"Du musst dein
Leben ändern"
(Rainer Maria Rilke: Archaïscher Torso Apollos)
1.
Einführung
"Was
wahr und falsch ist, werd ich jetzt besser wissen. Ich bin schon einmal
auf ein Wort reingefallen, ich habe es bitter bezahlen müssen, nochmal
passiert das dem Biberkopf nicht."(1)
Die
zitierten Sätze stammen aus jenem Abschlusskapitel von Alfred Döblins
"Berlin Alexanderplatz", in dem sich gegen Ende der
Weimarer Republik die mächtigen Flügel dieses Romans gewissermaßen zum
symbolträchtigen Warnflug eines Adlers entfalten:
"Und
damit stürzt zusammen der alte Franz Biberkopf, es ist beendet sein
Lebenslauf. Der Mann ist kaputt. Es wird noch ein anderer Biberkopf
gezeigt, dem der alte nicht das Wasser reicht und von dem zu erwarten
ist, daß er seine Sache besser macht. […] Da rollen die Worte auf einen
ein, man muß sich vorsehen, dass man nicht überfahren wird, passt du
nicht auf auf den Autobus, fährt er dich zu Apfelmus. Ich schwör sobald
auf nichts in der Welt. Lieb Vaterland, kannst ruhig sein, ich habe die
Augen auf und fall so bald nicht rein. […] Wenn Krieg ist, und sie
ziehen mich ein, und ich weiß nicht, warum, und der Krieg ist auch ohne
mich da, so bin ich schuld, und mir geschieht recht. […] Wach sein,
Augen auf, aufgepasst […], wer nicht aufwacht, wird ausgelacht oder zur
Strecke gebracht." (2)
Was hat dies mit unserem
Thema zu tun? Ich vergegenwärtige mir eine verstörende Gesprächssituation
während des Sommersemesters 1994 mit dem damals als Honorarprofessor der
Universität Salzburg tätigen Hans Schwerte. Wir hatten gemeinsam ein
literaturwissenschaftliches Blockseminar geleitet, in dem Werke von Thomas
Mann, Hermann Broch und Alfred Döblin zur Debatte standen. In einer
Seminarpause ging der Gedankenaustausch weiter – wir sprachen über das
Döblinsche "Augen auf, aufgepaßt" und seine möglichen Adressaten während der
Weimarer Republik, als es mir, räsonierend über damalige politische
Verhältnisse und vorlaut selbstgewiss, einfiel anzumerken: "Nein, in die SS
wäre ich sicher nicht eingetreten." Schwerte reagierte auf unerhörte Weise.
Er fuhr plötzlich seinen Zeigefinger auf mich aus und rief hoch erregt aus:
"Das, Herr Dr. Müller, sollten Sie nicht sagen! Wie können Sie das sagen!"
Wie
hätte ich ahnen können, dass ich Schwertes Lebensthema, seine bis dahin
nicht aufgedeckte, aber, wie man heute weiß, einigen wenigen seit geraumer
Zeit bekannte, aber nicht öffentlich gemachte Maskierung, seinen
Namenswechsel des Jahres 1945 von Hans Schneider zu Hans Schwerte,
vielleicht sein Lebenstrauma gestreift hatte. Ich hatte in diesem Augenblick
– retrospektiv betrachtet – wahrscheinlich mit jener in Hans Schwerte
aufbrechenden Instanz des SS-Mannes im "Persönlichen Stab des Reichsführers
SS" Heinrich Himmler und seit Mitte 1942 Abteilungsleiters des sogenannten
"Germanischen Wissenschaftseinsatzes" im "Ahnenerbe"(3) der SS (Dienstsitz Den
Haag und Berlin) zu tun, mit SS-Hauptsturmführer Hans Ernst Schneider. Als
solcher wurde er 1909 in Königsberg und nicht 1910 in Hildesheim, wie er
seit dem Ende des Krieges vortäuschte, geboren. Mit Hilfe von Helfern des
Sicherheitsdienstes (SD) der SS – die Nähe Schneiders zum SD der SS war
intensiv –, die ihm falsche Papiere ausstellten, konnte Schneider den Namen
Hans (Werner) Schwerte annehmen – Schneiders Anmeldung unter diesem
Tarnnamen datiert vom 2. Mai 1945.(4)
Begeben wir uns also auf
ein in mehrfacher Hinsicht bedrängendes, ja in Teilen als kriminell
geltendes, jedenfalls auf ein komplexes Terrain von Zeit-, Geistes-, Kultur-
und Wissenschafts- sowie letztlich prekärer Maskierungs- und
Verwandlungsgeschichte, und zwar im Lichte von Schneiders/Schwertes Texten
der unterschiedlichen Art, essayistischen, literaturtheoretischen und
-historischen sowie literarischen seit den 1930er Jahren. Fragen nach den
inhaltlichen Aspekten von Schneiders/Schwertes Metamorphose(n) sowie nach
dem Grad, nach Umfang und den Relationen der Metamorphosen zueinander wurden
bisher nicht oft gestellt und selten aus Schneiders/Schwertes diversen
Schriften heraus entwickelt.
Es
soll der Versuch unternommen werden, aus Schneiders/Schwertes Texten die
spezifische innere Bewegung, das Diskontinuierliche bei personaler
Kontinuität ebenso wie das Kontinuierliche bei äußerer Diskontinuität im
Leben eines Mannes zu erhellen, von dem einige behaupten, er sei in einem
langwierigen Prozess des Identitätswandels, in einer Art
Selbstentnazifizierungs-Versuch von einem durchschnittlichen
SS-Intellektuellen und SS-Weltanschauungsfachmann zu einem glaubwürdig
konvertierten Mann des Geistes und der Aufklärung geworden.
Ich möchte zu Beginn
festhalten, dass ich dieser Auffassung im Lichte der Texte
Schneiders/Schwertes viel abgewinnen kann und meine, dass sich Schwertes
zunehmend analytische Wahrnehmung und immer intensivere kulturhistorische
Verortung literarischer Phänomene, aber auch seine an einigen Stellen
ausgesprochen "unausgewogenen", insistierend vorgetragenen Positionierungen
im germanistischen Interpretationsgeschäft hochwahrscheinlich aus seinem
"Lebensthema" speisen.(5)
Zur Diskussion steht
jedenfalls "das ungewöhnliche Leben eines Mannes, der aus der Geschichte
lernen wollte"(6), eines "SS-Saulus", der, wie sich sein erster kritischer
Biograph Claus Leggewie ausdrückt, zum "BRD-Paulus"(7) gewandelt habe. War die
spezifische Metamorphose Schneiders zu Schwerte nur unter der Voraussetzung
der Tarnung möglich? Was beförderte die Maskierung an persönlicher
Entwicklung – was wurde durch sie verhindert? Maskierung und fehlendes
Schuldeingeständnis bis zur Demaskierung zu Beginn der 1990er Jahre,
nicht-öffentliches Bekenntnis zur eigenen SS-Vergangenheit als Voraussetzung
für eine Karriere in der Bonner Republik, die Lebensgeschichte eines
"Aufklärers ohne Selbstaufklärung" unter der schützenden Maske, wie andere
meinen – darum kreisen die Debatten um Schneider/Schwerte ebenso wie – sehr
ausgiebig – um institutionelle Strukturen und allgemeine Bedingungen des
Wirkens Schneiders/Schwertes.
Handelt
es sich um einen Fall von "Lebensfeigheit" eines SS-Wissenschaftsmanagers(8) in
Heinrich Himmlers "Ahnenerbe", um einen Menschen, der seit 1945 den
Demokraten gespielt habe, um "ein abgekartetes Stück Nazi-Kontinuität"?(9) Oder
geht es doch um einen, der zum glaubwürdigen Demokraten wurde, um die
"Geschichte einer säkularen Konversion"?(10), um eine gelungene
"Entnazifizierung im Selbstversuch."(11) Geht es gar, um die Skala der möglichen
Fragestellungen abzurunden, um die Geschichte eines Mannes, dessen
antinazistische Signale als SS-Mann vor 1945 bisher übersehen worden wären,
oder um jene eines Mannes, der ohnehin nie einen Überzeugungs-Kern besessen
habe, immer nur ein "Mimikry-Künstler"(12) gewesen sei, anpassungsfähig,
karrierebesessen, elitär-egoistisch, funktionabel und effektiv in jedem
System? Ein "irritierendes Lehrstück" ist es allemal.
Ein paar relevante Fakten
seien genannt, um Kontexte zu umreißen, in denen sich Schneiders/Schwertes
innerer Weg abspielte, wie er sich aus seinen umfangreichen Schriften aus
der Zeit vor und nach 1945 ablesen lässt, ein Weg in vier Etappen, in "vier
Leben". Schneiders Leben vor seinem Eintritt in die SS wird hier nicht
berücksichtigt.
Erstaunlicherweise blieb
Schneiders Namenswechsel des Jahres 1945 bis in das Jahr 1995 der
Öffentlichkeit verborgen. Letztlich kam Schwerte durch seine
Selbstenttarnung nur einen Tag vor der Ausstrahlung eines holländischen
Films über ihn (28. April 1995, Sendung "Brandpunt") der medialen Aufdeckung
zuvor.(13) Jahrelang waren Gerüchte umgegangen, es gab, wie sich herausstellen
sollte, etliche, aus unterschiedlichen Gründen schweigsame Mitwisser.
NS-Seilschaften? "Rattenlinien" ehemaliger SS-Leute?
CIA-Geheimdienst-Manöver? Kalkulierte Flucht in die öffentliche, die
politische und universitäre Arena? Perfides Rollenspiel? Regisseur,
Nutznießer und Musterfall "kommunikativen Beschweigens" nach 1945?
Frevelhafter Übermut? Schamlosigkeit? Listigkeit? In solchen Kategorien
spielten sich – wenig überraschend – die medialen Aufmachungen ab. Schwerte
hatte mehrere Chancen, z. B. einige Amnestien in der unmittelbaren
Nachkriegszeit, nicht wahrgenommen, den Akt der Selbstenttarnung zu setzen,
obwohl dies damals mit wenig persönlichem Risiko verbunden gewesen sein
soll. Dies verstärkte nach der Demaskierung die Entrüstung und den Grad des
Affronts bei öffentlichen Einrichtungen, an Universitäten und Ministerien,
und nährte so Spekulationen über vertuschte Mittäterschaft Schwertes an
SS-Verbrechen.
Hans
Ernst Schneider war im April 1937 zur SS gestoßen, nachdem er sich schon
vorher in Königsberg als Gaufachstellenleiter der NS-Kulturgemeinde des
Amtes Rosenberg betätigt und "Volkstumsarbeit" im völkischen Sinn für die
Deutsche Arbeitsfront geleistet hatte. Schließlich war er als völkischer
"Edelkitsch"-Autor(14) einem Mitarbeiter des "Rasse- und Siedlungshauptamtes"
(RuSHA) aufgefallen, der sich, so wie auch Schneider, für den "deutschen
Renaissancemenschen" und die Chimäre vom "nordischen Elitemenschen", für die
Artamanen, begeisterte. Er brachte Schneider schließlich zur SS.
"Ein intelligenter und
ehrgeiziger Einzelgänger, der nach Aufgehobenheit im Kollektiv des
'deutschen Volkes' suchte, war nun in der Terrorzentrale des 'Dritten
Reiches' gelandet [...]. Er ergriff die Chance und beabsichtigte zu tun, was
er als Berufung entdeckt hatte: Lehrer zu sein, auch wenn das mit
seinem akademischen Studium nicht viel zu tun hatte"(15), womit Schneider aber
offenbar ausgerechnet jene Voraussetzungen erfüllte, nach denen bestimmte
Kreise in der SS suchten, nämlich "Leute, die als völkische Ideologen
praktisch einsetzbar waren."(16)
Schneiders
Karriere verläuft stetig: Am 1. Februar 1938 wird er hauptamtlicher Referent
in der Berliner Zentrale des Rasse- und Siedlungshauptamtes, schon mit
Beginn des Jahres 1939 wechselt er in den persönlichen Stab des
Reichsführers SS, wird zur "Außenstelle Süd-Ost" des "Ahnenerbes" in
Salzburg abkommandiert, hat die Aufgabe, "germanische Spuren in der
'Ostmark' und im 'nahen Südosten' zu finden"(17), hilft mit, das Eigentum
katholischer Einrichtungen in Salzburg aufzulösen, und wird schließlich 1940
in die Niederlande zum sogenannten "Germanischen Wissenschaftseinsatz"
abkommandiert – später arbeitete er in Berlin.
15. Dezember 1909: Hans Ernst Schneider in Königsberg geboren, Sohn von
Max Schneider (Hans Schwerte: geboren am 3.10.1910 in Hildesheim, Sohn
des Paul Schwerte, vom ersten Lebensjahr in meiner Heimat
Königsberg/Preußen aufgewachsen)
1928: Abitur am
Hufen-Real-Gymnasium in Königsberg
1928: Beginn des
Studiums an der Universität Königsberg
1929-1930: Studium in
Berlin
1930- 1931/32: Studium
in Königsberg
1932: Studium in Wien
1932: Eintritt in den
NS-Studentenbund
1933: Teilnahme am
Freiwilligen Arbeitsdienst in Jedwilleiten, Memeldelta
1933: Eintritt in die
SA
1935: Mündliches
Doktorexamen (summa cum laude) an der Universität Königsberg,
Dissertation über "Frühübersetzungen von Turgenjew" (Arbeitstitel von
Josef Nadler vergeben). Prüfer: Paul Hankamer (Deutsche
Literaturgeschichte), Wilhelm Worringer (Kunstgeschichte), Hans Heyse
(Philosophie) – Erlaubnis, den Doktortitel zu führen vor Drucklegung der
Dissertation, die nie erfolgte (Hans Schwerte 1948: Abbruch des
Studiums, danach im Buchhandel tätig, "ohne meine wissenschaftliche
Arbeit aufzugeben".
