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......
"Goethe, komm her!"

Eine Aneignungsg'schichte.

Von Vasile V. Poenaru
(07. 11. 2015)

...



Vasile V. Poenaru
bardaspoe [at] rogers.com

geboren 1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Lebt
in
Toronto.

 

 

 

 

 

 

"Frag nicht, für wen die
Goetheglocke schallt, sie
schallt für dich", hatte unser
Hemingway gesagt, als ich
vor einiger Zeit schon
wieder mal nicht hundert-
prozentig wusste, für wen
good old Goethe denn
eigentlich die Glocken
zieht ...

 

 

 

 

 

 

 

Diese wackeren kanadi-
schen Gänse sind ja gar
keine Vöglein im Walde,
und auch keine Enten,
sondern füchterlich kom-
plexe interkulturelle Biester.
Sie fliegen zur Offenen
Werkstatt "
Gänsefeder
und blaue Blume" im
Goethe-Haus. Am besten,
wir fliegen gleich
mal mit.

 

 

 

 

 

 

 

Der Deutsche Akadem-
ische Austauschdienst
bestätigt den Tatbestand
des totalen Sprachverlusts,
den unaufhaltsamen
Untergang der deutschen
Sprache.

 

 

 

 

 

 

 

 

Tausend Bücher schweben
zu meinen Füßen im
schönen Aufgehobensein
des einen überdurch-
schnittlich lang verweilen-
den Augenblicks durch die
frische Luft am Ontariosee,
die meisten zählen zur
Literatur deutschsprach-
iger Ausdrucksweise.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In der einfachen Sprache
der Prärien, in der Sprache
der wackeren Fallensteller
und Kanufahrer: Weg mein
Goethe, weg mein Deutsch.
Abgehauen. Verschwunden.
Stiften gegangen. Nicht
mehr da. Und: Goethe
hin, alles hin.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich muss schnell wieder
mal den Präsidenten an-
rufen. Ich muss … wie
bitte? Kein Anschluss?
Alles Vergängliche ist nur
ein Gleichnis
. Hokuspokus!
How did you enjoy the
Ereignis?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Good bye, old man! Du
hattest Zeit deines Lebens
was zu sagen und konntest
das, was du zu sagen
hattest, auch schriftlich
festhalten – und sieh einer
an, zwei Jahrhunderte
später ist deine Tinte
immer noch recht gut
verwendbar. Du hättest
ruhig länger bei uns
verweilen können.
Es war so schön!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Paradigmenzusammen-
bruch
lautet die Diagnose
des Systems. Das System
ist gut. Wir sind gut.
Goethe ist gut. Nur, er
ist ja weg.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Darf ich bitte Herrn
Goethe sprechen?"

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nein, Goethe ist ganz
bestimmt nicht irgend-
einer, er ist nicht irgendein
Goethe, sondern eben
der Goethe, unser Goethe,
unser aller Goethe, er ist
The Great Goethe, ein
Vetter des Great Gatsby,
der freilich ein paar
wenige Jahrhunderte
später – und im Unter-
schied zum Geheimrat
nur in der fiktiven Welt
der Literatur – geboren
wurde.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Denn wenn der Berg
zu Mohammed kommen
kann, dann darf sich auch
der alte Geheimrat mit
all seinen Lebensweis-
heiten, mit seinen Dichter-
Worten, seiner Dichterzeit
und all dem sonstigen
kulturträchtigen Kram
ruhig zu mir her bemühen.


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kulturobjekte lassen sich
leicht aneignen. Kultur-
dinge. Kulturgegenstände.
Etwa ein Goethe, wenn’s
sich so fügt. Nur, welches
mag wohl die passende
Art und Weise sein, so
einen Goethe anzugehen,
hinzukriegen, anzupacken,
einzupacken, fragt sich
das Ich in mir.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es gibt nur eine Weise,
mit Titaten ins Gespräch
zu geraten. Man muss sie
von ihrem Sockel runter-
holen. Man muss sie duzen,
man muss sie umarmen.
Man muss mal gemeinsam
mit ihnen einen heben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Und wir eignen uns an,
was immer auch wir wollen
– selbstredend nicht als
Hungerleider ohne einen
Begriff von der praktischen
Philosophie, sondern als
erhabene, wohlerzogene
gentlemen mit hundert-
prozentig vertretbaren
moralischen Prinzipien.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Stuttgart, Stuckgart,
Stutgard, Studtgart,
Schtuegart. Was soll’s.
Ein jeder nennt jenes
schmucke Indianerdörfle
am Neckar, wie er will.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Du sollst herkommen,
hast du nicht g’hört? Und
bring deinen Freund
gleich mal mit, der soll
mir was dichten, denn
Shakespeare’s Geburtstag
naht sich wieder, also
macht schon, ihr schwan-
kenden Gestalten!"

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wertschätzung ist in
Sachen Goethe sehr
wichtig, etwa die Wert-
schätzung des Schönen –
und die richtige Einschätz-
ung der Wertigkeit, so wie
sie sich uns im Schönen
offenbart. Und dabei sind
nicht nur die Frauen-
zimmer gemeint ...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mephisto hat jedenfalls,
das kommt jetzt direkt
aus Auerbachs Keller, in
Faust I viel Unheil ange-
richtet und dabei geschäft-
lich sehr profitiert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Den Goethe kann ich
leiden. Sein Haus wird
bitteschön nicht geplündert."
Und das Haus wurde nicht
geplündert. Gute Literatur
ist eben gute Literatur.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Sind das wirklich die
Brüder Grimm?", wollte
mein größerer Bruder
wissen. "Nein, natürlich
nicht, meinte unser Vater."
Aber er hatte natürlich
nicht recht. Denn es waren
ja die Brüder Grimm.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Und Goethe selber hat
sich wie bereits erwähnt
ebenfalls gerne auf Reisen
begeben, etwa ins deutsch-
sprachige Rumänien, was
aber nicht in der Gesamt-
ausgabe steht, denn es
handelt sich natürlich
um geheime Infos.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Man schreibt das Jahr
1774. Lavater schreibt in
sein Tagebuch: "Goethe
ein Glas Wein, ich Himbeer-
essig!" And that’s only the
beginning of the story.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Goethe, alter Kumpel.
You’ve got it right!",
schreie ich über die
weiten kanadischen Wälder
hinweg, ein loon ahmt
meinen Schrei nach, den
Kulturschrei eines so durch
und durch zeitgemäßen
Goethe-Manns.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Ziel meiner Reise ist
weit entfernt. Ob ich es
wohl je erreichen werde?
Ein Abstecher bei Landzeit
kann nicht schaden. Sonst
schafft man das nie.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Und irgendwann fange
ich dann schließlich
tatsächlich an zu lesen.

