Davor,
das heißt, vor geraumer Zeit, von der Jahrhundertwende bis 1936 – als unser
Elias Canetti, dem später der Nobelpreis und sogar ein Gipfel in der
Antarktis zuteil werden sollten, noch ganz jung und ganz Ohr war. Und – wie
die Leserschaft seiner mehrbändigen Lebensgeschichte weiß – geradezu
hypnotisiert von dem einen (nicht gebürtigen, doch sehr wohl waschechten)
Wiener, dessen oft genug zurecht maßregelnde Sprachgewalt nie unterging, nie
untergehen konnte, nie untergehen sollte. "Kontinent Kraus", so der Titel
von LuK 445/446.
Dem großen Alleinkämpfer
deutschsprachiger Ausdrucksweise (der aber anders als manche seiner
Zeitgenossen nicht nur das Deutsche, sondern auch andere Sprachen vor dem
Jüngsten Gericht gelten lassen wollte), dem monumentalen "Unbestechlichen" (LuK-Dossier,
S. 53), dem Mann, der "das größte Gerichtsprotokoll der Weltliteratur"
(ebd.) bzw. ein "großes Epos" , einen "zusammenhängenden Großroman" (Riess,
LuK-Dossier, S. 66 – wohlgemerkt beides mit Fragezeichen und dem
Multiplikationsfaktor Zehn versehen) erstellte, ist eine Nummer gewidmet, in
der es "wie am Schnürchen, manchmal aber auch wie am Strick" geht, um ein
Wort aus den einschlägigen "Erkenntnissen zu Karl Kraus" zu gebrauchen, die
Erwin Riess anhand seines unheimlich kultivierten Herrn Groll dem
möglicherweise ebenso kultivierten Lesepublikum zumutet.
Karl
Kraus (der Kritiker, der Redner, der Verführer, dem sich im Rahmen seiner
legendären Vorträge ohne Weiteres je viertausend Ohren öffneten) wird im
dritten Jahrtausend in Karl-Markus Gauß’ Literaturzeitschrift festgenagelt,
die alle zwei Monate auf viertausend Regalen in Salzburg, Linz, Wien,
Bukarest, Berlin, Toronto und bestimmt auch auf dem vierhundert Meter hohen
Canetti Peak in der guten, alten Antarktis landet: eine kleine, von
Kraus’ Jünger Gauß (der aber kein Jünger sein will) inszenierte Ehrung
vermittels indirekter Groll-Dialoge im Zeichen des altösterreichischen
Vermächtnisses und des neuen Wienerischen Lebensgefühls, ein wenigstens zum
Teil geglückter Versuch, Karl Kraus wieder zurück nach Wien (und nach
Tschechien), zurück zu den Wienern und im weitesten Sinne zu den Europäern
zu bringen, eine jedenfalls anregende und inhaltlich wie stilistisch
bereichernde Aktualisierung der Kraus-Frage (besser: der
Kraus-Fragestellung) im Kontext: Wie macht man das? Wie kommt so eine
Vergegenwärtigung mittlerweile katalogierter, ja digitalisierter Schreibwut,
wie kommt so eine fast unsagbar sublimierte Blendung dessen, was war, mit
dem, was wird, zustande? Indem man Kraus zum Erdteil "ernennt"? Oder zum
Richter? Oder zum Revolutionär?
Hintergrundinformation im
Kraus-Gauß-Zusammenhang: Der "japanische Österreicher" Leopold Federmair,
der übrigens den ersten Kulturbrief des Heftes stellt, spricht die Namen
Fritz Mauthner, Karl Kraus, Ludwig Wittgenstein, Robert Musil und
Karl-Markus Gauß in einem Zug aus (kolik 12/2000, S. 150). "Seine"
LuK will Gauß aber nicht in eine Fackel umwandeln (Gauß, "Ins
fünfzehnte Jahr" in Literatur und Kritik 391/392, 03/2005). Die
Fackel, das war vorher. Die war einmalig. Denn Kraus ist Kraus.