1936
Gaufachstellenleiter in der Abteilung Volkstum und Heimat der
NS-Kulturgemeinde; seit 1935 Leiter des Fachamtes des "Reichsbundes für
Leibesübungen" in Berlin. Lernt seine spätere Frau Annemarie Hildegard
Oldenburg kennen
1936-1937: Stv.
Hauptabteilungsleiter in der Abteilung "Volkstum und Heimat" der
NS-Kulturgemeinde
1937: Übergang von der
SA zur SS (Nr. 293691)
1937: Eintritt in die
NSDAP (Nr. 4923958)
1938: Hauptamtlicher
Referent im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS
1938: Hauptamtlicher
Referent des "Ahnenerbe" der SS
1940-1942: Mitarbeiter
für Volkstumsfragen beim Höheren SS- und Polizeiführer Hanns Albin
Rauter in Den Haag
1942:
SS-Hauptsturmführer, Leiter der Abteilung "Germanischer
Wissenschaftseinsatz" des Ahnenerbes in Berlin. Schriftleiter der
SS-Zeitschrift "Die Weltliteratur". Betreut die Zeitschrift "Hamer"
(niederländische und flämische Ausgabe)
1945: Flucht aus Berlin
nach Lübeck (Hans Schwerte 1948: "Von 1939 bis 1945 stand ich im
Wehrdienst.")
1945 Namenswechsel:
Hans Werner Schwerte, Papiere des SD der SS in Lübeck; führt seitdem den
Namen Hans Schwerte
1965 wurde Schwerte zum
Ordinarius für Neuere Germanistik an der Rheinisch-Westfälischen
Technischen Hochschule Aachen ernannt. Zwischen 1970 und 1973 wirkte er
als Rektor dieser Hochschule und hatte sich inzwischen einen
beachtlichen Ruf als linksliberaler Hochschulpolitiker erworben.
Zwischen 1974 und 1981 war er internationaler Wissenschaftsbeauftragter
von Nordrhein-Westfalen und ausgerechnet für die "Beziehungen zwischen
den Hochschulen in Nordrhein-Westfalen, Belgien und Holland" zuständig.
Nach seiner
Emeritierung im Jahre 1978 wurde er zum Honorarprofessor an der
Salzburger Universität ernannt, 1985 wurde ihm ein hoher Orden des
Königreiches Belgien (Officier de l’Ordre de la Couronne du Royaume de
Belgique, 1985) verliehen(18), 1990 würdigte die RWTH Aachen ihren
ehemaligen Rektor mit dem Titel eines Ehrensenators.
1945/46-1946: Student
der Universität Hamburg
1946: Immatrikulation
an der Universität Erlangen-Nürnberg
1947:
Wissenschaftlicher Assistent am Deutschen Seminar der Universität
Erlangen-Nürnberg bei Heinz Otto Burger
1948: Mündliche Prüfung
im Erlanger Promotionsverfahren. Gutacher der Dissertation "Studien zum
Zeitbegriff bei Rainer Maria Rilke": Helmut Prang, Hans-Joachim Schoeps,
Heinz Otto Burger
1958 Habilitation mit
der Arbeit "Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie".
Universitätsdozent und Leiter der Theaterwissenschaftlichen Abteilung
des Germanistischen Seminars an der Universität Erlangen
1964: ao. Professor an
der RWTH Aachen
1965: Ernennung zum o.
Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der RWTH Aachen
1970-1973: Rektor der
RWTH Aachen
1964-1981: Beaufragter
des Landes Nordrhein-Westfalen für die Pflege und Förderung der
Beziehungen zwischen den Hochschulen Nordrhein-Westfalens, der
Niederlande und Belgiens
1978: Emeritierung
1982: Übersiedelung
nach Bayern
1983: Honorarprofessor
für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Salzburg
1983:
Bundesverdienstkreuz erster Klasse der BRD
1985: Verleihung des
Ordens "Officier de l’Ordre de la Couronne du Royaume de Belgique"
1990: Ehrensenator der
RWTH Aachen
1992: Informationen des
US-amerikanischen Romanisten Earl Jeffrey Richards an das
Simon-Wiesenthal-Zentrum über Hans Ernst Schneider alias Hans Schwerte
Juli 1994:
entsprechende Information langen beim Rektor der RWTH Aachen ein
27. April 1995:
Selbstanzeige Hans Schwertes
28. Juni 1995:
Ausstrahlung der Sendung "Brantpunt" im niederländischen Fernsehen über
Hans Ernst Schneider alias Hans Schwerte
12. Mai 1995: Schwerte
wird von Bundespräsident Roman Herzog das Bundesverdienstkreuz (1983)
entzogen
20. Juli 1995: Das
nordrhein-westfälische Wissenschaftsministerium nimmt die Ernennung
Schneider/Schwertes zum Professor zurück. Er führt weiterhin den Namen
Hans Schwerte.
1995: Hans Schwerte
zieht seine Salzburger Honorarprofessur zurück
1995: Sperre der
Pensionszahlungen durch die NWR-Landesregierung, Aberkennung des
Beamtenstatus durch Nordrhein-Westfalen und Bayern
29. November 1995: Das
Bayrische Staatsministerium für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und
Kunst nimmt die Ernennungen zum ao. Prof., zum wiss. Assistenten und
Privatdozenten zurück.
11. Juli 1996:
Einstimmiger Beschluss des Promotionsausschusses der Universität
Erlangen-Nürnberg, die Anträge auf Aberkennung des Doktorgrades
abzulehnen.
1996: Das
Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe zum Mord (medizinische Versuche im
KZ Dachau) wird eingestellt.
18. Dezember 1999:
Schneider/Schwerte stirbt in Marquartstein.
Eine
besondere Rolle nach der Selbstenttarnung Schwertes spielte die Tatsache,
dass Schwerte im Jahre 1983 – einige Jahre nach seiner Emeritierung – das
Bundesverdienstkreuz 1. Klasse der BRD angenommen hatte. Schwerte ließ sich
außerdem z. B. durch Festschriften ehren, die ihm gewidmet wurden. Der
zuständige Minister für Wissenschaft und Forschung des Landes
Nordrhein-Westfalen, der spätere deutsche Bundespräsident Johannes Rau,
drückte im Vorwort einer solchen Festschrift seinen Respekt für Schwerte
damals folgendermaßen aus: Schwerte sei zu ehren, weil er geholfen habe,
"die Ausbildung des Ingenieurs und des Lehrers, des Naturwissenschafters und
des Philologen, des Arztes und des Planers in
einer Institution" zu gewährleisten und eine "Brücke zwischen
'Anwendung' und 'Theorie'"(19) zu schlagen.
Was Schwertes Schweigen
über so lange Jahre hinweg für viele ebenfalls zu einem Affront machte, war
die Tatsache, dass sich Schwerte seit den 60er Jahren, mit Recht, einen
klingenden Namen als ein Literaturwissenschaftler und Intellektueller
gemacht hatte, der z. B. im Rahmen der "Nürnberger Gespräche" im
Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um Auschwitz überzeugend – als
"bekehrte[r] Weltanschauungsmann"(20), wie wir freilich erst heute zu wissen
meinen – auf der fundamental wirkenden kollektiven Kraft des Rassismus für
die Ermöglichung der Mordaktionen beharrte und sich weigerte, die oft nach
1945 geäußerte, de facto verharmlosende Meinung zu akzeptieren, SS-Männer
seien "bloß" Psychopathen gewesen.
Nur
auf den ersten Blick überrascht die immense Publikationsflut, die nach der
Selbstenttarnung Hans Schwertes seit 1995 festzustellen ist. Nicht weniger
als geschätzte 2800-3000 Seiten(21) wurden inzwischen zum Fall
Schneider/Schwerte publiziert. Das umfangreiche Material nötigt jedenfalls
Respekt ab. Man könnte meinen, der Fall wäre endgültig durchgearbeitet und
erledigt, man wisse, worum es sich handle.
Tatsächlich sind die meist
von Historikern angehäuften Materialien, die Aktenfunde und ihre
Auswertungen beeindruckend. Sie umfassen alle nur denkbaren Bereiche:
Kindheit und Jugend, frühe geistige Prägungen, Königsberger
Universitätsverhältnisse, wirkliche oder vermutete wichtige
Lebensbegegnungen, Schneiders Weg in die SS und ins "Ahnenerbe", der
SS-Offizier und seine "Arbeit" in den "germanischen Ländern", die
Seilschaften und "Rattenlinien" für NS-Belastete, "doppelgesichtige[s]
Dasein"(22) nach 1945, bundesrepublikanische Wissenschaftspolitik und
Wissenschaftler in Erlangen und Aachen der unmittelbaren Nachkriegszeit, das
NS-Erbe in der BRD und der Umgang damit im Allgemeinen. Ferner werden in
großer Anzahl ähnliche Fälle aufgerollt sowie die deutsche
Nachkriegs-Germanistik mit ihren NS-Verstrickungen im Besonderen untersucht,
Fragen wissenschaftlicher und politischer Moral aufgeworfen oder juristische
Fragen diskutiert.(23)
Enthüllen aber, bleibt zu
fragen, all diese Recherchen Person und Charakter von Schneider-Schwerte in
wesentlichen Tiefendimensionen?
Die
immense Aufmerksamkeit für diesen Fall hatte nämlich auch handfeste
zeitpolitische Gründe, denn in der Mitte der 1990er Jahre trafen zumindest
zwei Voraussetzungen zusammen: Erstens war die Glaubwürdigkeit des
linksliberalen Lagers der BRD, dem Schwerte zugerechnet wurde, getroffen –
Heuchelei im Kreise der prononcierten links-liberalen
NS-Vergangenheitsbewältiger? Auch in diesem Milieu gab es also getarnte
Ehemalige, sogar SS-Offiziere hoher Ränge. Zugleich war die BRD und ihre
Wissenschaftspolitik im Visier, vielleicht homolog zur
Kurt-Waldheim-Erfahrung der Republik Österreich zehn Jahre vorher. Die
Identität der Republik und ihrer Instanzen stand zur Diskussion. Zweitens:
Der Fall Schneider-Schwerte platzte in die Zeit unmittelbar nach der
"Wende", als die BRD die ehemaligen DDR-WissenschaftlerInnen "entsorgte", um
als "Sauberrepublik" dazustehen. Man hatte wohl gerade und zunehmend mit
vergleichbaren Fällen aus DDR-Zeiten zu tun.(24)
Wegen "Urkundenfälschung"
wurde Schwerte schließlich das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse der BRD
aberkannt, auch den Aachener Professorentitel verlor er, nicht aber seinen
Erlanger Doktortitel, worüber erneut heftige Kontroversen losbrachen.(25)
Trotz der akribischen
Archivrecherchen und ausführlichen Interviews zu all den genannten Gebieten,
durch die man, wie es scheint, in alle nur denkbaren Ritzen von Schwertes
Leben und zugleich auch in das anderer Personen leuchtete, sind wesentliche
Aspekte von historischen Wahrheiten in wichtigen Teilbereichen des gesamten
Untersuchungsfeldes wohl nie zur Gänze zu rekonstruieren. "Die biographische
Wahrheit"(26) ist nicht zu haben. Vieles wurde diskutiert und blieb im
Unentscheidbaren, etwa die tatsächliche Rolle Hans Ernst Schneiders 1942 für
jene "Abteilung R" [= Sigmund Rascher 1909-1945] des SS-"Ahnenerbes", die so
genannte "wehrwissenschaftliche Zweckforschung" an KZ-Häftlingen in Dachau
und Natzweiler/Struthof durchführte,(27) oder Schneiders fragliche Teilnahme an
der "Sonderaktion Krakau" 1939, während der von "SS-Einsatztruppen zur
besonderen Verwendung" nicht nur die "Ahnenerbe"-Kunstraubaktion
durchgeführt wurde, sondern auch Angehörige der Jagellionen-Universität und
der Bergbau-Akademie Krakau in das KZ Sachsenhausen abtransportiert,
woraufhin mindestens elf davon im Lager starben oder ermordet wurden.(28)
Nicht
minder bedrängend sind die Debatten über die in die Tiefen des Gewissens
vorstoßende Frage nach Schneiders tatsächlichem Wissen um die "Endlösung".
