In
Deutschland geliebt, daheim gehasst. So sieht der faktische wie selbst
benannte "Realitätenvermittler" Karl Ignaz Hennetmair, ehemals Freund von
Thomas Bernhard, sich selbst.
"Projektiv", mag der Germanist, der seine Platzierung im
literaturwissenschaftlichen Umfeld kennt, denken. Denn fast reduziert zum de
facto-"Realitätenvermittler", ist der Makler der Bernhardschen Häuser in die
Geschichte, in die nur überlieferte Realität, eingegangen. Er nahm dann die
Bedeutungserweiterung des Begriffs, den der Dichterfreund ihm zuvor für
Selbstdarstellungszwecke abgeluchst hatte, für seine eigenen zurück, so
scheint es. Eine andere Möglichkeit ist, dass Bernhard ihm einen Spielball
geschickt zugespielte und hinter der Verbindung ein außergewöhnliches
gegenseitiges Verstehen steckt.
Vertraut und verletzt
Hennetmair
war ein besonderer Vertrauter
Bernhards. Das geht aus seinem in
Österreich oft belächelten, in Deutschland hoch gelobten "versiegelten
Tagebuch" über die gemeinsam verbrachte Zeit um 1972 hervor und drängt sich
auf, lässt man sich auf ihn ein. Kein alter Herr, der sich als Auserwählter
wähnt, vielmehr derjenige, zu dem Bernhard flüchtete, mit dem er täglich
Stunden verbrachte, von dem er sich etwas sagen ließ. Neben all den
Abkömmlingen der High Society um sich herum fand er in Hennetmair einen
blitzgescheiten Menschenkenner, dessen Rat er suchte.
Vor einigen Jahren ist ein hübsches Interview von Max Bläulich mit
Hennetmair erschienen (Das größte Scheusal, das mir je untergekommen
ist. Karl Ignaz Hennetmair über Thomas Bernhard. Im Gespräch mit Max
Blaeulich, Salzburg 2002). Bläulich
stellt einige Fragen, die dem Leser des "versiegelten Tagebuchs" geblieben
sind. So auch die nach der Entzweiung der beiden. Laut Hennetmair beruht sie
auf einer Verleumdung seiner selbst, wobei er
Bernhard in der Vergangenheit
gesagt habe, dass er mit ihm brechen würde, falls er selbst einmal zu den
Beleidigten gehören würde – der Misanthrop hatte sich im Verletzen anderer
Menschen bekanntlich nie ein
Blatt vor den Mund genommen.
Vielleicht ist es ein Bernhardscher Test gewesen und später Hennetmairs
Wille, konsequentes Verhalten zu zeigen, jedenfalls verzieh er Bernhard auch
nach Jahren nicht, als der Taufpate seines Jüngsten mit der Erzählung "Ja"
wieder aufkreuzte. Sie ist eine Reminiszenz an den Freund und gilt als sein
erstes autobiografisches Prosawerk.
Projektionen
Ist es trotzdem
"projektiv", die Selbstbezeichnung zu wagen? Weil
Bernhard sich spätestens für sein
Hauptwerk, die "Auslöschung", die Bezeichnung schnappte und in "Ja"
Realitäten nur als Immobilien-Angelegenheit der Figur "Moritz", sie ist dem
echten Makler zugedacht, sein ließ? Man muss genauer lesen, um zu erkennen,
dass Bernhard die Rollen nicht simpel verteilte. Er wusste von den
Briefwechseln von Peymann bis Suhrkamp, Notizen und Aufzeichnungen, die
Hennetmair von ihm besaß. Alles unverfremdete Realien, und, wie man bei
Bläulich lesen kann, hatte Bernhard gar die Autorisierung der
Hennetmairschen Sammlung angeboten und gibt es bis dato nicht transkribierte
Tonbandaufnahmen. Der Dichter hatte den Makler zum Realitätenvermittler in
einem zweiten Sinn gemacht.
Von "Moritz" heißt es, dass er derjenige gewesen sei, mit dem er alles
besprechen konnte. Eine Auszeichnung also, der "Realitätenvermittler" ist
mit Bedeutung bereichert und auf Hennetmair zurückprojiziert worden.
"Germanistenarbeit" sagt Hennetmair abweichend, fragt man Punktgenaues nach,
"für die Nachwelt". Im Interview mit mir berichtet er abschweifend und
assoziativ über die gemeinsame Zeit vor und nach 1972, exponiert dabei
Unklarheit, aber oft gewollt. Man ahnt, dass Hennetmair Schriftliches
hinterlässt und erhält ein vielsagendes Schweigen auf die Frage danach.
