
(c) Blazenka Kostolna
Hans Durrer
contact [at] hansdurrer.com
geboren
1953 in Grabs (Schweiz), studierte Rechts-
wissenschaften (in Basel),
Journalistik (in Cardiff) und
angewandte Linguistik (in
Darwin); ist der Autor von
"Ways of Perception: On
Visual and Intercultural
Communication" (White
Lotus Press, Bangkok
2006).
Homepage
www.hansdurrer.com
Blog
durrer-intercultural.blogspot.com

Philip Gourevitch, Errol
Morris.
Die Geschichte von
Abu Ghraib.
Hanser, 2009, 304 S.
ISBN: 3446232958
"Ich hatte Dutzende Inter-
views und Regierungs-
dokumente –
auf diese
Weise konnte ich zeigen,
dass die meisten der
schlimmsten Vorfälle
in Abu Ghraib nicht
foto-
grafiert worden
waren."
(Philip Gourevitch)
Dieses Buch ist nicht
zuletzt deshalb so
überzeugend, weil es
von einer (gelegentlich
geradezu obsessiven)
Detailgenauigkeit ist, die
ihresgleichen sucht.
Im Leichenschauhaus
von Al Hilla beugt Sabrina
Harman sich über eine
der geschwärzten Leichen:
"Sie lächelt – ein gezwun-
genes, aber liebliches
Lächeln – und hält ihre
rechte Hand, zur Faust
geballt und mit aufge-
stelltem Daumen, hoch."
"Der sichtliche Beweis:
das Dargestellte als Mittel
der Vertuschung".
(Philip Gourevitch)
Die Fotos können uns
nicht zeigen, dass die
wirklich Verantwortlichen
für die Vorkommnisse in
Abu Ghraib in Washington
saßen. Doch sie können
uns anstiften, Fragen zu
stellen, denn es sind
häufiger Fotos als Worte,
die uns im Gedächtnis
bleiben.
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Bei
Abu Ghraib, dem dreißig Kilometer von Bagdad entfernt gelegenen und
einstmals größten und berüchtigsten von Saddam Husseins Gefängnissen,
stellen sich heutzutage bei den meisten wohl unweigerlich die Bilder im Kopf
ein, die amerikanische Armeeangehörige im Jahre 2004 von dort gefangen
gehaltenen Irakern gemacht haben. Etwa von dem Häftling mit der übers
Gesicht gezogenen Kapuze und Elektroden an den Händen, oder von Soldat
Charles Graner, der in triumphierender Pose hinter einer Pyramide
aufgestapelter nackter Inhaftierter zu sehen ist. Am 29. Mai 2009
veröffentlichte der Zürcher Tages-Anzeiger in seiner Online Ausgabe
einen Text von Philip Gourevitch, in dem er sich zu diesen Fotos äußerte:
"Fünf Jahre
später sieht sich Amerika erneut mit einer Debatte über die
Veröffentlichung von Fotos konfrontiert, die zeigen, wie unsere Soldaten
'Verhörtechniken' der Regierung Bush in Abu Ghraib und anderswo
anwenden. Barack Obama, dessen erster Akt als Präsident es war, Folter
wieder als kriminell einzustufen, befürwortete anfänglich eine
Publikation der Bilder. Dann änderte er seine Meinung. Seine Kritiker
sagen nun, damit unterscheide ihn nichts mehr von seinem Vorgänger.
Diese Stimmen irren sich. So wie es vor fünf Jahren ein Dienst an der
Öffentlichkeit war, die Fotografien zu veröffentlichen, so Recht hat
Barack Obama heute, wenn er sagt, wir bräuchten nicht noch mehr solcher
Aufnahmen zu sehen. Er argumentiert, dass sie nur unsere Truppen in
Afghanistan und im Irak gefährden würden. Dabei gibt es keinen Zweifel:
Die Politik, deren Ausdruck diese Fotos sind, haben der Sache Amerikas
bereits unermesslich geschadet."
Dass die
Veröffentlichung dieser Fotos die amerikanischen Truppen in Irak und
Afghanistan gefährden würden, kann als sicher gelten (auch wenn die weit
größere Gefährdung für diese Truppen, abgesehen von ihrer Präsenz vor Ort,
vermutlich von den sogenannten Kollateralschäden ausgeht), doch galt und
gilt dies ja genauso für die Fotos von 2004. Gourevitch führt aus: Er habe,
als er sein Buch über diese Soldaten schrieb, viel mehr Fotos gesehen als je
veröffentlicht wurden, doch habe er sich entschieden, um "die Geschichte der
Bilder am effektivsten zu erzählen … keines im Buch abzudrucken. Ich hatte
Dutzende Interviews und Regierungsdokumente
–
auf diese Weise konnte ich zeigen, dass die meisten der schlimmsten Vorfälle
in Abu Ghraib nicht fotografiert worden waren."