Schwertes hartnäckige Behauptung, davon nichts gewusst zu haben, als ein
"Gewolltes Nicht-Wissen" bzw. "Form der Abwehr und Weigerung des Subjekts,
[…] die Wirklichkeit einer traumatisierten Wahrnehmung anzuerkennen",
mitbedingt durch die SS-interne "Sprachregelungen über den 'Arbeitseinsatz
der Juden im Osten'" sowie die von Schwerte eingestandene Schuld des
Nicht-Wissen-Wollens (die Parallele zu Albert Speer ist offenkundig), so
lauten einige Ergebnisse der Aufklärungsbemühungen z. B. in Claus Leggewies
Versuch einer Biographie über Schneider/Schwerte.(29)
Nicht endgültig klärbar
werden wohl auch die Vorgänge um Schneiders erste, von Josef Nadler
vergebene Dissertation in Königsberg über die "Frühübersetzungen von
Turgenjew"(30) und um die von Schwerte bis zuletzt behauptete Promotion im Mai
1935 bleiben, auch einige Merkwürdigkeiten beim Zustandekommen seiner
zweiten Nachkriegsdissertation über Rainer Maria Rilke. Als der Gedanke
aufkam, Schwerte könnte auch mit der CIA zusammengearbeitet haben, ging der
amerikanische Romanist Earl Jeffrey Richards diesem Gerücht nach. Sein
Ergebnis war negativ: Schneiders/Schwertes Name wird in den CIA-Akten nicht
erwähnt. Aber Richards regt an, auch britische, polnische oder russische
Militär- und Staatsarchive zu durchforsten, und überlegt, ob möglicherweise
nicht auch die Stasi über die Doppelidentität Bescheid gewusst haben könnte.
2. Hans Ernst Schneider
Im
Folgenden soll der Versuch unternommen werden, vier Phasen im Leben von
Schneider-Schwerte zu analysieren. Sie entsprechen vier Teilidentitäten, die
sich aus seinen Texten ablesen, gleichsam herauspräparieren lassen. Die
erste Phase setze ich für die Periode seit Mitte der 1930er Jahre bis zu
1945 (Hans Ernst Schneider) an, die zweite bis etwa Mitte oder Ende der
1950er Jahre (Verwandlung I), die dritte entwickelt sich spätestens seit der
Publikation von Schwertes Faustbuch von 1962 (Verwandlung II) und die vierte
ist die Zeit nach der Selbst-Demaskierung seit April 1995 (Demaskierung).(31)
Vorarbeiten, die in
Ansätzen das poetische und literaturwissenschaftliche Werk thematisieren,
gibt es bisher in der Flut der Publikationen nur von Ulrich Wyss (Erlangen),
Klaus Weimar (Zürich) und von Theo Buck (Aachen),(32) auch wenn in anderen
Arbeiten natürlich immer wieder Schneiders/Schwertes Texte in bestimmten
Zusammenhängen und für unterschiedliche Zwecke kursorisch benutzt werden. Es
fehlen aber jene Studien, die versuchen würden, anhand der Texte die inneren
Bausteine und Umbaumaßnahmen eines einheitlichen Lebens im großen Bogen zu
fassen. Es geht dabei um die Beschreibung der 'roten Fäden', es geht um
Brüche und Neues, Teilanschlüsse, Teil-Wiederaufnahmen in gewendetem Gewand
– schlicht um Kontinuierliches im scheinbar Diskontinuierlichen bzw. um
Diskontinuität im Kontinuierlichen.
"Dein Schwert – Demut
stählerner Schärfe"
(Hans Ernst Schneider 1936)
Deutschland,
heimliches Feuer des Sagens
Aller Worte, Klang, der Sturm und Stille
übertönt – beflecken die Frechen dein Schwert,
höhnend im knechtischen Dienst die Demut stählerner Schärfe,
glühest den Besten in Seele und Tat
trotzigen Mut, und tief in den Schächten der Zeit
beten und singen die Hüter größeren Erbes
dich, verheißene Krone Gottes, Deutsches Reich.(33)
Solche Zeilen geben die
Linie vor und enthalten nicht zuletzt ein Wort, das, wie wir heute wissen,
noch späte Karriere machen sollte und vor 1945 nicht nur an dieser Stelle,
sondern auch noch an einigen anderen steht: das Schwert.
Die
erste Identitäts-Formation bis 1945 ist verhältnismäßig kompakt zu
beschreiben und besteht aus einigen wenigen, aber fundamentalen
Konstituenten. Sie kann etwa aus der dezidiert reichsideologischen
historischen Erzählung "Königliches Gespräch" (1936) Schneiders gefiltert
werden. Der Text, eine poetische Fingerübung, verherrlicht am Beispiel des –
bezeichnenderweise – aus Juditten bei Königsberg in Ostpreußen stammenden
Literatur- und Sprachprofessors Johann Christoph Gottsched (1700-1766) und
Friedrich des Großen die unzertrennliche Einheit von politischer Tat und
geistigem Führertum – sozusagen Gottsched/Schneider und Friedrich/Hitler,
Dichter- und Soldatentum im Gleichschritt "wie willenlos" auf das neue Reich
zu. Die Erzählung ist mit vielen Sprachformeln nazistischer Prosa
ausgestattet: Der König, gebannt von der Volks- und Reichsutopie sieht denn
auch seine Soldaten "aus Unbekanntem hinein ins Ungeahnte, immer voran,
immer voran, immer voran" ziehen. Sogar "ein riesiger Adler" fliegt zur
prosaischen Übergipfelung "mit mächtigen Schwingen eine Weile königlich
ruhig über dem brachen Land, den Kopf stolz emporgewandt", "höher und höher
hinan, dem gleißenden Lichte entgegen."(34) Wir sollten das mythische Bild des
Adlers wie viele Schneidersche Leitwörter, auf die wir noch stoßen werden,
in Erinnerung behalten, denn in verwandeltem Kontext werden sie später
wieder auftauchen, so als ob Schwerte einige leitenden Schneider-Vokabeln
der SS-Zeit von ihren konnotativen Bedeutungen der Zeit vor 1945 "reinigen"
wolle, sozusagen als Abbitte, sie selbst instrumentalisiert gebraucht zu
haben, und motiviert von später Wissensbegierde über die
Bedeutungsgeschichten der Wörter und ihrer jeweils aktualisierten
Vorstellungen.
Zu den Kernbeständen
dieses ersten "Lebens" gehören auch einige seiner, wie Schwerte später
verharmlosend sagte, "Edelkitsch"-Gedichte wie z. B. "Runen des Lebens"
(1941) und "Land im Osten" (1941) oder die an Hölderlin orientierte
Reichs-Hymne "Deutschland" (Mottogedicht der Erzählung "Königliches
Gespräch" 1936). Diese wurde sogar in die auflagenstarke Jahresanthologie
des Winterhilfswerks "Ewiges Deutschland" (1940) gemeinsam mit Hermann
Claudius’ "Deutscher Spruch" auf den arischen Heiland Hitler als eines der
beiden Motto-Gedichte aufgenommen: Umpolung christlicher Zeichen in
biologistisch-nationalistische Ikonen, Diskurskampf also gegen das
Christliche: "Deutschland, heimliche Krone Gottes,/Dornenkranz, geflochten
der edelsten Stirn/hellen Blutes, Reich", so heißt es. Es geht zugleich auch
um die Thematisierung heroischen politischen Aufbruchs als Protest gegen das
Private im Namen der kämpferischen Tat, im Namen der "schimmernden Krone",
des Reichs, wohl im Namen des artamanischen Ordens-"Helmes": "Schwertweg
wuchs statt breiten Ackerschnitts […] und immer ists wie Schwertgeklirr um
diesen Schritt […] und zog um sich gebannten Kreis, darin er blieb."(35)
Was
Schneider im Gedicht formuliert, faltet er mit insistierender Schärfe im
programmatischen Essays der Zeitschrift "Die Weltliteratur" gegen
ideologische Feinde aus, z. B. in seinen aufschlussreichen Beiträgen "Tat
und Trug. Ostpreußische Dichtung der Gegenwart" (1941, F. 3), "Preußische
Tragödie" (1941, F. 7) und "Pastoröser Betrug" (1941, F. 10). Dort geht er –
als Ostpreuße – beißend mit dem angeblich sentimentalen Schrifttum ins
Gericht, die "den deutschen Osten" nicht als Land der Tat, Pflicht und
Zucht,(36) nicht "Volk und Aufbruch"(37) begreife und "in romantischer Blindheit"
angeblich sogar einem "östlichen Menschentum" huldige, in dem die
Blutsabstammung keine Rolle spiele: "slavisch-durchmischter Osten",
"Misch-Zwischenzone", Asien sei nah, "religiöse und sexuelle Rauschzustände"
statt "deutsches Kampf- und Arbeitsland",(38) so heißen die
sprachlich-ideologischen Formeln.
Schneider, der
SS-Ahnenerbe-Mann, hat hier Ernst Wiechert, Johann Gottfried Herder und
Immanuel Kant als idealistische Träumer und Propagandisten des ewigen
Friedens im Visier. Dagegen setzt er etwa Agnes Miegel (1879-1964) oder
Hansgeorg Buchholtz (1899-1977). Schneiders geistiges Fundament lautet: "Wer
im Osten Schwert und Burg(39) vergisst, versinkt im Gestaltlosen."(40)
An anderer Stelle heißt
es: Der Osten sei geschichtsfähiger Landschaftsraum. "Freilich – es gibt
geschichtsunfähiges Blut, geschichtsunfähige Rasse. […] Unsere
nationalsozialistische, zu Unrecht so missbrauchte und zerredete Formel
'Blut und Boden' hat zusammengefasst, was schicksalhaft einander verbunden
ist."(41)
Es
geht sowohl um die kulturkämpferische semantische Aneignung des "Ostens" im
Sinne des SS-Ordens, insbesondere gerichtet gegen die Bilder des Ostens, wie
sie von den christlichen Kirchen verbreitet wurden, als auch um die
praktische artamanische Ordens-Tat: "Heute wird dort eine endgültige saubere
Trennung angebahnt",(42) berichtet der SS-Offizier Schneider. Möglicherweise
liegen hier einige der Wurzeln für das große und anhaltende Interesse des
späteren Schwerte am später von ihm so positiv konnotierten Ambivalenten,
Zwiegesichtigen, am Kentaurenhaften, auch am Werk Thomas Manns, Gottfried
Benns, Rainer Maria Rilkes und Friedrich Nietzsches.
Zu den Quellen gehören,
wie gesagt, die zwischen 1940 und 1945 publizierten theoretischen und
literaturkritischen Beiträge Schneiders in der von ihm seit 1941 geleiteten
Zeitschrift "Die Weltliteratur", die als Organ des Sicherheitsdienstes der
SS galt.(43) Dabei kreisten Schneiders Texte, meist erweitert um umfangreiche,
auf rassistischer Grundlage beruhende Buchbesprechungen,(44) etwa um
prinzipielle Fragen eines neuen "völkischen Theaters", eines neuen
völkischen Begriffs von Tragik und Tragödie, "gebunden in Rasse und Zeit",(45)
eines neuen völkischen Begriffs von Opfer und Tat, zur Gänze hingegeben und
absolut unterworfen der "Verwirklichung" des durch die "mächtige Stimme" des
Führers verkündeten Reiches:
"Wir meinen […] den
dramatischen Raum weder moralisch noch pädagogisch noch psychologisch,
sondern als ein wirklich hohes Ganzes – das heißt, wo Volkstat als
religio und religio als völkische Wirklichkeit sichtbar wird. […] noch
der Untergang muß die Ordnung bestätigen. […] von dem Wissen um den
Urgrund unseres Seins getragen die gestaltschauende und gestaltbildende
Sehnsucht voran in unsere Form, wie sie Aufgabe und Berufung unserers
Blutes vor aller Welt wurde. […] Wer heute nur genau hinhorcht in das
werdende Drama unseres Volkes, fühlt diesen Mythos vom Reich und diesen
Mythos vom Kämpfer trotz Tod und Teufel schon deutlich sichtbar werden:
er wächst aus dem handelnden Erlebnis der deutschen Tat auf das Reich
hin."(46)
Auf
solcher Basis räsonierte Schneider außerdem in rassemystischem Duktus über
das Verhältnis von deutschem Dichtertum und völkischer Gemeinschaft, was
sich insbesondere in Hölderlins angeblich wegweisend gemeinschaftsformender,
"erd- und blutsnaher" Dichtung oder auch in Josef Weinhebers mit den
"Grundgesetzen und Grundordnungen" übereinstimmenden, seiner "Verpflichtung
zu Gemeinschaft, Volk und Geschichte als den erfüllten Ausformungen der
Seins-Ordnung" bewussten Werken erfüllen würde.(47)
In diesem Zusammenhang
kommt 1942 auch zum ersten Mal ein weiterer Autorenname ins Spiel, der,
ähnlich wie Hölderlin und Weinheber auch, für eine abgrenzbare Phase nach
1945, ziemlich exakt bis zum Jahre 1956, geradezu eine dem hegemonialen
Hauptstrom damaliger germanistischer Beschäftigung angepasste
Leitbildfunktion übernehmen sollte – Rainer Maria Rilke. Im Jahre 1942
firmiert Rilke trotz einiger Sympathien, die Schneider für diesen Dichter
hegt, da dieser "den Versuch einer Überwindung der 'Modernität' gewagt"
habe, "wobei besonders sein Ringen um eine weltoffene [völkische, K.M.]