Marginalisiert
In
Österreich wird er marginalisiert, eine Folge des Ausschlusses aus der
Bernhard-Society. Mit dem eigentlichen Grund darüber hält er indessen nicht
still. Hin und wieder beschuldigt er den Halbbruder Bernhards, Peter Fabjan,
Arzt und Begründer der internationalen Bernhard-Gesellschaft, dem
schwierigen Geschwister das Sterben erleichtert zu haben. Dabei mag er
Schlimmeres denken als das, was die interessierte Öffentlichkeit ohnehin
schon weiß. Siehe Zusammenhänge und Andeutungen in der wissenschaftlichen
Literatur.
Wenn man etwa in der Bernhard-Biographie von
Joachim Höll innerhalb eines
Absatzes liest, dass Fabjan sagt, er hätte getan, was jeder Arzt in so einer
Situation getan hätte – Bernhard wäre bald am Ersticken gewesen, wird aus
dem Kontext deutlich – weiter, dass der Patient, der gar nicht herzkrank
war, am nächsten Tag in der Frühe einem Herzleiden erlag, ja dann reimt man
sich zusammen.
Der Feinfühlige mag denken: Aha, hier ist die vorsichtige Formulierung
angebracht. Die Nachwelt determiniert Gewichtigkeit bzw. das Maß der
notwendigen Nivellierung durch den Ton. Warum Hennetmair sich damit nicht
zufrieden geben kann und nicht auslässt, was in einer Euthanasie-Debatte
ethisch statt germanistisch zu diskutieren wäre, bleibt ebenso
verschwiegen. Er selbst erhält gar keine Antwort, kein Dementi, nur
Ignoranz. Auch auf die Frage, wie viele Wochen, Tage oder Stunden Bernhard
noch gehabt hätte, findet man keine Antwort.
Tatsache
und Reim
Doch
da ist noch etwas anderes. Es drängt sich der Verdacht auf, als meine der
Vermittler sich im Auftrag seines Meisters voranzutasten. Im Sinne der
Realitätenvermittler dürfte das aber wohl nur mit klarer Sprache, direkt
möglich sein, auch provokant, in einer Gesellschaft, die einen zu Lebzeiten
umbringt und den ungefährlichen Toten glorifiziert. Nicht wundern darf er
sich daher über den Ausschluss.
Und anderes reimt er sich
zusammen. Oder es klingt wie ein Reim, wie ein realistischer obendrein. Geht
es nach Hennetmair, war der als Freitod getarnte letzte Moment aus dritter
Hand der handfeste Plan Bernhards, am Todestag seines geliebten Großvaters
zu sterben. Weiter noch: Er wittert einen Racheakt am Halbbruder. Sich
nämlich so eine verhängnisvolle Aufgabe aufbürden zu lassen, das haftet,
meint er, und damit wusste und plante Bernhard, glaubt er.
Ob eine Wahrheit für die
Nachwelt Relevanz hat, kommt auf den gesellschaftlichen Streitgehalt an. Und
zuvor kommt es noch auf das an, was eine mächtigere Instanz an der
Öffentlichkeit zulässt. Etwas stößt jetzt dem Germanisten auf, der weiß, wie
wichtig sein Großvater
Johannes Freumbichler für Bernhard
gewesen ist. Seine Sterbestunde soll auf den vierzigsten Todestag des alten
Herrn datiert worden sein. Verdächtig? Nicht ohne Weiteres.
Irrelevant?
Angenommen,
es ist so gewesen: Käme der zweite "Realist" als verschworener Anwalt des
ersten durch? Eher nicht, denn jetzt tritt die Irrelevanz dazwischen. Der
Arzt, das muss man mutmaßen, wusste, was er tut. Bleibt man hier nun stehen,
hätte Hennetmair seinen "Realitätenvermittler" also verspielt: Sterbehilfe
wäre nicht germanistisch relevant.
Und jetzt bräuchte der
Germanist Material wie Gründe, um mehr sagen zu können. Beides sucht er. Es
ist aber nicht wie in der Literatur, sondern wie im Kriminalfall. Es ginge
um Zeugen und Beweise. Und Bernhard wirft ihm sein Paket vor die Füße, doch
nur ihm, dem Germanisten, und leider in der ungeliebten Rolle des Auslegers.
Also wirft er es nur vielleicht vor die Füße. In "Ja" zum Beispiel. Da
nämlich steht so leicht, was sich als Vermächtnis an Hennetmair zusammenreimen lässt. Die Protagonistin, um welche die Erzählung sich neben dem
Autor-Ich Bernhard dreht, eine Perserin, vermittelt durch Moritz, bringt
sich am Geburtstag des Autors – auf genau eine Woche nach dem realen
Todestag des Großvaters datiert – um. Tatsächlich hatten Bernhard und die
Perserin Gespräche über den Freitod geführt. Später wählte sie ihn.
"Blödsinn", schallt aus
allen Ecken, wo die Indizien fehlen und wo etwas geschützt werden soll. Was
wiegt, ist die Tatsache, dass es schützenswert ist. |