Dass
die Fotos von Abu Ghraib nicht das Schlimmste zeigen, was in diesem
Gefängnis vorgefallen war, demonstriert Gourevitchs Buch eindrücklich, doch
kann man die Geschichte dieser Bilder wirklich am effektivsten erzählen,
indem man sie nicht zeigt? Gourevitch illustriert sein Argument unter
anderem wie folgt: Eines der Fotos zeigt eine über und über mit Blut
verschmierte Zelle, es sieht aus wie in einem Schlachthaus. Das Foto als
Foto sagt uns nichts anderes, als dass wir eine blutverschmierte Zelle vor
Augen haben. Um zu verstehen, was wir sehen, müssen wir die Geschichte
hinter dem Bild kennen und diese geht so: Eines Nachts schmuggelte ein
irakischer Gefängniswärter eine geladene Pistole in die Zelle eines
Gefangenen. Die Militärpolizisten erfuhren davon von einem Informanten. Als
sie die Waffe sicherstellen wollten, begann der Gefangene zu schießen.
Daraufhin schossen ihm die Soldaten in die Beine. Außer dem Gefangenen wurde
niemand verletzt. Wer dieses Bild, ohne die Geschichte dazu, in einer Reihe
von Folterbildern sehe, für den sei offensichtlich, so Gourevitch: "Dieses
Bild zeigt die unaussprechlichen Folgen."
Nun, wer dieses Fotos sehen will, sagt damit ja nicht, dass er es
de-kontextualisiert sehen will, denn es versteht sich: Bilder gehören in dem
ihnen entsprechenden Zusammenhang gezeigt. Zudem: Bei Fotos, die als
Dokumente (und mithin als Beweismittel) eingesetzt werden, gehört immer die
Geschichte, die Auskunft gibt über die Entstehung der Bilder, mit dazu,
genauso wie Informationen darüber, was man auf den Bildern nicht sieht, denn
Fotos können für sich genommen nun einmal (ganz entgegen landläufiger
Auffassungen) keine Geschichten erzählen. Andererseits: Was spricht dagegen,
dieses Foto, zusammen mit der dazugehörigen Geschichte, zu veröffentlichen?
Sicher, es ließe sich auch andersrum fragen: Braucht es zu dieser Geschichte
eigentlich noch ein Foto? Ja, das braucht es, weil, was uns gezeigt wird,
uns nachhaltiger beeinflusst als das, was wir uns nur vorstellen. Zudem:
Erst wenn wir ein Bild dieser Zelle vor uns sehen, können wir uns gewiss
sein, dass wir dieselbe Zelle meinen.
***
Gourevitch,
Redakteur der Paris Review und Autor des New Yorker, hat mit
seinem sehr informativen, bei Hanser erschienenen "Die Geschichte von
Abu Ghraib", einer enormen Fleißarbeit, die auf Hunderte von Stunden mit
Interviews und Tausende von Dokumenten zurückgreifen konnte, die Errol
Morris für seinen Film Standard Operating Procedure gesammelt hat,
ein eindrückliches Werk vorgelegt.
Übrigens: Standard Operating Procedure: A War Story heißt der
englische Originaltitel und trifft weit besser wovon dieser Text handelt als
"Die Geschichte von Abu Ghraib", denn eine solche müsste doch eigentlich
auch Iraker und nicht nur Amerikaner zu Worte kommen lassen. Doch dies ist
in diesem Buch nicht der Fall: Hier beschäftigen sich die Amerikaner, wie
wir das auch von unzähligen Büchern über den Vietnamkrieg kennen, bei der
Aufarbeitung ihrer Geschichte mit sich selber. Dabei herausgekommen ist ein
erschütterndes und zutiefst verstörendes Buch, das das Bild einer Armee
zeichnet, deren Übergriffe und Verbrechen all die Werte, für die sie
angeblich kämpft, bestenfalls als zynischen Witz erscheinen lässt. Die
Rechtsverletzungen waren brutal, systematisch, von höchster Stelle
abgesegnet und wurden nirgendwo schriftlich festgehalten – selten hat man so
eindrücklich vorgeführt gekriegt, dass offizielle Verlautbarungen offenbar
selten etwas anderes als PRopaganda sind. Zudem: Dieses Buch ist nicht
zuletzt deshalb so überzeugend, weil es von einer (gelegentlich geradezu
obsessiven) Detailgenauigkeit ist, die ihresgleichen sucht. So erfahren wir
etwa von Sabrina Harman, die viele der Fotos gemacht hat, dass sie zur 372.
Militärpolizeikompanie, einer Reservereinheit der US-Army aus Cresaptown in
Maryland gehörte, am 1. Oktober 2003 in Abu Ghraib eintraf, und zur
Militärpolizei gegangen sei, "weil die Armee ihr dafür ein Stipendium anbot
und weil sie später einmal zur Polizei gehen wollte. Auch ihr Vater und
Bruder dienten bei der Polizei. Ihr Wunschberuf sei Gerichtsfotografin.