Lebensbejahung und um einen Ganzheitsbegriff des Seins unter ausdrücklicher
Ablehnung aller christlichen Erlösungshilfen [das ist eines der
ausschlaggebenden Argumente Schneiders, K.M.] bedeutsam" sei, als ein
Dichter der "Krankhaftigkeiten und Zeitbegrenztheit".(48) Dieses Urteil steht im
Kontext einer scharfen Abrechnung mit einer Rilke-Arbeit von Fritz Klatt
unter dem Titel "Sieg über die Angst. Die Weltangst des modernen Menschen
und ihre Überwindung durch Rainer Maria Rilke" (Berlin, Lambert Schneider
Verlag). Dort wird Rilke als geschichtsabgewandter, geschichts-entbundener
Innerlichkeits-Apostel und zugleich als Vorbild geschildert. Das konnte nach
Schneider nicht angehen, denn: "Gerade vom Künstlerischen her müssen wir
Rilke als eine Enderscheinung erkennen. Er bleibt Ausgang. Daß die
Geschichte bereits eine neue Gestalt-Ebene erreicht hatte, konnte er nicht
mehr fassen."[1942](49) Schneider scheint aber von Fritz Klatt dennoch gelernt
zu haben, denn Schwertes Rilke-Arbeiten nach 1945, bis 1956 nicht weniger
als neun an der Zahl, darunter seine Erlanger Dissertation
bezeichnenderweise über den – jetzt heißt es "Zeitbegriff" bei Rainer Maria
Rilke und nicht mehr wie vor 1945 über "Geschichtsbindung" – dürften auch
eine Fritz-Klatt-Adaption sein. Schwerte wird nach 1945 nicht müde, die
"unvergängliche Leistung" Rilkes zu rühmen, angeschmiegt an einige
Leitbegriffe Rilkes. In existentialistisch getöntem, auch manieristisch
gehaltenem Duktus, auf den wir typischerweise in Schwertes "zweitem Leben"
bis ca. 1956/1957 stoßen werden, heißt es jetzt: "der 'reine Widerspruch'
moderner Existenz zwischen 'Angst' und 'Sein' wird, in bejahender Annahme
seiner absoluten Unlösbarkeit, als eine letztmögliche Geborgenheit und als
Umschlossensein erfahren, schmaler 'Streifen Fruchtlands zwischen Strom und
Gestein', auf dem der Mensch, 'innen', Rühmung und Rettung des 'Hiesigen' zu
leisten hat."(50)
Man könnte von einer bösen
Ironie der Geschichte sprechen, dass sich das "zweite Leben" des Hans
Schneider, jetzt des Hans Schwerte, zwischen 1945 und 1956 gerade durch
diesen "Rückzug auf das innere Leben als 'Geschichts'-Forderung"(51) auszeichnet
und nun gerade das feiert, was Hans Schneider in einem Artikel des Jahres
1942 noch gebrandmarkt hatte.
Schneiders
Texte der ersten Phase zeigen auch noch eine andere Akzentuierung seiner
Linientreue. Da ist der atheistische, den Rassenmythos verbreitende
SS-Offizier, der gegen christliches "Sektierertum", gegen "frommes
Heidentum", jenes "neue deutsche Heidenchristentum" ironisierend vorgeht.
Ein Artikel Friedrich Kammerers in der "Monatsschrift für das deutsche
Geistesleben" gibt Schneider Gelegenheit, gegen "die christliche
Verfälschung unserer germanisch-deutschen Werte und die Zersprengung des
völkischen Ordnungsgefüges durch den Begriff der Gnade und des
Auserwähltseins!" anzuschreiben. Schneider schließt mit einem bedrohlichen
Satz: "…wie sehr man noch heute uns selbst für dumm und grobschlächtig und –
langmütig hält. Aber, wie gesagt, wir wollten ja nicht prophezeien …".(52) Von
ähnlicher Haltung zeugen noch andere Beiträge Schneiders in seiner
Zeitschrift "Die Weltliteratur", die im Berliner "Schwerter-Verlag"(53)
erschienen. Ein Beispiel ist die Auseinandersetzung mit dem Schriftsteller
August Scholtis (1901-1969), mit dem die Schriftleitung – dies war Hans
Ernst Schneider – 1941 in rassistischem Furor abrechnete. Scholtis, der
während der NS-Zeit als durchaus unkritisch und systemnah zu beurteilen ist,(54)
hatte sich über eine Rezension seiner Schriften in einem mutigen Brief
beschwert.(55) Schneider kanzelte ihn daraufhin als heimlichen Kommunisten ab,
lässt dabei süffisant die Namen der Verfolgten Bert Brecht, Thomas Mann und
"Sami" Fischer fallen und droht schließlich auf seine Weise: "So wollen wir
hoffen, dass er es [das Briefeschreiben] überhaupt nicht wieder tut, und wir
versprechen das gleiche, zumal Scholtis schon von sich aus die Möglichkeit
angedeutet hat, die weitere Klärung auf einem Boden zu suchen, der außerhalb
der Publizistik liegt."(56) Als sich Scholtis 1969 in Berlin das Leben nahm, war
Schwerte gerade auf dem Sprung in das Rektorat in Aachen.
Wir sollen auch fragen:
Erzählen die von Schneider publizierten Texte auch von
nicht-stromlinienförmigen, kritischen Anteilen der Person Schneider? Wir
können solche Stellen nicht entdecken. Nehmen wir einige Leitwörter und
Namen mit auf unseren weiteren Weg, etwa "Ritter, Tod und Teufel", Rainer
Maria Rilke, die Begriffe Auftrag, Ruf und Wandlung, Gnade, Form und
Gestalt, Bindung, Adler und Schwert, auch das Leitwort Europa, insbesondere
aus Schneiders Stellungnahmen als SS-Offizier zwischen 1943 und 1945, etwa
zu den "Politischen Aufgaben der deutschen Wissenschaft" (Februar 1943), zur
Wissenschaftspolitik des "Ahnenerbes vom Oktober 1944 oder zum "Einsatz der
deutschen Geisteswissenschaften unter Führung der SS" in einem nazistischen
Europa noch vom März 1945. Und nehmen wir auch mit, dass Schneiders Umgang
mit literarischen Texten und literaturwissenschaftlichen Produkten einen
rassemythischen und reichsideologischen Fluchtpunkt besitzt, dem vor 1945
deduktiv alles und jedes zu gehorchen hatte.
3. Hans Schwertes Maskierung
3.1. Verwandlung I
"Andreas reist als ein
Gewandelter, der sich in 'Sicherheit' weiß, weiter"
oder "Metaphysisch rührt dieses Ich wieder eine Ahnung
bindenden, ja tragenden Seins an." (Hans Schwerte: Hofmannsthal
und der deutsche Roman der Gegenwart 1952)
Nicht
nur die beiden zitierten Sätze aus Hans Schwertes Aufsatz "Hofmannsthal und
der deutsche Roman der Gegenwart" (1952) (57) bieten sich als Motto für die
zweite Phase dieses Lebens an. Es gibt viele ähnlich anspielungsreiche und
im Nachhinein durchsichtige Sätze aus Schwertes Publikationen bis Ende der
1960er Jahre, aus jener Lebensphase, in der Hans Schneider – nach seinem
Namenswechsel vom Mai 1945 – jetzt als Hans Schwerte als Germanist an der
Universität Erlangen-Nürnberg arbeitete.
Auch aus den
Publikationen, die seit 1948 nun aus der Feder des Hans Schwerte erscheinen,
sind Bausteine einer Identität herauszufiltern, eines Mannes, dessen
Identität unter der Maske eine erste Verwandlung erfährt bzw. sich auf den
Weg macht, sich eine neue Identität zu erarbeiten. 1945 legte sich Schneider
also den Namen Schwerte zu und flüchtete in ein ihm bekanntes Milieu, in die
Universität und in die Germanistik, ausgerechnet dorthin, wo man dauernd
sprechen und schreiben muss und damit Identität sozusagen in der
Dauerauslage steht.
War seine "Flucht" in
dieses Milieu denn nicht ebenso unvorsichtig, wie es etwa eine in die
Tagesmedien oder die Politik gewesen wäre? Warum war es keine in die
Wirtschaft, in den Sozialbereich, in den Sport? Eineinhalb Jahre nach dem
Ende des Krieges, im Oktober 1946, taucht der Maskierte an der Universität
Hamburg, etwas später in Erlangen auf, und ein dreiviertel Jahr später ist
er im Alter von 36 Jahren wissenschaftlicher Assistent am Deutschen Seminar
in Erlangen-Nürnberg. Er wurde offenbar ohne Doktorat angestellt, als
Studienabbrecher und ehemaliger Wehrdienstpflichtiger, der im Buchhandel
tätig gewesen wäre. Nichts ist ganz falsch, alle Angaben haben einen
Wahrheitskern, aber die ganze Wahrheit ist es eben nicht. Was waren seine
wissenschaftlichen Qualifikationen?(58) Wir sollten für das Jahr 1948 nicht zu
streng sein, aber auch nicht zu blauäugig angesichts des damals zwar
bekannten, aber im Fluss befindlichen und damals "unerforschten Gebietes"
des sogenannten "Braunschweigertums".(59)
Wie
gut sitzt die Maske? Scheint nicht das Schneidersche, das vor 1945
wiederholt auch schon mit dem Vorstellungsbereich "Schwert" zu tun hatte, ab
und zu durch? Auf welche Weise, an welchen Stellen, wie stark? Mit dem
Namenswechsel kann doch von einem Tag auf den anderen eine offenbar
gefestigte Person und Identität namens "Schneider" nicht ausgedient haben.
Stellen sich denn nicht Skrupel dem Schneiderschen gegenüber ein, gar
Schandgefühle, Scham, Wut und Zorn, Bedauern, Mitleid? Konfrontiert
"Schneider" Schwerte nicht mit Vorbehalten und Warnungen wegen der Zumutung,
vielleicht einen neuen Weg gehen und sich emanzipieren zu wollen? Wir
bewegen uns auf offenem Feld und schwankendem Boden.
Auch nach 1945 waren
Schwerte/Schneider literarisch tätig. Karl-Siegbert Rehberg, ein Soziologe
aus Dresden, und Marita Keilson, eine ehemalige Schülerin Schwertes und
Literaturwissenschaftlerin in Amsterdam, haben, mit jeweils anders
akzentuierter Lesart, auf einen solchen Text Schwertes hingewiesen und in
ihm einen Schlüsseltext des Autors erkannt.(60) Die Erzählung "Begegnung auf der
Straße"(61) erschien 1953. Von einem Mann namens Merten ist da die Rede, der –
zufällig – Zeuge eines Verkehrsunfalls wird und angesichts des im Sterben
liegenden Opfers zum ersten Mal in seinem Leben "blitzhaft" "durchschüttert"
ist von der anschaulichen Erfahrung des Todes. Im Angesicht dieses
Sterbenden brechen in Merten Erinnerungen an den Tod seiner Großmutter auf –
persönliche Getroffenheit. "Aufgerissen bis zum letzten Grund", so heißt es
schließlich über Merten, so dass er nach langer Zeit wieder nach Worten
eines Gebetes suchen kann und muss:
"Die bewusstlos
flackernden Augen [des Unfallsopfers] quälten die seinen. Ihre
Ruhelosigkeit stieß an das eigene Verhängnis, Wunde an Wunde. Er war
berührt worden. Er musste etwas tun, nur er […]. Er neigte sich nieder,
legte seine Hände behutsam an den Kopf des Sterbenden. Er wusste nicht,
wer dieser war. Ohne Namen erkannte er ihn, Menschenhaupt eins wie das
andere. Um Merten wich alles zurück […] – flüsterte, murmelte, sprach,
Vater unser, Auge über Auge, Leere ins Leere, der Du bist, aber Wort
doch und Wort, Bogen und Brücke, einige – und endlich Amen, Amen, Amen.
Merten erschrak vor dem klaren Klang des eigenen Mundes, vor der
Sprache, die er nie gesprochen […]."(62)
An
Merten exemplifiziert Schwertes Text einen plötzlich Verwandelten,
thematisiert ein Damaskus-Erlebnis. Im Rilke-Ton wird über einen
"schrecklichen Straßentod" erzählt, "abgezählt in den Zahlen des täglichen
Todes", was "anders gezeitet Gnade und Linderung sein"(63) mag: "die Uhr ging
weiter, ununterbrochen, wenige ihrer Minuten nur hatte Merten im Schatten
der tödlichen Szene gesessen, gesprochen das nie Geglaubte [das Vaterunser],
begegnet dem nie Erfahrenen […]".(64) Merten versucht vergeblich, dem sterbenden
Opfer zu helfen und macht sich dabei die Hände blutig. Er möge doch nach
Hause gehen und sich das Blut von den Händen waschen, wird ihm von einem
"der grauen Tragbahrenmänner"(65) geraten. Ein zufälliges Ereignis im Alltag,
ein Verkehrsunfall, ein Sterbender, das Blut abwaschen und vergessen – für
den Erzähler und für Merten ist aber offensichtlich mehr im Spiel.
Schließlich sagt sich Merten – im Wechsel der Erzählperspektiven zwischen
innerem Monolog und erlebter Rede: "Nach Hause werde ich vielleicht kommen
[…] ich habe die Spur. Man muß nur einwilligen. Aber das Blut abwaschen,
jemals abwaschen das Blut des Opfers? Diese Begegnung war nicht zu löschen.
Er musste versuchen in ihr zu leben. Zum Beiseitetreten war es zu spät
gewesen."(66) Während der Blutfleck auf der öffentlichen Straße bald nicht mehr
gesehen werden kann, weil er, wie es heißt, "schnell vertreten"(67) wird, bleibt
Merten offensichtlich die unauslöschliche Erinnerung, vielleicht gar das
Blut an seinen Händen für immer haften. Kollektives Vergessen kollidiert mit
unauslöschlicher individueller Erinnerung und virulenter Präsenz des Todes.