 

 

Motto: "Du sollst herkommen, hast du nicht g'hört!?"

   Prolog und Gewimmel: mein Goethe, mein Deutsch. Nicht irgendwo auf einem fernen Bildnis, nicht irgendwann in einer verlorenen, längst ungültigen, längst abgeschriebenen Goethezeit, nicht in irgendeiner von den wackeren Verfechtern der weltweiten Vereinfachung und ihren biederlichen Helfershelfern durchgeführten Reform oder Gegenreform dessen befangen, was innerhalb unserer Sprache, der deutschen Sprache, noch mit rechten Dingen vor sich gehen darf. Nicht jenseits, sondern diesseits. Hier: bei uns, bei uns Lesern. Genauer gesagt bei mir. In meiner Hosentasche, in meiner Brust.

In meinem Herzen: zwei Seelen, ein Gemüt. Ganz dicht nebeneinander. Dazu ein blood flow control system, innerhalb dessen natürlich zugleich gesteuert wird, was man rund um den CN-Turm in Toronto (wo ja bekanntlich mal ein Hemingway gewohnt hat) wie rund um den Europaturm in Frankfurt (wo ja bekanntlich mal ein Goethe gewohnt hat) flow of language heißt. Und – wenn’s sein darf – noch eine vierte Herzkammer, ein kleines Gästezimmer für den Geist, den genie in the bottle, ja, den Zeitgeist, just in case, vielleicht meldet der sich ja mal – oder vielleicht meldet er sich eben nicht.

   Ein Rauchzeichen aus der Nachbarstadt Mississauga, wo die Mississaugas of New Credit früher ihre Jagdgründe hatten (jetzt haben wir dort unsere Produktionsstätten) gibt mir bescheid, dass eine wichtige Nachricht vom Deutschen Akademischen Austauschdienst in Bonn auf den Weg gebracht wurde. Keine fünf Minuten später überreicht mir der Laufbursche das Totem, er hat es in der Rauchzeichenentschlüsselungszentrale in Bayview Village gekriegt (mein Zelt durfte ich vor gut zehn Jahren in der Nähe aufschlagen, und da steht es immer noch, dem Medizinmann macht das nichts aus). Begabten Manns Natur- und Geisteskraft? Rund um Bayview Village, Toronto reichlich vorhanden. Der Kaiser, so einer meiner belesenen Freunde, der – als einziger in Nordamerika – den ganzen Faust II gelesen hat, genauer gesagt den ganzen ersten Teil des Faust II, weiß so eine Kraft durchaus zu schätzen, besonders wenn es sich um keinen bösen Geist handelt, sondern um einen guten. Nur den Erzbischof von Ontario stört’s a bisserl. Denn so spricht man nicht zu Christen. Aber der Medizinmann pflegt schon eher eine aristotelisch-platonische Ideenlehre. Dass sowas an sich mephistophelisch sei, streitet er ab.

Ding Dong, Ding Dong. Ein Glockenton. Gut, edel und gerecht. "Frag nicht, für wen die Goetheglocke schallt, sie schallt für dich", hatte unser Hemingway gesagt, als ich vor einiger Zeit schon wieder mal nicht hundertprozentig wusste, für wen good old Goethe denn eigentlich die Glocken zieht, wenn er den nicht ganz so lichten Mächten Einhalt gebieten will. Alles klar: Er zieht sie für uns. "Von dem Dome, schwer und bang, tönt die Glocke Grabgesang", singt auch der Schwabe – und wir singen mit. Ach! Klassiker.

Also: Post vom DAAD. Ein atemberaubendes Totem, verrät mir der Laufbursche (hat wohl während des Laufens mal kurz reingeschaut). Und er ist indeed ganz außer Atem geraten. Ich lass ihn verschnaufen, hier, a Kipferl und einen tüchtigen Schluck, wie das früher immer so gemacht wurde, und Sorgenbrecher sind die Reben – oh well, Medizinmann-Talk. Wer wird schon klug daraus.

   Ja. Schönes, gut leserliches Totem, alles bio, alles in Einklang mit der Natur. Wenn Spinoza da wäre, würde er damit alle seine Linsen schleifen. Köpfchen über Wasser, Schwänzchen in die Höh’. Eine Vogelschar zieht vorbei, hoch das Banner, Real Canadian Goose steht drauf, Vollgas Richtung Pearson International Airport – und dann natürlich weiter nach Frankfurt am Main, warte nur, balde, vielleicht nimmt das Geflügel meinen Antwortbrief mit ("Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Geldgeber vom Deutschen Aka…"), allein, diese wackeren kanadischen Gänse sind ja gar keine Vöglein im Walde, und auch keine Enten, sondern fürchterlich komplexe interkulturelle Biester. Sie fliegen zur Offenen Werkstatt "Gänsefeder und blaue Blume" im Goethe-Haus. Am besten, wir fliegen gleich mal mit. Das sind gute Flügel. Canadian Wings.

Ich muss jetzt das Totem nur noch schnell in die Landessprachen übersetzen lassen, now that would be English and French, in Goethes, Schillers und Karl Mays Sprache natürlich auch (wiewohl dieser, the latter, wie wir, die leisetreterischen Germanenhäuptlinge am Ontariosee, sagen, ja strenggenommen südlicher stationiert ist, was uns jedoch im Moment auf der wundersam übergeordneten narrativen Ebene unseres Versuchs einer schöngeistigen Aneignung keineswegs stört, denn wir moch’n jetzt ja nicht Geographie, sondern bloß Kulturphilosophie), und schon sind die letzten kulturpolitischen Purzelbäume rund um die Großen Seen ein offenes Blatt, ein Ahornblatt. Ein Lindenblatt, ein Blatt für literarische Unterhaltung. Ganz dicht beschriftet. Mit unserer Literatur, der Weltliteratur.

