uns hierin als
Arbeitshypothese als unabdingbar wissenschaftlich erwiesenen und
sprachpolizeilich hinreichend protokollierten Tatbestand vorstellen,
unvermittelt nach Weimar und Leipzig anzurufen: "Goethe, komm her!" Nur,
wenn man einen doppelten Goethe (also gewissermaßen eine Doppio Goethe)
bestellt, sind es gleich drei Männer, die sich (sei es nun telefonisch oder
per skype bzw. Rauchzeichen) zugleich melden: der jüngere Goethe, der ältere
Goethe und der Goethekopf (den man sich in der Regel fälschlicherweise
körperlos vorstellt, wobei er in Wirklichkeit natürlich sehr wohl einen
Körper hat, und zwar einen Sprachkörper, einen recht stimmig klingenden
Sprachkörper: das Deutsche. Unser Maß der Dinge, die man sagen kann.)
Also der jüngere
Goethe war jedenfalls voller Wucht, so wissen es die Zeitgenössinnen zu
berichten (Goethes Erfolg bei den Frauen wird sogar als Werbung für
Deutschkurse "eingesetzt"; na ja, also alles, war der Fall ist, würde
der Medizinmann jetzt sagen). Und der ältere Goethe konnte zwar bei
Gelegenheit a bisserl elegisch werden, doch ansonsten ließ doch gar manches
Blatt, das er im Laufe der Zeit, der Goethezeit, unserer Zeit, wie nebenbei
wendete, um uns Lesern, uns lesenden Freunden, zu zeigen, inwiefern Dichtung
und Wahrheit auseinandergehen, wenn sich dar narrative Ich ernsthaft
zusammennimmt, ein gewisses Aufjauchzen der Sinne durchblicken. Auf gut
Deutsch? Klar: Wucht.
"Wir
distanzieren uns zunehmend vom älteren Goethe", flüsterten mir Johann und
Wolfgang vortrefflich synchronisiert zu, als ich sie mal unverbindlich
fragte, wie das denn sei, wenn die Zeit vergeht. "Den ganz, ganz jungen
Goethe, also sagen wir mal den voritalienischen Goethe, jaja, genau, das war
vor der ersten Italienreise, bellissimo, was für Zeiten, da war noch der
ganze Schwung da und die ganze Kraft und das Elementarische und die Natur,
ja frische Luft, Brot, Milch und Eier vom Bauer, Blümchen, Beeren, Mädchen,
also den können wir leiden. Aber the time has come, the
Goethe-Jahrbuch says ... ja weg ist weg. Außer man kriegt einen Trunk."
Wertschätzung
ist in Sachen Goethe sehr wichtig, etwa die Wertschätzung des Schönen – und
die richtige Einschätzung der Wertigkeit, so wie sie sich uns im Schönen
offenbart. Und dabei sind nicht nur die Frauenzimmer gemeint, wiewohl etwa
Fräulein Ulrike ... ja Ulrike, that’s different. That’s not Sturm und Drang.
That’s …ach! Ulrike.
Denn alles was
entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht.
Das hab ich wieder mal gut gesagt. So ... Epigonenhut weg ... Jemand da?
Hallo? Ach so, Dr. Mephisto, der Privatdozent. Falsch
Gebild und Wort verändern Sinn und Ort! Seid hier und dort! Der hält
wohl schon wieder einen Vortrag zum Thema "Nichtlokalität des Daseins bei
Johann und Wolfgang von Goethe". Oder er dichtet wieder was über die
Weimarer Gespräche zwischen Goethe und den Brüdern Grimm (die waren ja auch
in Weimar und sind da öfters zu geheimen business meetings mit dem Geheimrat
gegangen). Wie gesagt: Zeiten. Weimarer Zeiten.
Mephisto hat
jedenfalls, das kommt jetzt direkt aus Auerbachs Keller, in Faust I
viel Unheil angerichtet und dabei geschäftlich sehr profitiert. Zwar ertönt
am Endes des Stücks ein gewiss proaktiv gemeintes "Gerettet!", aber das kann
den Geist, der stets verneint, nicht aus der Fassung bringen.
" – Sie ist
gerichtet. – Gerettet." So lautet etwa der Wahlspruch seines Notdienstes für
Privatversicherte. Und auch in Faust II kommt er verhältnismäßig gut
davon. Nicht nur vermochte ihm die Wirtschafts- und Finanzkrise herzlich
wenig anzuhaben, als er zusammen mit seinem Bruder, mit den Lehmanns und
anderen Brüdern und Vettern einen zu dem Zeitpunkt allgemein als passabel
empfundene Lösung der kaiserlichen Geldnot fand und sozusagen im Nu aus dem
tristen Nichts einen stattlichen Batzen Geld "erwirtschaftete" ("Es fehlt
das Geld? So schaff es denn!", hatte ihm sein Boss, der Kaiser, unvermittelt
gesagt) – sein Gehalt als kaiserlicher Finanzberater schoss in die Höhe,
bunte Kaiserwertscheine wurden auf dem laufenden Band gedruckt und die
Dichter griffen zur Feder: "Geld! Mehr Geld!"
Aber den Faust
kriegte er bis zuletzt doch nicht. Der ging nach oben. Deswegen war Mister
Mephisto eine Weile lang a bisserl down, wie er den freundlichen Damen
seiner näheren Bekanntschaft verriet. So richtig mephistophelisch wirkte er
allerdings auch dann nicht. Ein normaler Bürger, würde ich mal sagen. Einer,
der auch ein paar rechtliche Verfahren gegen die Obrigkeit laufen hat.