Sollte Schwerte – im Bilde der Vorkommnisse rund um einen zu-fälligen
Verkehrsunfall – persönliche Schuld-Bewältigung betrieben haben?
Das ist ein Aspekt bei der
Auseinandersetzung mit Schneider/Schwerte. Ein anderer ist es, anhand seiner
literaturwissenschaftlichen Arbeiten den offenbar langwierigen
Emanzipationsprozess aus Schneiders SS-Ideologie zum selbst-entnazifizierten
Literaturwissenschafter nachzuzeichnen und dabei im Neuen die
Verbindungslinien zurück im Auge zu behalten.
1948 beginnt Schwerte
seine wissenschaftliche Publikationstätigkeit mit einer Arbeit über Rainer
Maria Rilke ("Ein Hinweis Rilkes auf das ‚Religiös-Sein'").(68) Bis zur
Einreichung seiner Habilitation mit dem Titel "Faust und das Faustische"
(publiziert erst 1962) im Jahre 1957/58 folgen etwa weitere 50
Veröffentlichungen. Ich greife einige wenige Beispiele und Aspekte heraus,
die die komplexe Dialektik zwischen Neubeginn, Skrupel und Vorbehalt
aufweisen.
Am
18. März 1953 publizierte Schwerte einen Artikel mit dem Titel "Moderne
Kunst – Mut oder Ausflucht?",(69) der einen Diskussionsbeitrag zu einer Debatte
über die künstlerische Moderne am Beispiel von Pablo Picassos
"Guernica"-Gemälde (1937) darstellte, welche zwischen Eberhard Schulz und
Margret Boveri in der Weihnachtsbeilage der FAZ geführt worden war. Es
handelt sich dabei um ein aufschlussreiches Beispiel antimoderner
Kunsttheorie und -kritik und passt so gar nicht in das Bild des späteren
liberalen Professors, der mit präzisen Zeichenanalysen und detaillierten
Bedeutungsgeschichten hervorsticht. Schwerte bezieht in der Picasso-Debatte
eine eindeutige Position. Picassos Bild ist ihm ein Beispiel
"naturalistischen", platten Oberflächen-Abschilderns, eine Art von
"Abgrund-Wollust" am Schrecken, ja eine "Anarchisten-Predigt", sogar eine
"Sünde" der Kunst:
"Sie gibt sich genau so
barbarisch wie die Barbarismen moderner Staats'kunst', ja sie verstärkt
diese Barbarismen noch, indem sie sich unfähig erweist, gegen die
moderne Deformation (wer wollte sie leugnen!) das heile oder geheilte
Menschenbild zu setzen, das in keinem Zeitalter 'naturalistisch' zu
erreichen möglich war – immer nur durch Entschluß, Anstrengung und
Wagnis. Diese Kunst w a g t nichts mehr, trotz aller ihrer surrealen
Ausflüge und Ausflüchte. Mit all dem bleibt sie nur auf den Schutthaufen
der Zivilisation sitzen."(70)
Moderne Deformation,
Heilen/Heilung, Wagnis, so lauten die Leitvokabel dieses Essays. Bloß
"Langeweile" beim Betrachten überkomme den Betrachter, denn Picassos Bild
finde keinen, so heißt es raunend, "Einstieg in den 'Grund'", es zeige nur
oberflächlich die "Wirklichkeit der heutigen menschlichen Situation in allen
ihren Ausprägungen, […] ihre Entbindung, ihre Entformung […]" und dringe
"nicht bis auf den Grund der menschlichen Existenz vor." Es gehe aber
heutzutage darum, die "Selbstbehauptung als Achthabe auf den tragenden Grund
des menschlichen Daseins"(71) zu vermitteln. Mystifizierend und sprachlich
hochgradig enigmatisch geht es in diesem Schwerte-Essay zu. Im Hintergrund
dieser Argumentation steht als Gewährsmann der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr
(1896-1984) mit seinem damaligen Bestseller "Verlust der Mitte" (1948, 17.
Aufl.1991), eine dem Zeitgeist gemäße Version des Umgangs mit "entarteter
Kunst". Sedlmayrs Buch wird von Schwerte wohl nicht zufällig erwähnt.
Picassos Kunst gehört für Schwerte zu den ästhetischen Aktivitäten der
"fünften Kolonne" und wird als "ordnungslos", ohne Wurzeln bezeichnet, weil
sie angeblich nicht den "Mut" aufbringe, "den Menschen trotz seiner
Krankheit (die sei nie geleugnet!) in seinem 'ganzen Bezug' anzunehmen, der
das Schreckliche einzusehen und ineins zu gestalten vermag mit dem Seligen."
Heilen und Trostspenden, das Schöne im Schrecklichen sehen (Rilke) und
darstellen – da "in der Schilderung eines Lächelns oder eines Grashalms ein
unvergleichlich größeres Wagnis verborgen"(72) liege, so heißt es.
"Lächeln" ist ein
Stichwort. Dem "Lächeln" bei Rainer Maria Rilke sollte Schwerte denn auch
ein Jahr später einen seiner im Lichte unserer Fragestellungen methodisch,
sprachlich und gedanklich aufschlussreichsten Aufsätze widmen: "Das Lächeln
in den Duineser Elegien" (1954).(73) Schwertes Text geht dabei vielen
Bedeutungen und Details nach, im Kern handelt es sich um Folgendes: Rilkes
"Lächeln" wird als "Abglanz jenes Innenvorgangs der Verwandlung"(74)
beschrieben, was freilich nicht nur eine sicherlich zutreffende Skizze der
Rilkeschen Bedeutungskonstruktion darstellt, sondern zugleich als
angestrebte oder vielleicht auch gelebte Lebenshaltung des maskierten
Schwerte lesbar ist. Schwerte, der Spezialist für Bedeutungsnuancen des
Wortfeldes "Lächeln" in den "Duineser Elegien", die er in ihrer
artifiziellen semantischen Strukturiertheit bestens zu beschreiben weiß,
betont auch, dass Rilke sogar im Lächeln von Heldentoten das "sprachliche
Signum des erfüllten Menschen"(75) gefasst habe. "In der 'Geburt des Lächelns'
erleben wir [bei Rilke] das Geheimnis der 'Geburt des Menschen'",(76) schreibt
Schwerte.
Im
Lichte unserer Untersuchungsoptik wird klar, warum Rilke, der
Innerlichkeits-Spezialist, unmittelbar nach 1945 zu einem der
Dichter-Favoriten Schwertes geworden ist – als ein Autor, der die
Kunstauffassung des Heilens verkörpern und somit als psychischer
Entlastungspoet für Schwerte beschworen werden konnte. In der letzten
Fußnote seines Rilke-Aufsatzes vertieft Schwerte seine Textbeobachtungen
noch durch einen methodologischen Hinweis. Er verweist auf ein Buch von
Romano Guardini mit dem Titel "Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins" aus
dem Jahre 1941, das 1953 in der vierten Auflage erschienen war. Schwerte
greift folgenden Satz heraus, der, wie er bedauernd feststellt, in die
letzte Auflage aber nicht mehr aufgenommen wurde. Man darf ihn wohl auf
Schwertes Vorgangsweise, seine verdeckte selbstbezügliche Lesart, münzen:
"Echte Interpretation ist darauf gerichtet, eben jenes Eigene herauszuholen
und ihm Raum zu schaffen."(77)
Nochmals zurück zu
Picassos Guernica-Gemälde und an den Beginn der 1950er Jahre. An einem
exemplarischen Beispiel antifaschistischer Kunst entwickelte Schwerte also
seine prinzipiellen kunsttheoretischen Überlegungen während der ersten
Verwandlungsphase. Dabei fällt auf, dass er nie direkt aus- und anspricht,
welche konkrete historische Wirklichkeit Pablo Picasso in seinem Werk
thematisiert, nämlich den Angriff deutscher Fliegerverbände auf die
baskische Stadt als eine der ersten Bewährungsproben der "Legion Condor" der
neuen NS-Reichluftwaffe Ende April 1937. Ablenkend und ausweichend fällt
auch das floskelhafte Reden Schwertes etwa über die ewige "Krankheit der
Zeit", das "Fegefeuer der heillosen Zeit", die "Ruhelosigkeit des modernen
Menschen", die Bindungslosigkeit aus – "als ob je eine 'Zeit' anders gewesen
wäre als 'heillos', verwirrt, verwüstet, fundamental zerstört", so heißt es
historisch Konkretes einebnend. Hans Schneider hatte noch gewusst, was
"Bindung" bedeutete, nämlich ein Teil der rassisch reinen Volksgemeinschaft
des Reiches zu sein. Schneiders Reden über die Verwurzelung der Kunst in
mystifizierten Entitäten wie Volk und Reich wird nun abgelöst von Hans
Schwertes nicht minder raunendem Reden über die "Ganzheit des Seins" oder
über das "Ahnen der Unverbrüchlichkeit des Seins".
Ernst
Barlach (1870-1938) und Rainer Maria Rilke (1875-1926) sind ihm dafür wahre
und echte Beispiele moderner Kunst. Keine Rede mehr ist von der
"Enderscheinung" Rilke. Im Gegenteil: "Seine [Rilkes] 'Modernität' steht bis
heute hin eher im Anwachsen als im Abnehmen."(78) Wenn Schwerte schließlich
Ernst Barlach preist, weil seine Kunstwerke "gerade inmitten schrecklichen
Verfalls der Zeit Gestalt und Antlitz retteten, da sie 'ganz' waren",(79) darf
man vermuten, dass sich das Schneidersche in Schwertes erster
Verwandlungsphase beruhigende Unversehrtheit zuschreiben wollte und sich
daraus eine antimoderne Kunsttheorie konstruierte.
Es passt in dieses Bild
eines solchen Ressentiments gegen die künstlerische Moderne, dass Schwerte
während dieser ersten Verwandlungsphase an Projekten beteiligt war, für die
auch ehemalige SS-Kameraden (Wilhelm Spengler, Verlag Gerhard Stalling)
verantwortlich zeichneten. Es handelt sich um die Sammelbände "Denker und
Deuter im heutigen Europa" (1954) (80) sowie "Forscher und Wissenschaftler im
heutigen Europa" (1954) (81) und um die vom entnazifizierten Erlanger Ordinarius
Heinz Otto Burger herausgegebene Literaturgeschichte "Annalen der deutschen
Literatur" (1952). Für die "Annalen" verfasste Schwerte seinen bis dahin
umfangreichsten Text, den literarhistorischen Aufriss "Der Weg ins
zwanzigste Jahrhundert. 1889-1945".(82) Der dafür vorgesehene ehemalige Exilant
Werner Milch (1903-1950), dem wohl die Funktion eines
Entlastungsmitarbeiters zugedacht gewesen war, war verstorben. Hans Schwerte
durfte als einziger Nicht-Ordinarius einspringen. Hatte der Maskierte
Skrupel? Wie sollte er seine Darstellung anlegen? Die genannten Sammelwerke
und Schwertes Beiträge sind, so kann man sie lesen, Zeugnisse von
überkommenen Bewertungsmaßstäben. Walter Jens hat mit klarem Blick 1962,
zehn Jahre nach der Publikation der "Annalen", den antimodernen, aber
zeitgemäßen Zungenschlag Schneiders/Schwertes folgendermaßen beschrieb: "[…]
wo alle Gegensätze fallen, müssen in der Tat Emigranten-Dichtung und
nationalsozialistisches Schrifttum identisch sein. […] Man sieht, wohin es
kommen kann, wenn man auf Wertmaßstäbe verzichtet, die Zeit von vornherein
als heillos ansieht, das 'bewusste Eintreten für die tragenden Werte von
Volkstum und Deutschtum' auf Kosten weltbürgerlicher Humanität preist. […]
Literatur als faustisches Ringen, Heilkunde und deutsche Sehnsucht … wer
hätte wohl 1945 zu ahnen gewagt, dass die Kategorien der völkischen
Literaturbetrachtung sich als so dauerhaft erweisen würden?"(83)
Es
ist nicht anzunehmen, dass Jens Näheres über den Lebensweg des Verfassers
wusste. Schwerte jedenfalls entwickelte sich weiter und wollte seinen
Beitrag aus 1952 offenbar nicht mehr in einer Neuauflage der "Annalen"
sehen. Schwertes im damaligen mainstream der deutschen Germanistik
angesiedelter Beitrag in den "Annalen" zeichnet sich – beispielhaft
besprochen – durch folgende Spannweite aus: Einerseits Nicht-Kenntnis der
vertriebenen Literatur und/oder Nichtachtung ihrer Leistungen, andererseits
die Feier des ehemaligen NS-Hymnikers Josef Weinheber in einem eigenen,
letzten Kapitel. Weinheber wird als elegischer artistischer Gipfelpunkt
beschrieben, "tragisch vereinsamt", als "Geist-Mensch", "'Adel und
Untergang' – das Gegenwort 'Liebe und Ordnung' bleibt, auf zertrümmerter
Bühne, dem kommenden Geschlecht zur Aufgabe und wartet des sagenden
Dichters."(84)
Auch das nach 1945 von
Schwerte favorisierte "Rilke-Prinzip" des trostreichen "Lächelns" wird zur
Wert-Orientierung aufgegriffen: "Wo Wiechert [der 1941 als Schwärmer
abgeurteilte Dichter, K.M.] nur die spurlose Flucht in den dunkel-bergenden
Wald kennt, wo Th. Mann nur die ausweglose Hybris des Geistes spürt, da
weist Kortüm-Kluge [gemeint ist Kurt Kluges "Der Herr Kortüm", Kurt Kluge:
1886-1940], wissend-lächelnd, auf die Notwendigkeit der Bindung von Erdgrund
und Geistesflug hin."(85)
Diese Art der akademischen
Literaturwissenschaft, über poetische Texte im existentialistischen Duktus
zu sprechen, war eine gängige Praxis der frühen Nachkriegsgermanistik,(86) sie
lag also im Trend der Zeit. Im Lichte von Schwertes späterem
literaturwissenschaftlichen Werk seit den 1960er Jahren wird deutlich
werden, dass Schwerte aber schnell verstanden haben musste, dass eine
völlige Neuorientierung nötig war. Schwertes Verwandlungsphase II ("drittes
Leben") sollte dem auf wissenschaftlich ertragreiche und akademisch
erfolgreiche Weise Rechnung tragen.