   The news hits me hard. Ich meine, die Nachricht … ach was, Sie verstehen schon, was ich meine. Also der Deutsche Akademische Austauschdienst bestätigt den freilich bereits seit geraumer Zeit eh an allen Lagerfeuern hinreichend bestätigten und wiederbestätigten Tatbestand des totalen Sprachverlusts (und zwar an sämtlichen Börsen, wie übrigens auch die Erste Allgemeine Versicherung, die Erste Allgemeine Rückversicherung und die Erste Allgemeine Verunsicherung in ihren jeweiligen Jahresberichten säuberlich vermerken), den unaufhaltsamen Untergang der deutschen Sprache, der deutschen Kultur, des deutschen Drum und Dran (des mir vergessen ham). Goethe und die seinen? Endgültig abgeschrieben.

Alle Welt zuckt die Achseln, cause German’s really not all that important, you know. Nur mich trifft es sozusagen mit voller Wucht. Der CN-Turm wackelt, bald steht er schiefer als der Pisa-Turm. Das Drehrestaurant wackelt mit. Der Schenk fragt was. Und mir kommt ein Goethewort in den Sinn: Hafis, o lehre mich, wie du's verstanden! Denn meine Meinung ist nicht übertrieben: Wenn man nicht trinken kann, soll man nicht lieben. Ein west-östlicher Diwan an meiner linken Seite. Darunter die Stadt. Ich richte mich gemütlich ein. "Zwei doppelte, bitte."

Von hier oben sieht man alles. Sozusagen mit poetischem Adlerblick. Tausend Bücher schweben zu meinen Füßen im schönen Aufgehobensein des einen überdurchschnittlich lang verweilenden Augenblicks durch die frische Luft am Ontariosee, die meisten zählen zur Literatur deutschsprachiger Ausdrucksweise. Denn da bin ich zu Hause. Viele Autoren, so stelle ich es mir gerne vor, winken freundlich aus der Ferne, manche auch etwas steif. Habachtstellung. Ich winke zurück.

   Toronto-Mann, was nun? Goethe-Fan, was tun? Schnell ein Foto geschossen! Das Stückchen Ewigkeit verstaue ich im Album. Es ist ein Bild vom Ursprung der Sprache. Ein besseres hat’s noch nie gegeben. Und die schräge Achse der Welt dreht sich um einen Schatz im Ontariosee, wie das Bleichgesicht aus Radebeul sagen würde, um einen Wortschatz, um meinen Wortschatz. Er steht – wie so vieles im Leben – im Begriff, dramatisch zu schrumpfen. Kaum zu fassen, sag ich mir (noch) auf Deutsch. I don’t get it. Kein Goethe mehr da. Kein Sturm. Kein Drang. Kein Knab’, kein Röslein, kein Leiden. Kein Stechen auf der Heiden. Kein Zwitschern, kein Schweigen.

"How come?", will ich schon fast fragen, will ein Ich in mir fragen, das Ich, zu dem ich mich zähle, das Ich über mir, über meinem Sprachkörper, meinem Dasein, auf den Datenträgern und den Welten, die dahinter stecken, festgehalten, halb Sprache und halb Mensch.

"Passte eben nicht ins Konzept", antwortet der Präsident des No-German-Clubs, noch ehe ich meine Frage stelle. Total abgeschafft. German? Not good.

Kann man nichts machen. That’s life. Genauer gesagt: It is what it is. Und doch fragt es in mir weiter, ich weiß jetzt also wie gesagt nicht genau, wer bzw. was da in mir fragt, aber irgendwas fragt in mir weiter: How could this happen so fast? Ich bin verblüfft. In der einfachen Sprache der Prärien, in der Sprache der wackeren Fallensteller und Kanufahrer: Weg mein Goethe, weg mein Deutsch. Abgehauen. Verschwunden. Stiften gegangen. Nicht mehr da. Und: Goethe hin, alles hin.

   Der Präsident hat abgelegt. Er muss jetzt andere Telefonate erledigen. Ich stecke eine Münze, einen loonie (das ist auch so’n fliegendes Biest, a loon, zum Dollar plattgemacht), in den letzten noch nicht zertrümmerten Goethe-Automaten, bald wird auch der recycelt. "Fürwahr! Gerade war er noch da!", ertönt eine blöde Stimme aus dem Automaten, die im Menu, das merke ich erst jetzt, aha, ich habe also das Weimar Mode gewählt, als Weimar Voice ausgewiesen wird. Welcome to the Weimarer Zeit. Lotte in Weimar! Unsinn, die Weimarer Zeit ist was anderes. Ich muss schnell wieder mal den Präsidenten anrufen. Ich muss … wie bitte? Kein Anschluss? Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Hokuspokus! How did you enjoy the Ereignis?

Von wegen Weimar Voice! Also wenn das der beste Goethe-Automat ist … Coin return. Das Ding will meine Münze nicht wieder rausspucken. Es hätte wohl kaum schlimmer kommen können. Jetzt ist auch der loonie weg. Now what? Versuchen wir mal den Goethezeit-Knopf. Your session timed out. Good bye!

Good bye, Alter Meister. Auf Englisch fällt dann der Meister freilich weg. Good bye, old man! Du hattest Zeit deines Lebens was zu sagen und konntest das, was du zu sagen hattest, auch schriftlich festhalten – und sieh einer an, zwei Jahrhunderte später ist deine Tinte immer noch recht gut verwendbar, ein verwendbares Zeug. Du hättest ruhig länger bei uns verweilen können. Es war so schön!

   Aber nun bist du weg. Ich wende mich, weil mir die Dame vom Institut deines Namens diesen course of action ans Herz legte, hoffnungsvoll an den diensthabenden Dings, den Originalgeniekraftkerl-Lehrling, den Zauberlehrling, der mit seinem ungespitzten Bleistift verstört herumlungert, da der Meister nun mal kurz seine Meisterjahre hinkriegen will, die er für seinen höchstwahrscheinlich aus bürokratischen Gründen bisher immer nocht nicht zugestellten goldenen Meisterbrief braucht – und dem Famulus unverschämterweise nicht verraten wollte, wo der Spitzer steckt.