Fotos hätten sie schon immer fasziniert – das Aufnehmen ebenso wie das
Aufgenommenwerden. Sie habe ein Album mit Schnappschüssen von sich selber
angelegt: als Baby neben dem Hund auf einem grün karierten Sofa liegend; als
Kleinkind in Windeln mit blauer Strickmütze neben einem gelben Telefon
sitzend, den Mund vor Wonne weit geöffnet; als Vier- oder Fünfjährige mit
ordentlich gekämmtem kurzen Haar, die im eleganten Rüschchenkleidchen mit
weißen Strümpfen und Handschuhen auf einem grünen Teppich kniet, dahinter
eine Studiokulisse in voller Kirschbaumblüte; als lachendes Mädchen, als
Pony reitendes Mädchen, als Mädchen mit Welpe, als Mädchen mit Stofftier,
als Mädchen mit Pferd …" –
und so geht das noch ein halbe Buchseite weiter.
Haman
ist auch im Irak auf Fotos zu sehen: im Leichenschauhaus von Al Hilla zum
Beispiel, über eine der geschwärzten Leichen gebeugt: "Sie lächelt – ein
gezwungenes, aber liebliches Lächeln – und hält ihre rechte Hand, zur Faust
geballt und mit aufgestelltem Daumen, hoch."
"Die Fotos betrügen uns", hat Ko-Autor Morris am 14. Mai 2009 der
Online-Ausgabe der Süddeutschen zu Protokoll gegeben: "Wir schauen
sie an und glauben zu wissen, was sich in Abu Ghraib abgespielt hat. Doch
wir wissen nichts … Wir wissen nicht, wie es zu diesen Fotos kam, wer die
Häftlinge misshandelt hat, wer es befohlen hat. Wir wissen nicht einmal, ob
die Bilder überhaupt die signifikanten Vorgänge zeigen. Vielleicht zeigen
sie die schlimmsten Szenen, vielleicht zeigen sie aber nur die Spitze eines
Eisberges. Die Bilder erwecken die Illusion, dass nur die paar Leute, die
mit auf den Bildern sind, die Täter sind
–
was sicherlich nicht die Wahrheit ist."
Morris irrt, denn wer sich beim Betrachten dieser Fotos solche (und
ähnliche) Gedanken macht, den können diese Fotos nicht betrügen. Und auch,
wenn viele von uns über Fotos nicht in dem Maße nachdenken, wie sie es tun
sollten, wenn sie nicht zu Foto-Opfern werden wollen, so ist es doch wenig
wahrscheinlich, dass man sich zu solchen Fotos überhaupt keine Fragen
stellt. Zudem: Ob diese Bilder wirklich die von Morris behauptete Illusion
erwecken, nun ja, wer kann das schon wissen (nicht jeder fällt auf die
Standard-Rechtfertigung der politisch Verantwortlichen, dass es halt immer
ein paar faule Äpfel gebe, herein), doch dass wir nur die Namen etwa von
Korporal Charles Graner "Der sichtliche Beweis: das Dargestellte als Mittel
der Vertuschung" kennen, formuliert Gourevitch treffend.
Sicher,
Gourevitch hat Recht, die Fotos können uns nicht zeigen, dass die wirklich
Verantwortlichen für die Vorkommnisse in Abu Ghraib in Washington saßen.
Doch sie können uns anstiften, Fragen zu stellen, denn es sind häufiger
Fotos als Worte, die uns im Gedächtnis bleiben und die dafür sorgen, dass
wir nicht einfach wieder schnell zur Tagesordnung übergehen können, denn
Fotos setzen Emotionen in einem Maße frei wie das Worte nicht vermögen. Das
wissen sowohl Militärs als auch Politiker, die ihnen nicht genehme Bilder
bekanntlich ganz grundsätzlich fürchten – und selten aus den offiziell
geäußerten Gründen.
PS: Im Jahr 2004, in einer Rede vor der American Civil Liberties Union über
die Abu Ghraib-Fotos, rang Seymour Hersh, der wie Gourevitch für den New
Yorker schreibt, sichtlich um Worte ob des Grauenhaften, das er zu
berichten hatte: Auf einigen Videos seien Frauen zu sehen. "The women were
passing messages out saying 'Please come and kill me, because of what's
happened' and basically what happened is that those women who were arrested
with young boys, children in cases that have been recorded. The boys were
sodomized with the cameras rolling. And the worst above all of that is the
soundtrack of the boys shrieking that your government has."
Will
das wirklich jemand sehen und hören? Ich für meinen Teil will es nicht.
Zugänglich gemacht werden muss dieses Bildmaterial trotzdem (und zwar noch
zu Lebzeiten der direkt und indirekt Schuldigen), denn dass die damals dafür
Verantwortlichen von den heute Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen
werden, ist ohne solch öffentlichen Druck mehr als unwahrscheinlich.
Eine redaktionell bearbeitete Fassung erschien
unter dem Titel "Es war noch viel schlimmer" in
Die Gazette, München, am 15. September 2009
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