Das
innere Bild der ersten Verwandlungsetappe hatte auch seine erlesen-elitären
Seiten. Stichwort "Bindung" und "Denker und Deuter im heutigen Europa". Die
ehemaligen SS-Führer und Herausgeber des letztgenannten Bandes hatten schon
vor 1945 über ein neues Europa unter Führung der SS nachgedacht, Schneider
sogar noch im März 1945. Die Europa-Idee wurde in neuer Prägung
weitergeführt, eine plumpe Fortsetzung der nazistischen Europa-Vorstellungen
kann man jedoch nicht feststellen. Es sind jetzt Sätze zu lesen, wie sie
heute mancher EU-Politiker auch in Geleitworten formulieren könnte: "Für das
zukünftige Schicksal der europäischen Völker und seiner Menschen wird es
entscheidend sein, ob Europa ein Konglomerat mehr oder weniger
widerstreitender Nationalstaaten bleibt oder ob es zu einem Organismus
höherer Einheit zusammenwächst. […] Daß der Schritt vor das eigene nationale
Haus hinüber über die Schwelle des Nachbarn gelinge, und dass Europa aus der
Fessel des Schlagwortes gelöst werde, indem es zu einer lebendigen Substanz
im einzelnen Menschen wachse – dazu will diese Buchreihe beitragen."(87)
Zum Thema "lebendige
Substanz": Als Exempel im Deutschland-Österreich-Band der Reihe "Denker und
Deuter im heutigen Europa" bietet Schwerte drei Texte an – einen zu Hugo von
Hofmannsthal (1874-1929),(88) den zweiten über Rainer Maria Rilke (1875-1926)
(89)
und schließlich einen zu Gottfried Benn (1886-1956).(90) Das "Deuten" war
Schwerte offenbar sehr wichtig. Das Reden über die "Substanz" auch. Warum
also dieses Autoren-Dreigestirn? Das Hauptinteresse an Hofmannsthal liegt
nicht beim frühen Ästheten oder beim Autor des sprachkritischen
Chandos-Briefes (1902), sondern bei Hofmannsthal dem "konservativen
Revolutionär". Es ist der "bewahrende Verwandler" mit seinem "Salzburger
Großen Welttheater" (1922), der Verfasser der Münchner Rede "Das Schrifttum
als geistiger Raum der Nation" (1927). Es sind nicht die
christlich-katholischen Bindungsappelle des jüdisch-katholischen Autors, für
die er sein "Salzburger Großes Welttheater" geschrieben hatte, sondern gemäß
"moderner" existentieller Seins-Orientierung Schwertes im Jahre 1954 die
Wertprinzipien "Dienst, Tat, Verantwortung, dazu Hingabe und Bescheidung […]
in Wahrung und Hütung überlieferter Wertordnungen",(91) wie sich Schwerte
ausdrückte. Schwerte könnte gewusst haben, dass Hofmannsthals konservatives
Revolutionsprinzip (92) schon 1933 Heinz Kindermann als Vorstufen hin zur
"Besinnung der Deutschen auf ihre volkhafte Eigenart"(93) verstehen konnte. Im
Rückblick gesehen wird man festhalten können, dass Kindermanns
Instrumentalisierung des Angebotes Hofmannsthals in der Tat ein Meisterstück
eklektizistischen, politisierenden Missbrauchs der pazifistischen und
zugleich restaurativen Anliegen Hofmannsthals gewesen war. Das musste auch
Schwerte gewusst haben. Er verweist demnach auch folgerichtig auf jene
Passagen der Münchener Rede Hofmannsthals, in denen dieser das "fanatisch
Tragische, das 'Titanische', 'Faustische'"(94) der Deutschen als
Bindungsfaktoren nicht gutheißt. Statt dessen Hofmannsthal, der letzte große
"heilende Dichter", wie Rainer Maria Rilke auch auf seine Weise: "Rühmung
und Rettung des 'Hiesigen'".(95) Wir kennen das bereits bei Schwerte. Der
Maskierte interessiert sich insbesondere für Bilder der Gebogenheit und
Behaustseins, bei Hofmannsthal ebenso wie bei Rilke.
Und
wie steht es mit Benn, dem einzigen damals noch lebenden Dichter unter den
drei exemplarischen Gestalten, über die Schwerte schrieb? Was ist Benn für
Schwerte in dessen erster Verwandlungsphase? "Doppelleben also, Doppelsinn
ist die Grundstruktur solcher Existenz", heißt es, sei die Formel für das
Werk Benns. Und weiter – durch Benn hindurch ist der Maskierte erkennbar –
kursiv gedruckt: "'Die Einheit der Persönlichkeit ist eine fragwürdige
Sache … Kunst und die Gestalt dessen, der sie macht, ja sogar das
Handeln und das Eigenleben von Privaten sind völlig getrennte Wesenheiten …’
Daher 'Dualist', wie Benn sich selbst nennt, 'Anti-Synthetiker'. Ich habe es
nicht weiter gebracht, etwas anderes zu sein als ein experimenteller Typ
[…] "So wird Kunst zum einzigen Ort, wo dem Menschen Dauer gelingt, rein
an sich […]."(96) Schließlich wird Hans Schwerte offensichtlich von den
Bennschen "Schwertern" gestützt: "… schweigen und walten/wissend, daß sie
zerfällt,/dennoch die Schwerter halten/ vor die Stunde der Welt."(97)
Das war 1954. Aber wir
haben noch nichts zu einem weiteren wichtigen Thema gesagt, das Schwerte zu
Beginn der 1950er Jahre sehr beschäftigte. Gemeint ist die
Auseinandersetzung Schwertes mit dem Werk Thomas Manns (1875-1955). Zwei
Funktionen sind auszumachen, die Thomas Mann damals für Schwerte hatte.
Zuerst war der Exilant bekämpfte Abstoßungsfigur im Kontext von Schwertes
Mythos-Fetischismus und ersatzreligiöser Bindungsideologie unmittelbar nach
1945.(98) Schließlich entwickelte sich aber Thomas Mann gewissermaßen zu einem
verschwiegenen Lehrmeister für Schwerte, indem das Werk Manns in seinem
ironisierenden Umgang mit dem Mythischen entdeckt wurde, insbesondere mit
der deutschen Ideologie im Roman "Doktor Faustus". Auch die bei Mann an
Friedrich Nietzsche geschulte Maske des Homoerotikers, die Maskierung des
eigenen Lebens, das Leben als Kunstwerk – das dürfte Schwerte beeindruckt
haben. Freilich, Ironie sollte Schwerte immer fremd bleiben, Humor auch. Die
drei wichtigsten Texte zu Thomas Mann stammen aus den Jahren 1950, 1951 und
1955, zur Josephs-Trilogie unter dem Titel "Der humanisierte Mythus"(99) (1950),
zum "Erwählten" unter dem Titel "Die Vorheizer der Hölle"(100) (1951) und zum
"Felix Krull" unter dem anspielungsreichen Titel "Liebevolle Auflösung.
Thomas Manns Hochstapler-Bekenntnisse"(101) (1955). Diese Aufsätze und Essays
rücken Thomas Mann und mit ihm die Moderne/Avantgarde in die direkte
Schuldzone für den Faschismus, und zwar unter die "Vorheizer der Hölle". So
nennt Schwerte, der ehemalige SS-Mann, einen seiner Aufsätze aus 1951, womit
er ausgerechnet ein Wort Franz Werfels aufgreift, mit dem dieser – auf
christlich-jüdisch-religiöser Grundlage und angesichts der verbrecherischen
Herrschaft der Nazis – in seinen im Exil entstandenen "Theologumena"
(1942-1944, erschienen in Stockholm im Exilverlag Bermann-Fischer 1946),
avantgardistischen Hochmut geißelte.
"Parodistische
Destruktion" des Mythischen, wie Schwerte das Verfahren Thomas Manns nennt,
vertrug er in dieser Phase seiner Verwandlung unter der Maske offenbar noch
nicht. Er kante Thomas Manns großen Richard-Wagner-Aufsatz von 1933, in dem
Mann seine neue, die andere Mythus-Sicht entfaltet, die die Nazis so sehr
hassten: "Der Mythus wird humanisiert, säkularisiert, zivilisiert. […] Er
wird sozusagen 'stadtfein' hergerichtet. […] in die schillernde Lauge einer
ironischen Psychologie gebracht",(102) schreibt Schwerte so kurzsichtig wie
abschätzig. Er fühlte sich offenbar bedroht. Ein paar Jahre später, im
Felix-Krull-Aufsatz "Liebevolle Auflösung" (1955) ist das Kulturkämpferische
und das Sich-Abschottende der Jahre 1950/1951 bereits gemildert. Schwerte
musste sich insbesondere durch Felix Krull, den radikalen und zugleich
heiteren Maskenspieler, gleichermaßen bedroht wie angezogen fühlen.
Letztlich aber überwog wohl die Bedrohung, wenngleich Schwerte schon auf
einem neuen Wege zu sein scheint, denn es heißt: "Krulls parodistische
Hochstapelei dringt […] bis ins Zentrum des Menschlichen, des Geistigen vor:
ins Wort und in die Liebe. […] Ein Buch des Endes, der Absurdität des sich
selbst parodierenden Wort-Spiels, das Wort-Grund ersehnen läßt, Standgrund
des Logos mitten im Spiel. […] Aber Thomas Manns lebenslängliches
Kunstverdienst mag es gerade sein […], daß Wort-Spiel und menschliche
Wirklichkeit zwei verschiedene Wirklichkeiten sind, die, bei Strafe
gegenseitiger Auslöschung, nicht ineinander verwoben werden dürfen.
Wort-Spiel ist nicht Sache des Kunst-Spiels. Dieses öffnet nur – doch
unausweichbar – die Horizonte menschlicher Landschaft, aber nimmt uns den
eigenen Gang darin nicht ab."(103)
Wohl ein Leidender spricht
hier. Einen selbstverkleideten Krull, der völlig im narzisstischen
"Selbstgenuß"(104) aufgeht, das ging Schwerte zu weit. Deswegen vergisst Schwerte
nicht, gegen einen solchen radikalen Krull noch einmal Hofmannsthal zu
zitieren, und zwar aus dessen Vermächtniswerk "Der Turm" (1927): "Ich bin
allein und sehne mich verbunden zu sein."(104) Das sollte offenbar den eigenen
Rücken stärken und zur Identifizierung dienen.
Reden
wir aber nicht nur von den Schatten Schneiders hinter der Maske, sondern
auch von Diskontinuität, also den Versuchen Schwertes, eine Art
weiterführender Emanzipation zu wagen, die ihn in die Verwandlungsphase II
führen sollte. Er begann, Texte von Ilse Aichinger, Robert Musil, Heimito
von Doderer, Alfred Döblin, Friederike Mayröcker, Ingeborg Bachmann, Max
Bense, Helmut Heissenbüttel oder Hans Magnus Enzensbergers "Die Aporien der
Avantgarde" und über das poetische "Experiment" zu lesen und über sie zu
schreiben. In der Folge firmiert Thomas Mann als ein sensibler Formkünstler
und Wissender in Fragen der Wechselbeziehung von Form und Inhalt, und zwar
ausgerechnet in einer Festschrift für Heinz Otto Burger.(106) Schließlich
entwickelt sich ein erheblicher Abstand zu jenem ideologisch geprägten
Picasso-Unverständnis von 1950 und den einsichtigen Sätzen in die
wirklichkeitseröffnenden Möglichkeiten sprachlich-literarischen Experiments
von 1968 mit einem Motto von Max Frisch: "Darstellen heißt auskundschaften":
"Wann und wo in der modernen Dichtung der Begriff 'Experiment' angewendet
wird, ist dies ein Zeichen dafür, dass sie dem naturwissenschaftlichen
Horizont des Zeitalters offenblieb und sie den geschichtlichen Wandlungen
der neueren Naturwissenschaft zu entsprechen verlangt. […] bisher
unerfahrene Mitteilung poetisch zu erfahren und sagbar zu machen, das Wagnis
der Zweideutigkeit auf sich nehmen […]. … verantwortlicher Zeitgenosse ist
man nicht im Rückzug aufs Gewohnte und Gewusste."(107) Das sagte Schwerte auch in
seiner Aachener Antrittsvorlesung von 1967. Vergessen wir nicht: Damit hatte
er seinen Fuß in die Tür des sich jetzt gerade entwickelnden jungen
links-liberalen germanistischen Milieus gesetzt. Das alte
Schneidersche/Schwertesche in unterschiedlichen Lebensphasen konnotierte und
fetischisierte Wort "Wagnis" hatte jetzt eine neue Bedeutung bekommen –
"Sprachwagnis", auch das Wort "Welterkundung"(108) hieß jetzt etwas gänzlich
anderes. Damit waren keine unmittelbaren politischen Ziele mehr gemeint.