Einen Zauberlehrling Goetheschen Schlages erkennt man bekanntlich an … Ach! da ist er ja, mit seinem abgewetzten Zauberlehrling-Hut und seinem Zauberlehrling-Stab und seinem EU-normierten Zauberbuch! Hantiert an unserer Welt. Hantiert an unserer Sprache. Übt sich brav in Sachen Ontologie. Will uns was herbeizaubern.

Er wirkt verlegen, es scheint schon wieder etwas entzwei gegangen zu sein. Aber der Uhu ist ja schnell zur Hand. Hier, hier und hier wird das neue Paradigma zusammengeklebt, das neue, mindestens hundert Jahre haltbare Paradigma der Spätmoderne, das gerade zusammengebrochen ist. Paradigmenzusammenbruch lautet die Diagnose des Systems. Das System ist gut. Wir sind gut. Goethe ist gut. Nur, er ist ja weg.

   Der Zauberlehrling hat gerade einen Gegen-Duden angezündet, den er aus Versehen herbeigezaubert hat, der Gegen-Duden war blöd und schlecht, jetzt brennt das falsche Ding, der echte Duden ist wieder da, ein bisschen revidiert, ein bisschen reformiert, ein bisschen aschenfarbig (denn vom Gegen-Duden ist ja natürlich bis zuletzt doch noch etwas zurückgeblieben, aber keine Sorge, Düngemittel sind gut für die Sprache, besonders die natürlichen), dabei immerhin wie gesagt wieder durchaus da, total vorhanden, zugegen, präsent, anwesend. In unserer Zeit, der deutschsprachigen Zeit.

Der Zauberlehrling sagt was. Und was sagt er? Etwas Kolossales sagt er: "Dass nenn’ ich eine gute Zeitrechnung!" Um mich herum versammeln sich ein paar weitere Kunden, die ebenfalls ihr Kleingeld zurück kriegen wollen. Ich bin also doch nicht so allein, wie ich glaubte. Money matters.

Die Standuhr tickt, wir müssen uns beeilen. Ein allerletzter, wunderschöner, altmodischer windiger Schachtelsatz fängt an, ein Mysterium der Besinnung, der Besonnenheit, der Schreiblust, wer weiß, wo er hinführt, dieser erbauliche, windige Schachtelsatz. Call me Ishmael. Besser: Eduardo, so nennen wir einen Baron … Doch hat nicht soeben etwas jäh aufgeblitzt? Nein. Der Schachtelsatz führt in die Schachtel. Dort ist es recht dunkel.

   Wenn wir es so gut sagen könnten wie die Dichter, würden wir die Dichter nicht brauchen. Ein Blick auf meine alte kanadische Uhr, die Sanduhr am Huronsee, und ich weiß: Die Zeit vergeht. Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Vor mir eine offene Tür. Soll ich sie einrennen? Hinter der Tür die Sanduhr. Sie tickt für mich, für uns, für uns alle. Doch eine Sanduhr kann ja gar nicht ticken.

Da drüben! Ein Sprachbrei! In der Goethe-Küche. Es ist geschehn, so sei’s getan. Moment … Bin ich es, der das gerade gedichtet hat oder hat mir ein anderer die Worte in den Gedanken gesteckt, den ich gerade zu hegen gemeint hatte, auf eigene Faust, aus freien Stücken, d.h. so durch und durch frei von der Leitung eines anderen, von der Leitung des Gruppengedankenleiters, ja halt total aufgeklärt (denn wir sind doch heutzutage in unseren akademischen Landen total aufgeklärt, oder?). Wie dem auch sei, Goethezeit: vorbei.

"Schlage immer den direkten Weg ein", hatte ein Herr Ocam einst gesagt, die günstig (zu schwäbischen Preisen) erstellte Rasierklinge in der Hand, einen nicht minder preiswert erstellten Goethekopf vor Augen. Direkt beim Geheimrat anrufen? Null null eins … so, jetzt sind wir aus Nordamerika raus, vier neun … Deutscher Grund und Boden. "Darf ich bitte Herrn Goethe sprechen?"

"Mr. Goethe ain’t here any longer", sagt der Schalk, der Geist, der stets verneint. Und ich merke schon, irgendwie hat er recht, der Kerl. Und dann merke ich: Irgendwie hat er nicht recht. Es ist zum Wimmeln. Ich meine, fast. Fast ist es zum Wimmeln. Fast wäre es zum Wimmeln. Fast wäre es zum Wimmeln gewesen.

Aber eben auch nur fast. Ich will’s nämlich trotzdem noch einmal versuchen. Noch ein letztes Mal. Ja, trotzdem. Mein Goethe, mein Deutsch, meine Aneignungsg’schichte:

   Hey, Mister Goethe! Komm her! Du sollst herkommen, hast Du nicht g‘hört!? (Goethegeist-Antwort: Kommen? Wer ruft mir denn?" – der Dativ, unser Freund) Nur, so spricht man ja gar nicht zu einem Goethe. Denn Goethe ist wohlgemerkt nicht Helge, der von seinem kleinen Bruder vor ein paar wenigen Jahrzehnten in eben dem stattlichen Bauernhof im verwunschenen St. Veit im Defereggental, in dem auch wir (d.h. ich und meine Familie) zu der Zeit logierten (jaja, in der Goethezeit, in der Immerzeit, herbei, herbei, gekocht ist der Goethebrei, in der Zeit im Blick, der Zeit im Bild), ebenso gerufen wurde, Helge! Komm her! Du sollst herkommen, hast Du nicht g‘hört? Nein, Goethe ist ganz bestimmt nicht irgendeiner, er ist nicht irgendein Goethe, sondern eben der Goethe, unser Goethe, unser aller Goethe, er ist The Great Goethe, ein Vetter des Great Gatsby, der freilich ein paar wenige Jahrhunderte später – und im Unterschied zum Geheimrat nur in der fiktiven Welt der Literatur – geboren wurde, sich aber ebenfalls recht gut aufs Licht verstand – und freilich sind solche Leut‘ in ihrer Erhabenheit schwer anzupacken. "Du gleichst dem Geist, den du verstehst, nicht mir." Johann Wolfgang von Goethe: eine größere Aneignung. Ein Diebstahl. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Wort noch Leid.