So durch und
durch mephistophelisch wirkt dabei diese G’schichte: Ein strenggenommen gar
nicht so gut gebauter französischer Korporal, der einst auf die im
wörtlichen Sinne bahnbrechende Idee kam, dass seine Soldaten ja ruhig a
bisserl schneller marschieren könnten, die Faulenzer, soll, so geht das
Gerücht, in jenen Zeiten, da der Zeitgeist noch in Weimar und Leipzig (und –
weniger bekannt – in Erfurt) weilte, irgend einmal gesagt haben: "Den Goethe
kann ich leiden. Sein Haus wird bitteschön nicht geplündert." Und das Haus
wurde nicht geplündert. Gute Literatur ist eben gute Literatur.
"Den Napoleon
kann ich leiden", hatte Goethe seinerseits bekundet, als ihm der
Welteroberer über den Weg lief. "Really."
Ens realissimum
heißt sowas – und im Land ob der Enns wird sogar berichtet, dass ein
gewisser Napoleon Bonaparte, wer weiß, vielleicht war es ja derselbe, mal im
Schloss Ennsegg einquartiert gewesen sein soll. Total real.
Hier ein Foto:
kleiner Korporal, großer Geheimrat. Die Achse Erfurt-Weimar. Vor dem Haus
stand damals übrigens eine Frau, den Stadtplan in der Hand, das bebende Herz
in der Brust. Sie hatte, wie wir Nachgeborenen heutzutage wissen, schon
damals vor, das Originalgenie zu heiraten. Ein Frauenplan.
Trinken wir
drauf. Denn wäre Goethes Haus in Weimar anno 1808 geplündert worden (unser
Faust wurde übrigens in jenem Jahr veröffentlicht), hätten wir jetzt
keine Aneignungsg‘schichte, sondern bloß ein Klagelied. "Herr Ober! Noch
einen Napoleon! Nein, zwei. Zwei doppelte!"
Der Schenk tut
seine patriotische Pflicht, und wir schauen uns wieder die historischen
Begegnungen zwischen den zwei Männern an, dem Kaiser und dem Dichter. Aber
das Foto ist natürlich kein Original, sondern eine Nahaufnahme eines
aufgrund der Erinnerungen maßgebender Augenzeugen erstellten Bildnisses, von
dem wir heutzutage freilich wissen, dass es mehrere Male dem jeweils in der
Epoche geltenden rückblickenden Erwartungshorizont entsprechend verändert
wurde. Im großen Ganzen dürfte aber alles stimmen – und das
Foto wurde übrigens vom Kulturminister beglaubigt; denn es ist sehr
schön.
Die Familie, bei
der wir damals in good old Sankt Veit wohnten und bei der also wie gesagt
auch Helge mitsamt seinem kleinen anmaßend herumkommandierenden Bruder und
den Eltern zur gleichen Zeit logierte (großer Bauernhof, alles in bester
Ordnung), hieß übrigens Grimm. Und es gab mehrere Brüder in der Familie. Die
Brüder Grimm.
"Sind das
wirklich die Brüder Grimm?", wollte mein größerer Bruder wissen. "Nein,
natürlich nicht, meinte unser Vater." Aber er hatte natürlich nicht recht.
Denn es waren ja die Brüder Grimm.
Über Bauernhof
und Alm spürtest du keinen Hauch. Das waren Zeiten! … Defereggentalzeiten.
Quo tempore, wie unser Medizinmann sagen würde. Und Goethe selber hat sich
wie bereits erwähnt ebenfalls gerne auf Reisen begeben, etwa ins
deutschsprachige Rumänien, was aber nicht in der Gesamtausgabe steht, denn
es handelt sich natürlich um geheime Infos.
Das war so: Man
hat ihn gerufen, und er ist gekommen. Einmal, aber es ist ja schon eine
Weile her, veranstaltete der Schwabenclub in Sărata ein Himbeerenfest zu
Ehren des Meisters der deutschen Dichtung, der, so die lokalen Kundschafter
und Ländlestreicher, vor ein paar wenigen Jahrhunderten ebenda, in den
Himbeeren, Lotte geküsst hat. Das war eine gute Sache. Denn in Salzdorf gibt
es die allerbesten, allerschönsten Himbeeren, und alle Siebenbürger Sachsen
und alle sieben Schwaben und all die internationalen Touristen mit ihren
interkulturellen Kisten kommen her und sagen ein paar Goethegedichte
auswendig und wollen sich was einschenken lassen, einen Süßmost oder einen
Obstler oder so … und Sorgenbrecher sind die Himbeeren. Dazu reichlich
Feuerwasser der siebenbürgischen Sorte für die wackeren Krieger vom Stamm
der Hessen – und selbstverständlich auch für die wackeren Krieger vom Stamm
der Schwaben (Die Schweizer gehören dabei zwar an und für sich
strenggenommen zum Stamm der Schwaben, würd‘ ich mal kurz axiomatisch
hinstellen, aber es darf, wie im folgenden Zitat eindeutig erwiesen, im
Schweizerischen Falle mal ruhig auch a bisserl Himbeeressig
sein). Man schreibt das Jahr
1774. Lavater schreibt in sein Tagebuch: "Goethe ein Glas Wein, ich
Himbeeressig!" And that’s only the beginning of the story.