Aber das Wort Max Frischs vom "Auskundschaften" durch das Wort dürfte
Schwerte gefallen haben.
In den 1950er Jahren
scheint sich Schwerte mit seinen angewandten Methoden und Überzeugungen
nicht mehr auf der Höhe der Zeit gesehen zu haben. Er beginnt, wie in einem
Analyse-Rausch, einzelne Wörter und ihre Vorstellungsbereiche und Wortfelder
in ihren unterschiedlichen historischen Verwendungsweisen, in ihren
Vereinnahmungen, Umdeutungen, Instrumentalisierungen und Missbräuchen zu
recherchieren sowie deren Prägekraft für ganze Ideologiekomplexe zu
erkunden. Das ist etwas Neues und kündigt Schwertes Verwandlungsphase II
unter seiner Maske an, gewissermaßen sein "drittes Leben". Es zeigt
Diskontinuierliches an, eine Gestik, die Schwerte bis dahin fremd war. Ein
erstes nach wie vor beeindruckendes Ergebnis auf diesem Gebiet stellt
Schwertes Habilitationsschrift "Faust und das Faustische. Ein Kapitel
deutscher Ideologie"(109) dar, die 1957 an der Universität Erlangen-Nürnberg
approbiert und ein paar Jahre später nach ihrer Publikation in breiteren
germanistischen Fachkreisen als kritisches Grundlagenwerk betrachtet wurde
und wird.
Schwertes
Faustbuch mit seinen detaillierten Recherchen nach dem "Faustischen" am
Goetheschen Faust und, im Anhang der Habilitation, über Dürers "Ritter, Tod
und Teufel"(110) sowie viele weitere Arbeiten, etwa über das "Holde" und "Adlers
Flügel" im Faust(111) und bei Frank Thieß,(112) über das Vermessene und zugleich
Emanzipative des Ikarus und des Euphorion, über die Kentauren-Figur, das
Dionysische und das Herakleische in der abendländischen Kunst und Literatur
(etwa bei Heyse, Nietzsche, Buenaventura Genelli,(113) Hofmannsthal,(114) Peter Weiss,(115)
Frank Thieß), gehen meist von solchen Wortfeld-Erkundungen aus. Erst beim
späteren Schwerte werden daraus auch gleichsam kleine Kulturgeschichten und
Aufrisse ästhetischer Bearbeitungen des jeweiligen Mythos.
Diese Art von
Wortrecherche beginnt, wie erwähnt, ansatzweise schon in den 1950er Jahren,
und zwar ausgerechnet in einer Arbeit über das "Aorgische"(116) (das
Nicht-Individuelle, das "Dämonische", "Abgrund") bei Friedrich Hölderlin
(1953) oder über das Wort "Saltimbanques" (1954), das Schwerte in Rilkes
fünfter "Duineser Elegie" gefunden hatte und das ihn anspringen musste,
hatte Rilke doch Saltimbanque (Springer, Gaukler, Artisten) folgendermaßen
übersetzt: "die Fahrenden, diese ein wenig Flüchtigern noch als wir
selbst…".(117) Eine Übersetzung, die für den Maskierten offenbar tröstlich war.
Schwertes Wortrecherchen
der 1950er Jahre hatten damals noch nicht die Funktion, Ideologietraditionen
aufzubrechen, wie später zunehmend in den 1960er Jahren, als sie schließlich
zur Grundlage für Schwertes wichtigste und bis heute ertragreich zu
verwendenden großen Arbeiten z. B. über den Begriff der "Heimatkunst" (1967)
oder zur Trivialliteratur am Beispiel Ludwig Ganghofers (1968) oder zum
"Begriff des Experiments in der Dichtung" (1968) wurden,(118) und ihn überdies
zum anerkannten Experten im Rahmen der "Nürnberger Gespräche"
qualifizierten, der etwa über "Ideologische Stereotype und Leitbildmodelle
als Integrationsformen der Gesellschaft"(119) (1966) schrieb. In den 1950er
Jahren war aber derartige Wort-Recherche noch Teil jenes Systems der
Selbstbespiegelung über den Transmissionsriemen eines Textes oder eines
Gemäldes.
3.2. Verwandlung II
Schwerte
ist auf dem inneren Weg und kommt in einem dritten Leben an – weiterhin in
seinem Doppelleben, weiterhin unter dem Schutz der Maske und in geheimer
Identitätsspannung. Auf dieser Etappe haben wir ihn an der Salzburger
Universität kennengelernt. Wegen seiner literaturwissenschaftlichen
Leistungen in dieser Lebensphase wurde er 1983 zum Honorarprofessor an
unserer Universität ernannt, als der Ideologiekritiker Schwerte, der, was
niemand von uns damals wissen konnte, "Ideologiekritik", auf andere Weise
schon betrieben hatte.(120)
Die "Ideologiekritik"
Schwertes stellte eine Art kritischer Diskursgeschichte mit bemerkenswerten
kultur- und literarhistorischen Ergebnissen dar, insbesondere im Bereich der
deutsch-ideologischen Faust-Rezeptionen, der "Heimatkunst"- und
Trivialliteratur-Forschung,(121) weiters hinsichtlich einer neuen Sichtweise auf
die Literatur und Kultur des "Wilhelminischen Zeitalters" und sogar auf dem
Feld der Kritik der Geschichte der Germanistik.(122)
Ein Schlüsselsatz für
meine eigenen Studien war etwa folgender Satz aus Schwertes
Wilhelminismus-Forschungen: "Der Ansatz zur Bürgerkriegssituation der
deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, die spätestens nach 1918 allgemein
offensichtlich wurde, danach unter Hitler katastrophal ausgefochten, wurde
bereits mitten im Wilhelminischen Zeitalter, um die Jahrhundertwende,
gelegt, als, mit landschaftlichen, agrarischen, völkischen Vorzeichen, das
ideologische Gegenwort 'Heimatkunst' aufkam, programmatisch gerichtet gegen
die angeblich national zersetzende sogenannte Großstadtliteratur, d.h. gegen
die experimentierende und kritisch diskutierende Literatur der Moderne."(123)
Nicht
zuletzt waren wir in Salzburg mit dem Schwerte seines "dritten Lebens" im
Einverständnis, wenn wir im Tagungsbericht der Nürnberger Gespräche 1965
"Ideologische Stereotype und Leitbildmodelle als Integrationsformen der
Gesellschaft" folgende Sätze aus seiner Feder lesen konnten: "Diskussion,
Analyse, Kritik, diese in Deutschland so oft verschrieenen geistigen
Verhaltensweisen, sind […] Akte des Einübens in humanen Willen zur Balance
der Vernunft [das könnte von Robert Musil stammen K.M.], in die freilich –
und auch dies ist eine der dringendsten 'Lehren' der Geschichte – das
sogenannte Emotionale, selbst das in der deutschen Geistes- und
Gesellschaftsgeschichte so viel bemühte 'Irrationale', mit in die denkende
Vernunft hineingenommen und ebenso verantwortet werden muß, jedenfalls
politisch nicht 'freigestellt' bleiben darf."(124)
Aber haben wir wirklich
ganz genau gelesen, auch den letzten Teil des folgenden Satzes, wenn es
heißt, dass uns "die nationalistischen, schließlich imperialistischen,
schließlich rassisch-völkischen Manipulatoren und Vereinfacher […] die
geistigen und sozialen Traditionen der Deutschen ruiniert und mit ihrer
nationalen Phraseologie überredet [haben], vom 'Text' wegzusehen in einer so
erschreckenden und folgenschweren Weise, dass tatsächlich zur Zeit in
Deutschland für Lehrer, Publizisten, Politiker nichts dringlicher erscheint,
als die eigene Tradition erst wieder zurückzuholen aus allen ideologischen
und mythisierenden Vorstellungen."(125)
"Die eigene Tradition erst
wieder zurückholen"? Welche? Das Nationale, "nationale Sicherung", wie er es
jetzt nannte, blieb Schwerte ein Anliegen, freilich ein von allen
Verschmutzungen, also von "'nationale[n] Mythen' und 'Urbilder[n]'"
"gereinigtes" Nationales.(126) Es dürfte kein Zufall sein, dass der wirklich
allerletzte Satz, den der Noch-Maskierte im Herbst 1994 in seinem
Rundfunkvortrag "Faust und das Faustische. Vom Faustbuch zum 'anschwellenden
Bocksgesang’" (Typoskript 1994) in Sorge um die neuerlichen Siege des
"Übermäßgen, Unbedingten", des "Irrationalen" im 21. Jahrhundert schreibt,
folgendermaßen lautet: "Denn die Lehre, das Prodesse […] wäre exakt das, was
Goethe, auch der naturforschendende, wiederholt als 'Balance' bezeichnet
hat, die Balance zwischen Notwendigem und Übermäßigem, zwischen Bedingtem
und Unbedingtem, auch zwischen vernünftigem Einsehen und erkenntnisleitendem
Schauen: Solche geleitete und wägende Vernunft, darf man sagen: solche
gezügelte, solche solidarische Rationalität, dem 21. Jahrhundert zu
wünschen, ja ihm, im Wissen um die Geschichte Fausts, aufs dringlichste
anzumahnen, dazu bedarf es keiner Vision, nur der kritischen Balance dieser
Vernunft selbst."(127) Ich setzte damals bei meiner Lektüre an den Rand: "Ja, das
ist das Vermächtnis Prof. Schwertes. Dafür und daran arbeiten wir. Aber wer
hört es? Die Apokalypsen sind schon da." (Jänner 1995)
Seit
etwa 1980 erweiterte Schwerte seine ideologie- und bedeutungsgeschichtlichen
Recherchen. Auf der Basis seiner Erkenntnisse, die er sich im Zuge seiner
Aufdeckungsarbeit zur Ideologie des "Faustischen" erworben hatte, ging er
daran, mythische Gestalten, ihre abendländisch-deutschen Rezeptionen und
Instrumentalisierungen zu analysieren. Dabei lernen wir spezifische Lesarten
Schwertes kennen, die erneut erhellende Durchblicke auf das Lebensproblem
dieses Mannes erlauben. Es geht etwa um die Figur des Dionysos, um jene des
Kentauren, um Ikarus und Euphorion. Seit 1980 publizierte Schwerte nicht
weniger als sieben Arbeiten, die sich dieser Figuren annehmen. Schwerte war
und blieb, deskriptiv gesprochen, von mythischen Bildern fasziniert. Wir
erinnern uns Thomas Manns: "Denn wir wandeln in Spuren, und alles Leben ist
Ausfüllung mythischer Formen mit Gegenwart" (Thomas Mann meinte hier vor
allem Goethe),(128) was Schwerte 1950 noch in einer Art selbstabspaltender
Abrechnung zitiert hatte.
Mit welchen literarischen
Gegenständen und Epochen sich Schwerte auch beschäftigte, etwa mit Gottfried
Benn, Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann, Friedrich Hölderlin, Ernst
Barlach, mit Goethes "Faust", mit "Literatur und Theater im Wilhelminischen
Zeitalter", mit der sogenannten "Heimatkunst", mit den mythischen Figuren
des Ikarus, Euphorion, des Kentauren oder des Herakles – überall scheint die
verhüllte Auseinandersetzung des SS-Offiziers mit sich selbst und seiner
Lebensthematik virulent und durchzuschimmern.
Besonders dem "Biformen",(129)
dem Zwittrigen, wie sich Schwerte selbstbezüglich ausdrückt, geht er in
einer Anhäufung von Belegen durch die Epochen und unterschiedlichen Medien
in allen nur erdenklichen Ausprägungen und auch überraschenden
Bedeutungsverschiebungen nach, ebenso wie dem Ikarus-Mythos, dem Ikarischen
zwischen "Hochsinn und Vermessenheit"(130) als Ausdruck für das "unaufhebbare
Widersprüchliche der modernen Existenz Fausts". "Faustus. Ikarus.