Den Sprachfluss des jungen Werther (oder im Goetheschen Wortlaut: des jungen Werthers) etwa kann man nicht sozusagen einfach intrinsisch rückwirkend ins Bett geleitet haben wollen, wiewohl viele Literaturherumschnüffler, die sich mehr oder weniger insgeheim vorstellen, dass in ihnen die Goethezeit tickt, meinen, ihn in ihrer Brust tosen zu hören.

   Großes Schild: Trete Er nie einem Geist nahe, den Er nicht begreift (freilich, was für einen Geist begreift einer schon? Das heißt, abgesehen vom genie in the bottle, dem Geist, der stets verneint, dem Zeitgeist). Was wenn man ihm aber mal, denk ich jetzt mal – kategorischer Geist-Imperativ hin und her, Anstand hin und her, gute Kinderstube hin und her, Holzschnitzerei in den Vorhöfen der Germanistik hin und her – trotzdem ausnahmsweise ein klein bisschen (und bezeichnenderweise rein methodologisch) nahetritt. Das ist der erste Gedanke, der einem kommt, der mir kommt, wenn es mal darum geht, eine Totalitätsperspektive zu erschließen, die den kanadischen Pfadfinder deutschsprachiger Ausdrucksweise, den Kultur-Scout, den Dichtungskundschafter im Dickicht, in der Lichtung, auf dem See, das Greenhorn in der Goetheforschung schnurgerade in das allertiefste Wesen der deutschen Literatur und Kultur transponieren soll. Denn wenn schon nun mal bekanntlich gegebenenfalls der Berg zu Mohammed kommen kann, dann darf sich auch der alte Geheimrat mit all seinen Lebensweisheiten, mit seinen Dichter-Worten, seiner Dichterzeit und all dem sonstigen kulturträchtigen Kram ruhig zu mir her bemühen – mit all dem Kram, von dem es in der Schule immer so schön heißt, man muss ihn sich aneignen.

Vielleicht klappt es ja. Ein schlichtes Goethewort: "Hallöchen, ich bin der Goethe." Mal hinschauen: Goethekopf, Goethebrust, Goetheherz, Goetheseelen (denn zwei Seelen wohnen, ach! und zahlen auch Miete, ach was! die zahlen sie nicht – in meiner Brust). Ja halt Goethezeit. Also doch nicht ganz vorbei. Jedenfalls nicht auf inwendiger Ebene.

Passt. Aber auswendig lernen will ich dich auf keinen Fall, nichts für ungut. "Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin und leider auch Theologie ..." Wie bitte? Nein, gar nicht. Das heißt nicht Auswendiglernen. Das kann ich, weil ich’s will. Das will ich, weil ich’s mag. Das mag ich, weil’s gut klingt. Und weil mehr dahinter steckt, als einer so auf Anhieb meinen würde. Das ist jetzt nicht gegen den Durchschnittsmenschen gerichtet. Der Durchschnittsmensch ist, soweit es ihn überhaupt gibt, ein anständiger, netter, gebildeter, in vieler Hinsicht überdurchschnittlicher Mensch, einer, mit dem man gut kann. Ein ganzer Kerl. Und kräftig ist er auch. Ein Kraftkerl.

   Wir aber blicken nach oben, durch die Zeiten hindurch, über Bücher und Wälder hinweg. Wie sagte denn gleich der Medizinmann? Uhr aufziehen. Goethezeit erleben. Sich mit seinen Siebensachen davonmachen. Den Mut zur großen Tat haben – und kurzerhand entschlossen sagen: Das ist mein!

Kulturobjekte lassen sich leicht aneignen. Kulturdinge. Kulturgegenstände. Etwa ein Goethe, wenn’s sich so fügt. Nur, welches mag wohl die passende Art und Weise sein, so einen Goethe anzugehen, hinzukriegen, anzupacken, einzupacken, fragt sich das Ich in mir nach angemessen erfolgter Rücksprache mit dem Über-Ich über mir. Die Antwort liegt sonnenklar in den Sternen: Es gibt nur eine Art und Weise.

Es gibt nur eine Art, Texte zu lesen. Man muss einstürmen, sich Inhalte aneignen, Bedeutungen beimessen, kurz: sich nehmen, was immer auch zum Mitnehmen da ist. Und wenn’s Titanen-Texte sind: mit den Titanen ins Gespräch geraten.

Es gibt nur eine Weise, mit Titaten ins Gespräch zu geraten. Man muss sie von ihrem Sockel runterholen. Man muss sie duzen, man muss sie umarmen. Man muss mal gemeinsam mit ihnen einen heben.

Ganz gelassen auf sie zugehen. Die Augen öffnen und sich in ihre Worte einfühlen, einschleichen, einnisten, einleben. Das Glas ganz gemütlich zum Mund führen. Kulturlüstern anstoßen. Bruderschaft trinken. Johann und Wolfgang auf die Schulter klopfen: "You guys are alright."

   Zwei Kraftkerle. Zwei Haudegen in stürmischen, in drängenden, in klassischen, in totalitätsträchtigen Zeiten. Zwei Oberhäuptlinge am Ontariosee. Zwei Schreiberlinge. Zwei Kumpel. Sie wohnen, ach! in meiner WG. In meinem Wigwam in The Greater Toronto Area. In meinem Longhouse. In meinem Kanu. Unsinn, in meinem Kanu wohnen sie nicht. Sie setzen sich da nur mal gelegentlich hin, wenn’s gerade mal nichts zum Schreiben gibt. Diese Kumpel halten zusammen.

Aber jetzt wollen sie sich ja trennen. Johann fährt wieder nach Weimar zurück, und Wolfgang zieht’s natürlich nach Leipzig (ich darf in Toronto bleiben), weil er in Herrn Auerbachs Keller, wie mir ein Vetter von Herrn Mephisto im Vertrauen auf einem im Café Größenwahn (des is in Wien – und heißt jetzt übrigens Griensteidl) veranstalteten "Kongress der Kleinen von den meinen" mitteilte, "some very important unfinished business" zu erledigen hat. Ein postmoderner – oder besser gesagt: ein spätmoderner) – Hokuspokus-Lieferant aus dem nahen, fernen rumänischen Sărata (deutsch: Salzdorf, nicht mit Salzburg verwechseln, dieses liegt in Österreich, jenes wie gesagt in rumänischen Landen), der u.a. in seinen jüngeren Jahren alle Tische in Auerbachs Keller gedrechselt hat, berichtete seinen Sărata-Zechbrüdern beim jüngsten lokalen Kultur-Event, Wolfgang habe neulich "ganz, ganz deutlich" g’sagt: "I need a drink."

Worauf jener kürzlich erwähnte Vetter mit dem unwiderstehlichen Sonderangebot hervorrückte: "My cousin is going to give you the fix."

   Und alles war prächtig. Und alles ist prächtig. Und unsere Sprache ist wieder da. Und unsere Sprache war nie weg. Und wir sind alle Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt. Ja, der Kollege aus Stuttgart hat g’sagt, man darf. "Aneignung? Schmelzende Schönheit! Freiheit!", hat er mal gedichtet. Und dann hat er eine ganze Reihe von Emails zur ästhetischen Erziehung der Menschheit geschrieben. Und alle Welt bedient sich. Und alle Welt ist frei. Und wir eignen uns an, was immer auch wir wollen – selbstredend nicht als Hungerleider ohne einen Begriff von der praktischen Philosophie, sondern als erhabene, wohlerzogene gentlemen mit hundertprozentig vertretbaren moralischen Prinzipien. Du sollst nicht begehren deines ... also wie gesagt mit hundertprozentig vertretbaren moralischen Prinzipien.

Land am Neckar, Land der Wonne. Viel geliebtes Ländle, jeder reicht jedem das Händle. Und Goethe und Schiller sind best buddies. Und sie haben schrecklich viel gelesen. Und sie schreiben weiter. Keep writing, guys, you’re doing a great job. Und Schillers Schädel liegt immer noch auf Goethes Schreibtisch. Und Ontario und Baden-Württemberg werden verbrüdert (Friedens-Tschick – und alles, was die Mode streng geteilt, wieder tunlichst zusammengeflickt), let’s go there and study! Stuttgart ist das Zentrum der Welt.

Stuttgart, Stuckgart, Stutgard, Studtgart, Schtuegart. Was soll’s. Ein jeder nennt jenes schmucke Indianerdörfle am Neckar, wie er will, berichtet bereits 1628 ein Basler Medizinmann namens Sebastian Münster in seinem Cosmogonia betitelten Totem. Liegt in Schwaben – oder jedenfalls wird das so an den Lagerfeuern berichtet. Da will jeder wenigstens ein Mal im Leben hin, und sei es auch nur, um a bisserl durch die Vergangenheit zu reiten – oder eben durch die Zukunft. Hüh hott! Das nenn ich mir Kultur! Sogar unsere Frau Königin ist da mal vorgefahren, nun gut, vorgeritten.

   Ja, die Queen, Elizabeth II, das war, wenn ich mich nicht irre, 1965, und als sie weißgekleidet im Damensitz auf einem Rappen ins Neue Schloss einritt, Junge, Junge, boy, oh boy, das Höchste der Gefühle, ich hab das von einem Augenzeugen, der damals so an die acht Jahre alt war, wenn ich mich nicht irre, es handelt sich um einen Mann schwäbischen Schlages (also damals war er dann wohl eher ein Junge schwäbischen Schlages), sagen wir deswegen mal ruhig, ich bin selbst mit dabei gewesen – und Falkenauge und Chingacook und all meine Mannen hier sind natürlich irgendwie mitgeritten, wenn man’s recht bedenkt. Okay, hinterher gelaufen. Fußvolk der Kulturgeschichte.

Von jenem legendären Staatsbesuch in Schwaben hält sich übrigens hartnäckig die Anekdote, so wurde mir ferner aus schwäbischem Mund berichtet, dass die Queen, die bei dieser Gelegenheit auch in die Schillerstadt Marbach "transportiert" wurde, und zwar im offenen Mercedes 600 Pullman-Landaulette, irgendwann gefragt haben soll: "And where are the horses?". Weil sie eigentlich keineswegs das am Neckar gelegene Marbach, sondern vielmehr dasjenige an der Lauter auf der Schwäbischen Alb im Sinn hatte, der Pferde wegen, versteht sich. Königliches, Allzukönigliches. Oder wie wir Untertanen am Ontariosee zu sagen belieben: royal stuff.

Herr Schiller hat es ihr aber nicht übel genommen. Ganz im Gegenteil. Er hat schnell sein Erhabenheitsdrama Maria Stuart hingekritzelt und es Seiner Majestät, der Queen gewidmet. "For Lizzy". Und natürlich hätte ihm die Queen ja mal mailen können, vielleicht hat sie das sogar wirklich getan, nur, wir wissen’s nicht genau: "Schiller, come here!" Vielleicht, nein, höchstwahrscheinlich hat sie’s getan. "Du sollst herkommen, hast du nicht g’hört? Und bring deinen Freund gleich mal mit, der soll mir was dichten, denn Shakespeare’s Geburtstag naht sich wieder, also macht schon, ihr schwankenden Gestalten!" Buckingham-Deutsch, versteht sich.

   Und wenn Wolfi dann aufs Neue in god old Leipzig schriftstellerisch adäquat ins Fässchen schaut, um unter Berücksichtigung des aktuellen Standes der Goetheforschung in Erfahrung zu bringen, wie aus a bisserl Sturm und Drang flugs recht viel Dichtung und Wahrheit wird, ist es ja durchaus angebracht, ihn als Leser, als Freund, als Kritiker, als meckernder Literatur-Herumschnüffler, als Kundschafter und Kulturmedizinmann beim kulturwissenschaftlichen Umtrunk zu fragen, wie’s so geht.

"Danke, es geht mir gut". So leicht klappt das. "Allein sie haben schrecklich viel gelesen." Dichtersprache. Ganz dicht. Sehr theatralisch. Logisch. Prologisch.

"Auf! Hinaus ins weite Feld! Rein in den dichten Urwald! Flugs über den Atlantik hinweg!" Wir spielen unsere Flöte, und schon ist er da, der Goethe.