Flugsehnsucht und Flugversuche in der Faust-Dichtung von der Historia bis zu
Goethes Tragödie",(131) so nennt er seinen Aufsatz, und man möchte hinzufügen –
"bis Schwerte". Am Ende dieses Aufsatzes heißt es, nicht nur auf Goethe
bezogen, sondern wohl auch selbstbezüglich: "Das unaufhebbare
Widersprüchliche der modernen Existenz Fausts […] scheint für Goethe in dem
verhängnisvollen Ikarus-Flug und –Todessturz die deutlichste poetische, gar
mythische Bildsetzung gefunden zu haben, der neue Mythos von dem alles
überfliegen wollenden Heros, den Absturz willentlich und selbstbewusst
einkalkuliert. Zwar der Strebende, dieses eine Kennwort Fausts, aber der je
maßlos Strebende, ohne Selbst-Beschränkung, immer dem Irrtum, dem tödlichen,
ja tötenden Irrtum verhaftet. […] Oder mit Faust, in gedoppeltem Paradoxon:
m u ß irren, um streben zu können. Die tätige Selbstverwirklichung im
Fangeisen des Irrtums."(132)
Besonderes
Interesse in unserem Zusammenhang darf auch eine Debatte beanspruchen, die
1987 anlässlich eines Salzburger Symposions der Österreichischen Akademie
der Wissenschaften zu Goethes "Faust" stattfand. Hans Schwerte hatte einen
Vortrag über "Der weibliche Schluss von Goethes 'Faust'"(133) gehalten und dabei
über eine der "rätselvollsten" Szenen "dieses Tragödien-Spiels",(134) die
Schlussszene "Bergschluchten" referiert. Schwerte hatte die These vertreten,
dass Goethe versucht habe, mit dem Wort vom "Ewig-Weiblichen", "diesem
Ziel-Wort, das neu zu begreifen wäre, ein weibliches Prinzip in den
Erlösungsvorgang einzubeziehen",(135) und zwar im Anschluss an gnostisches,
manichäisches, heidnisches und vorchristliches Gedankengut gegen alle
Vorstellungen der "kanonischen Offenbarungsschriften"(136) der drei
monotheistischen Religionen.(137) Im Anschluss an Schwertes Vortrag entspann sich
eine heftige Debatte, in der es u. a. um die Frage ging, ob "das
Verbrecherhafte, die Möglichkeit der Sühne, der Entsühnung, der moralischen
Umartung"(138) von Goethe auf diese Weise und überhaupt mitgemeint war. Ein
anderer Diskutant bezweifelte die These Schwertes und meinte, "dass da eine
Art neue Heilslehre angeboten wird, die das Heil Fausts in der Umartung ins
weibliche Prinzip hinein sieht – […] Nicht nur mit dem Faust geht’s so, dass
er gereinigt, umgeartet, geläutert wird ins Weibliche hinein, sondern: das
ist überhaupt die Rettung der Welt. Ich glaub’s nicht, will ich Ihnen gleich
sagen. […] Das letzte Wort, was den Alten [gemeint ist Faust] wirklich
interessiert, sein Problem heißt nicht: Erlösung oder Verdammnis […]. Der
Alte hat eine ganz andere Frage im Sinn, nämlich: Ist es zu Ende, oder ist
es nicht zu Ende, Fortdauer. Fortdauer über den Tod hinaus, das ist sein
Endproblem, nur das. […] die Umartung Fausts und der ganzen Welt ins Prinzip
des Ewig-Weiblichen hinein, das glaub’ ich, führt in eine andere Richtung."(139)
Schwerte wehrte sich und sprach von der von Goethe seiner Auffassung nach
initiierten "Absage an das Gericht durch Christus, den Mann, und Gott Vater,
den Mann" und von der Goetheschen "Miterlöserin" Maria. Beide
Diskussionsparteien durften freilich Argumente für sich beanspruchen und
mussten welche gegen sich zulassen, hatte es Goethe doch auf unauflösbare
Ambivalenz angelegt. Dennoch fällt auf, wie sich Schwerte gerade vom
Gedanken der Erlösung, von diesem "'Erlösungs’spielstück",(140) wie es Goethe
gemeint habe, nicht abbringen ließ. Dies mag im Lichte unserer Beobachtungen
eine besondere Konnotation besitzen und nicht nur mit Schwertes
Textanalyse-Ergebnissen zu tun haben.
Ein sowohl im Hinblick auf
Textnähe und sensible Interpretation, literarhistorische Verortung,
formalästhetischer Bewusstheit und eben auch schlagender Selbstbezüglichkeit(141)
wichtiger später Aufsatz beschäftigt sich mit Frank Thieß’ Roman "Der
Zentaur" (1931), und zwar unter dem Titel „Auflösung der Republik" (1991).(142)
Schwerte zeigt nicht nur, wie sich in Thieß’ "Fliegerroman" am Vorabend des
"30. Januar 1933"(143) Kentaurenhaftes, also Biformes, und Ikarisches in antiken
und zugleich futuristischen Diskurstraditionen auf einmalige, wenn auch
romanästhetisch traditionelle und darob für ein Massenpublikum lesbare Weise
überlagern, sondern auch, wie ein derartiger scheinmoderner Diskurs wie bei
Thieß dem damaligen "rechten Wind"(144) zuarbeitete und zugleich "unterminierende
Sickerkraft"(145) war. Mit diesem Aufsatz über Franz Thieß konnte Schwerte
gewissermaßen sein Thomas-Mann-Kapitel beenden und sah nun genauer. Sein
Urteil über Thieß – womöglich auch über sich selbst als einem Verführten und
ideologischem Opfer – fiel vernichtend aus: "dieses Verhängnis [es ist und
bleibt ein "Verhängnis"] der Sprachverweigerung [durch Thieß als formal
trivialer Romancier] zog das andere Verhängnis der Realitätsverweigerung
nach sich. Im Raum dieser Realitätsverweigerung, mit Hilfe von solcher vor-
und zubereitender Literatur wie Thieß’ Zentaur, vollzog sich die
'Neugeburt' des deutschen Volkes. Was gleichnishaft-metaphorisch im Stil des
einfachen Sagens gemeint war oder gemeint gewesen sein mochte, erwies sich
in der herbeizitierten politischen Realität als die Ruinierung jeden
sprachlichen Rückhaltes und erwies sich darin am Ende als die geschichtliche
Ruinierung des Volkes."(146)
Schwertes Aufsatz über
Thieß ist neben aller Erkenntnis über geistige, ästhetische und politische
Vorgänge der 1930er Jahre auch als Entlastungstext für den Maskierten zu
lesen, nach dem Motto: Da gibt es solche, die sich wie Thieß nach 1945 als
"innere Emigranten" aufspielen und lügen, und da sind die "ehrlichen"
Schwertes.
5. Demaskierung
Fast
auf den Tag genau 50 Jahre nach seiner Maskierung demaskierte sich Hans
Ernst Schneider unter dem Druck der medialen Öffentlichkeit – am 27. April
1995. Ein viertes Leben begann, das im Dezember 1999 endete. In einigen
Stellungnahmen und Interviews äußerte sich Schwerte auf folgende Weise. Ich
montiere kommentarlos einige der zentralen Sätze, die Schwerte nach seiner
Selbstaufdeckung gesprochen und geschrieben hat und die, wie ich meine,
einige zentrale Identitätselemente deutlich machen:
"In die SS gekommen in
einer Fluchtbewegung. […] Sollte ich auf die Straße treten und sagen:
Ich war auch einer! Verhaftet mich und hängt mich auf? […] Ich habe nie
daran gedacht, dass jetzt die Amerikaner aufstehen würden und sagen
würden, mein lieber Mann, du bist ein Schurke, sondern die haben mir
gedankt dafür. Weil ich ja schließlich darüber gesprochen habe, was die
wollten. Die wollten ja die berühmte ‚Umerziehung’ haben […]. Als ich
Berlin 1945 mit dem Fahrrad verließ, da wusste ich, du mußt ein neues
Leben beginnen, es darf nie wieder so werden. Ich wollte mithelfen, ein
anderes Deutschland zu aufzubauen, und ich sah zwei Schienen, die ein
Gleis bildeten: meine neue Existenz und das neue Deutschland. […]
Übernehmen einer neuen Verantwortung nach der Katastrophe eines radikal
fehlgegangenen Leben. Nur ‚Maske’ und Doppelspiel wäre mein Leben seit
1945 (bis heute) gewesen. […] Daß ich Gegenwendung und Gegenarbeit zu
leisten versucht habe (durch Auszeichnungen anerkannt), wird
unterschlagen." […] Daß ich entdeckt werden könnte, daran habe ich kaum
gedacht. […] Ich weiß nicht, wer Schneider ist, aber ich werde dafür
geradestehen müssen. […] Also, Sie drücken sich falsch aus. Ich bin es
genau, der von 1950 bis 1995 seine Arbeit getan hat. Ich bin bloß nicht
mehr der, der den alten Namen hat. […] Sie haben keinen alten Nazi vor
sich […] Die Lehre ist mir mein Leben wert gewesen, mein Leben, das Hans
Schwerte heißt und kein anderes ist. […] Ich dachte, ich könnte in den
Sarg gehen, ohne als Betrüger dazustehen […] Schuld und Scham sind
ausgesprochen worden. Was offenzulegen möglich war, ist offengelegt
worden. […] Ich habe nicht einmal von den Konzentrationslagern eine
Ahnung gehabt. […] Ich trug die Uniform von Auschwitz, unlöschbar, bis
heute. Darin liegt, ebenso unlöschbar, das Wissen um meine Schuld, mein
Verhältnis zu den Toten und Lebenden, die immer wieder versuchte Sühne,
die in fünfzig Jahren auch immer wieder versuchte Wiedergutmachung."(147)
Der Fall
Schneider/Schwerte könnte den Literatur- und Kulturwissenschaftler einiges
lehren. Wir sollten ein noch reflektierteres und auch skeptischeres
Verhältnis zu den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung entwickeln. Viel
stärker als bisher sollten wir uns der Bedingungen und Voraussetzungen
jeglicher Interpretation, jeglichen Blicks bewusst werden und diese in
unseren Beurteilungen von Forschungsergebnissen berücksichtigen. Man möge
nicht missverstehen: Es geht nicht um platte Spekulationen zu Person oder
Charakter von Wissenschaftlern. Der Boden des kritisch-rationalen Diskurses
ist nicht zu verlassen, sondern zu erweitern, indem unterschiedliche
Voraussetzungen und Rahmenbedingungen verstärkt reflektiert werden. Die
französische Geschichtswissenschaft hat davon gesprochen, dass Geschichte
ein Konstrukt, ja der "Traum des Historikers" sei. Die Voraussetzungen
(Schule, Persönlichkeit, Forschungsanliegen, Umfeld u.v.m.) des "Träumenden"
für seinen Traum spielen zweifellos eine wesentliche Rolle. Es muss aber
immer ein an Quellen "kontrollierter Traum"(148) sein.
Wir
müssen noch genauer nach den Perspektiven und nach der Optik fragen, die die
Wahrnehmung der VerfasserInnen prägen. Schwertes Werk nach 1945 ist ein
bemerkenswertes Anschauungsbeispiel dafür, wie die Untersuchungsgegenstände,
denen sich Schwerte als Literaturwissenschaftler bevorzugt widmete,
hauptsächlich von seinem Doppelleben und dem daraus abzuleitenden,
spezifisch ausgeprägten Sensorium bestimmt ist. Die Art und Zielrichtung der
Analysen freilich änderten sich sukzessive und deckten sich dabei auffällig
mit den jeweils vorherrschenden Diskursen der Literaturwissenschaft oder
nahmen sie sogar vorweg. Hans Schwerte – immer auf der Höhe der Zeit oder
sogar als Vorreiter des Kommenden. Was als eine besonders hellsichtige und
innovative Leistung verstanden werden konnte, zeigt sich nun – im Wissen um
die Maskierung Schwertes – als eine Leistung, die man mit jener des Igels im
Märchen vom Hasen und dem Igel umschreiben könnte.
Worauf am Beispiel von
Thomas Manns Werk besonders aufmerksam gemacht wurde, nämlich die
"Kunstmittel des enthüllenden Tarnens und beredten Verschweigens"(149) unablässig
im Auge zu behalten, sollte man bei jedem Schreibprozess, sei er
künstlerischer, sei er wissenschaftlicher Natur, stärker als bisher
berücksichtigen.
"Wir sind am Ende
dieser Geschichte. Sie ist lang geworden … Es war ein Enthüllungsprozeß
besonderer Art. … wach sein, wach sein, es geht was vor in der Welt. Die
Welt ist nicht aus Zucker gemacht. … Wach sein, Augen auf, aufgepaßt …
widebum widebum, dem einen geht’s grade, dem andern geht’s krumm, der
eine bleibt stehen, der andere fällt um, der eine rennt weiter, der
andere liegt stumm, widebum, widebum."(150)
Anmerkungen
(27) Jäger, Ludwig, Seitenwechsel, 1998, bes. Kap. 3.4., 132-50. Vgl. auch: Claus Leggewie,
Von Schneider zu Schwerte,1998. Zum Thema "Menschenversuche" vgl.
Earl Jeffrey Richards, "Versuch einer vorläufigen Bilanz", 1998, 218ff.
(53) Vgl. auch den Spruch und
das Bild, die der Schwerter-Verlag auf seine Titelseite setzen ließ:
Altdeutscher Soldat
mit gezücktem Schwert sowie "alter deutscher Spruch":
"Jedem zu Recht/niemandes Knecht/Dem
Schwachen Schutz/dem Starken/Trutz/die Hand dem Freund/die/Faust dem
Feind/So wirds hier/Gehalten/Gott möge es walten." (Illustration von Ernst
Dombrowski). Die Weltliteratur, 1941, H. 10 (dort auch der Beitrag
Hans Ernst Schneiders, "Pastoröser Betrug", 1941, 262-64).
(122) Hans Schwerte,
"Deutschkunde – irrational, rational. Nationale Vorurteile", Vorurteile
in der Gegenwart. Begriffsanalyse.
Funktionen. Wirkungen. Störungsfaktor,
hg. von Axel Silenius (Frankfurt am
Main 1966), 57-64.
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