Manchmal kommt einem bei all dem ergreifenden Goethe-Talk tatsächlich in den Sinn, es in Anlehnung an die königliche Schiller-Email, die wir uns hierin als Arbeitshypothese als unabdingbar wissenschaftlich erwiesenen und sprachpolizeilich hinreichend protokollierten Tatbestand vorstellen, unvermittelt nach Weimar und Leipzig anzurufen: "Goethe, komm her!" Nur, wenn man einen doppelten Goethe (also gewissermaßen eine Doppio Goethe) bestellt, sind es gleich drei Männer, die sich (sei es nun telefonisch oder per skype bzw. Rauchzeichen) zugleich melden: der jüngere Goethe, der ältere Goethe und der Goethekopf (den man sich in der Regel fälschlicherweise körperlos vorstellt, wobei er in Wirklichkeit natürlich sehr wohl einen Körper hat, und zwar einen Sprachkörper, einen recht stimmig klingenden Sprachkörper: das Deutsche. Unser Maß der Dinge, die man sagen kann.)

   Also der jüngere Goethe war jedenfalls voller Wucht, so wissen es die Zeitgenössinnen zu berichten (Goethes Erfolg bei den Frauen wird sogar als Werbung für Deutschkurse "eingesetzt"; na ja, also alles, war der Fall ist, würde der Medizinmann jetzt sagen). Und der ältere Goethe konnte zwar bei Gelegenheit a bisserl elegisch werden, doch ansonsten ließ doch gar manches Blatt, das er im Laufe der Zeit, der Goethezeit, unserer Zeit, wie nebenbei wendete, um uns Lesern, uns lesenden Freunden, zu zeigen, inwiefern Dichtung und Wahrheit auseinandergehen, wenn sich dar narrative Ich ernsthaft zusammennimmt, ein gewisses Aufjauchzen der Sinne durchblicken. Auf gut Deutsch? Klar: Wucht.

"Wir distanzieren uns zunehmend vom älteren Goethe", flüsterten mir Johann und Wolfgang vortrefflich synchronisiert zu, als ich sie mal unverbindlich fragte, wie das denn sei, wenn die Zeit vergeht. "Den ganz, ganz jungen Goethe, also sagen wir mal den voritalienischen Goethe, jaja, genau, das war vor der ersten Italienreise, bellissimo, was für Zeiten, da war noch der ganze Schwung da und die ganze Kraft und das Elementarische und die Natur, ja frische Luft, Brot, Milch und Eier vom Bauer, Blümchen, Beeren, Mädchen, also den können wir leiden. Aber the time has come, the Goethe-Jahrbuch says ... ja weg ist weg. Außer man kriegt einen Trunk."

   Wertschätzung ist in Sachen Goethe sehr wichtig, etwa die Wertschätzung des Schönen – und die richtige Einschätzung der Wertigkeit, so wie sie sich uns im Schönen offenbart. Und dabei sind nicht nur die Frauenzimmer gemeint, wiewohl etwa Fräulein Ulrike ... ja Ulrike, that’s different. That’s not Sturm und Drang. That’s …ach! Ulrike.

Denn alles was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht. Das hab ich wieder mal gut gesagt. So ... Epigonenhut weg ... Jemand da? Hallo? Ach so, Dr. Mephisto, der Privatdozent. Falsch Gebild und Wort verändern Sinn und Ort! Seid hier und dort! Der hält wohl schon wieder einen Vortrag zum Thema "Nichtlokalität des Daseins bei Johann und Wolfgang von Goethe". Oder er dichtet wieder was über die Weimarer Gespräche zwischen Goethe und den Brüdern Grimm (die waren ja auch in Weimar und sind da öfters zu geheimen business meetings mit dem Geheimrat gegangen). Wie gesagt: Zeiten. Weimarer Zeiten.

Mephisto hat jedenfalls, das kommt jetzt direkt aus Auerbachs Keller, in Faust I viel Unheil angerichtet und dabei geschäftlich sehr profitiert. Zwar ertönt am Endes des Stücks ein gewiss proaktiv gemeintes "Gerettet!", aber das kann den Geist, der stets verneint, nicht aus der Fassung bringen.

" – Sie ist gerichtet. – Gerettet." So lautet etwa der Wahlspruch seines Notdienstes für Privatversicherte. Und auch in Faust II kommt er verhältnismäßig gut davon. Nicht nur vermochte ihm die Wirtschafts- und Finanzkrise herzlich wenig anzuhaben, als er zusammen mit seinem Bruder, mit den Lehmanns und anderen Brüdern und Vettern einen zu dem Zeitpunkt allgemein als passabel empfundene Lösung der kaiserlichen Geldnot fand und sozusagen im Nu aus dem tristen Nichts einen stattlichen Batzen Geld "erwirtschaftete" ("Es fehlt das Geld? So schaff es denn!", hatte ihm sein Boss, der Kaiser, unvermittelt gesagt) – sein Gehalt als kaiserlicher Finanzberater schoss in die Höhe, bunte Kaiserwertscheine wurden auf dem laufenden Band gedruckt und die Dichter griffen zur Feder: "Geld! Mehr Geld!"

   Aber den Faust kriegte er bis zuletzt doch nicht. Der ging nach oben. Deswegen war Mister Mephisto eine Weile lang a bisserl down, wie er den freundlichen Damen seiner näheren Bekanntschaft verriet. So richtig mephistophelisch wirkte er allerdings auch dann nicht. Ein normaler Bürger, würde ich mal sagen. Einer, der auch ein paar rechtliche Verfahren gegen die Obrigkeit laufen hat.

So durch und durch mephistophelisch wirkt dabei diese G’schichte: Ein strenggenommen gar nicht so gut gebauter französischer Korporal, der einst auf die im wörtlichen Sinne bahnbrechende Idee kam, dass seine Soldaten ja ruhig a bisserl schneller marschieren könnten, die Faulenzer, soll, so geht das Gerücht, in jenen Zeiten, da der Zeitgeist noch in Weimar und Leipzig (und – weniger bekannt – in Erfurt) weilte, irgend einmal gesagt haben: "Den Goethe kann ich leiden. Sein Haus wird bitteschön nicht geplündert." Und das Haus wurde nicht geplündert. Gute Literatur ist eben gute Literatur.

"Den Napoleon kann ich leiden", hatte Goethe seinerseits bekundet, als ihm der Welteroberer über den Weg lief. "Really."

Ens realissimum heißt sowas – und im Land ob der Enns wird sogar berichtet, dass ein gewisser Napoleon Bonaparte, wer weiß, vielleicht war es ja derselbe, mal im Schloss Ennsegg einquartiert gewesen sein soll. Total real.

   Hier ein Foto: kleiner Korporal, großer Geheimrat. Die Achse Erfurt-Weimar. Vor dem Haus stand damals übrigens eine Frau, den Stadtplan in der Hand, das bebende Herz in der Brust. Sie hatte, wie wir Nachgeborenen heutzutage wissen, schon damals vor, das Originalgenie zu heiraten. Ein Frauenplan.

Trinken wir drauf. Denn wäre Goethes Haus in Weimar anno 1808 geplündert worden (unser Faust wurde übrigens in jenem Jahr veröffentlicht), hätten wir jetzt keine Aneignungsg‘schichte, sondern bloß ein Klagelied. "Herr Ober! Noch einen Napoleon! Nein, zwei. Zwei doppelte!"

Der Schenk tut seine patriotische Pflicht, und wir schauen uns wieder die historischen Begegnungen zwischen den zwei Männern an, dem Kaiser und dem Dichter. Aber das Foto ist natürlich kein Original, sondern eine Nahaufnahme eines aufgrund der Erinnerungen maßgebender Augenzeugen erstellten Bildnisses, von dem wir heutzutage freilich wissen, dass es mehrere Male dem jeweils in der Epoche geltenden rückblickenden Erwartungshorizont entsprechend verändert wurde. Im großen Ganzen dürfte aber alles stimmen – und das Foto wurde übrigens vom Kulturminister beglaubigt; denn es ist sehr schön.

   Die Familie, bei der wir damals in good old Sankt Veit wohnten und bei der also wie gesagt auch Helge mitsamt seinem kleinen anmaßend herumkommandierenden Bruder und den Eltern zur gleichen Zeit logierte (großer Bauernhof, alles in bester Ordnung), hieß übrigens Grimm. Und es gab mehrere Brüder in der Familie. Die Brüder Grimm.

"Sind das wirklich die Brüder Grimm?", wollte mein größerer Bruder wissen. "Nein, natürlich nicht, meinte unser Vater." Aber er hatte natürlich nicht recht. Denn es waren ja die Brüder Grimm.

Über Bauernhof und Alm spürtest du keinen Hauch. Das waren Zeiten! … Defereggentalzeiten. Quo tempore, wie unser Medizinmann sagen würde. Und Goethe selber hat sich wie bereits erwähnt ebenfalls gerne auf Reisen begeben, etwa ins deutschsprachige Rumänien, was aber nicht in der Gesamtausgabe steht, denn es handelt sich natürlich um geheime Infos.

Das war so: Man hat ihn gerufen, und er ist gekommen. Einmal, aber es ist ja schon eine Weile her, veranstaltete der Schwabenclub in Sărata ein Himbeerenfest zu Ehren des Meisters der deutschen Dichtung, der, so die lokalen Kundschafter und Ländlestreicher, vor ein paar wenigen Jahrhunderten ebenda, in den Himbeeren, Lotte geküsst hat. Das war eine gute Sache. Denn in Salzdorf gibt es die allerbesten, allerschönsten Himbeeren, und alle Siebenbürger Sachsen und alle sieben Schwaben und all die internationalen Touristen mit ihren interkulturellen Kisten kommen her und sagen ein paar Goethegedichte auswendig und wollen sich was einschenken lassen, einen Süßmost oder einen Obstler oder so … und Sorgenbrecher sind die Himbeeren. Dazu reichlich Feuerwasser der siebenbürgischen Sorte für die wackeren Krieger vom Stamm der Hessen – und selbstverständlich auch für die wackeren Krieger vom Stamm der Schwaben (Die Schweizer gehören dabei zwar an und für sich strenggenommen zum Stamm der Schwaben, würd‘ ich mal kurz axiomatisch hinstellen, aber es darf, wie im folgenden Zitat eindeutig erwiesen, im Schweizerischen Falle mal ruhig auch a bisserl Himbeeressig sein). Man schreibt das Jahr 1774. Lavater schreibt in sein Tagebuch: "Goethe ein Glas Wein, ich Himbeeressig!" And that’s only the beginning of the story.

   Und wenn Mephisto das Feuer bespricht, nennt er es freundlich Element. Das will schon was heißen. "Goethe, alter Kumpel. You’ve got it right!", schreie ich über die weiten kanadischen Wälder hinweg, ein loon ahmt meinen Schrei nach, den Kulturschrei eines so durch und durch zeitgemäßen Goethe-Manns. Natur! Natur! Nichts so Natur als Goethes Umgang mit den Elementen! Ach! Herr Shakespeare! Aber natürlich.

Mein Goethe. Mein Freund. Wie gesagt, du kannst es. Und diesen schönen Band von dir steck ich in meine Hosentasche. So ... Besitz und Bildung. Eine klassische Hosentasche.

"Komm!", höre ich eine Stimme in mir, die zugleich aus Leipzig und aus Weimar bis tief in die Gegenwart meiner Gedanken zum Thema Kraftkerl und Originalgenie vorzudringen scheint. "Lesezeit." Goethezeit will das wohl heißen. Ich setzte mich ins Auto und fahre Richtung Goethe. Das Ziel meiner Reise ist weit entfernt. Ob ich es wohl je erreichen werde? Ein Abstecher bei Landzeit kann nicht schaden. Sonst schafft man das nie. Alles frisch aus dem Garten. "(…) Hellenen in jedem Weibe. Dirigent: Mephisto von Liebestrunk."

Wie stellt man das Ding ab? "I need a drink." Keine Ahnung, warum ich das gesagt habe. Wird wohl das Ich in mir gewesen sein, Sie wissen schon, jenes Ich. Doch naht sich da nicht gerade jemand? "My cousin is going to give you the fix."

   Und irgendwann fange ich dann schließlich tatsächlich an zu lesen. Ja, stimmt, ich hätte schon früher mit dem Lesen anfangen sollen. Doch es ist nicht zu spät. Zeit hamma. Die Goethezeit. Die Schillerzeit. Die Auszeit, die Zeit des Geistes. Und all die anderen Zeiten, die hinter diesem Begriff, Zeit, stecken. Und wenn ich dem Augenblicke sage, verweile doch, du bist so verdammt schön, dann bin ich bis auf Weiteres mal kurz mit dem Lesen fertig. Dann wollen wir wieder gehn. Dann mag die Goetheglocke schallen, was das Zeug hält.

Ausdrucken?

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