Lassen
wir es auf ein paar zusätzliche zeitgemäße Überlegungen zum (erweiterten)
Kraus-Gauß-Riess-Dreieck ankommen: In der allerersten Nummer der Fackel
schreibt Kraus vom "Mene Tekel" seiner Zeit und warnt u.a. vor dem Gespenst
des Nationalismus, der sprachlichen Ausartung, der politischen Anmaßung und
der allzu gefügigen "journalistischen Rotationsmaschine". In LuK
425/426 (07/2008) heißt Gauß’ Editorial "Die Zukunft Europas, ein
Menetekel". Darin geht es vor allem um die gerade jetzt wieder einmal
–
im Kontext –
hochaktuelle Problematik der Verfolgung der Roma durch die italienische
Regierung und die Gefahren, die eine diesbezüglich passive Haltung der
Öffentlichkeit birgt, als habe Gauß auf den damaligen Mauern bzw. auf dem
Bildschirm der italienischen Telekratie das jetzt, gute zwei Jahre später,
offensichtlich unter Missachtung europäischer Werte formulierte
Mobilitätsprinzip Sarkozys "gelesen". Und in LuK 445/446 sagt Herr
Groll zu seinem wissbegierigen Gesprächspartner, dem Dozenten, der diesen
(im schlechten Sinne) verheißungsvollen Begriff gerade fallen lassen will:
"Es wäre schön, wenn Sie das Wort Menetekel vermeiden könnten." (S. 70) Ja,
schön wär’s.
Ende gut, alles gut. Das
Dossier von LuK 445/446 beginnt mit dem letzten Wort der Fackel:
"Trottel" – eine Schlussbemerkung der 20.000 Seiten unter dem
(literarischen) Speer, mit dem der unerbittlichste aller Kritiker wider so
manchen Zeitgenossen zog, die sich ansonsten recht gut im Sattel hielten und
als unbescholten galten (einige waren es ja auch). Kraus mit runter
gelassenem Visier? Auf dem Umschlag seine Handschrift, und das irgendwie
kitschig anmutende Erscheinungsdatum von LuK 445/446, Juli 2010,
einfach draufgeklebt: wie ein Fremdkörper, schwarz auf weiß, genauer gesagt,
ausnahmsweise mal schwarz auf einem weißen Streifen – und das Ganze dann
sozusagen intertextuell auf den fast unleserlichen, dafür aber umso
stimmungsvolleren Fackel-Manuskript-Auszug geschmissen; in den Seiten
eine Karikatur, nein, ein Portrait von ihm, Kraus, und auf der Nebenseite
ein Bild von Riess, dessen Groll uns erzählt, was da alles bei Kraus drin
steht – dazu noch ein bisschen Rilke und dessen Malte und ein bisschen Musil
und sein Land ohne Eigenschaften und dessen Möglichlichkeitsmensch Ulrich,
der abstrakt Denkende, im Auftakt ewiger Wahrheiten (siehe Musils
"Richtbilder") mit der großen Parallelaktion Beauftragte.
Kann
man aber wirklich "nur" durch Lesen wissen, wie es früher mal war? Darf man
Erkenntnisse anderer Zeiten mit Hinblick auf die heutige Problematik des
Kontinents ungeniert wiederverwenden? Riess und Kraus blicken einander an,
sozusagen jeder auf seiner Seite eingeschanzt, treffen sich
allerhöchstwahrscheinlich irgendwo auf dem ausgedehnten semantischen Feld
zwischen Seite 52 und Seite 53, liefern sich aber keine Schlacht; ganz im
Gegenteil. Es geht wie am Schnürchen. Kraus aktuell könnte man so
etwas nennen – besprochen an einem Kanal, der früher mal der Hauptarm der
Donau war.
Quite continental: Darf
man das zu dieser Nummer sagen? Karl-Markus Gauß behauptet, einer der
wenigen Menschen zu sein, die Karl Kraus’ Fackel auch wirklich
gelesen und exzerpiert haben (siehe Tanzers Gauß-Monographie, S. 21). So
richtig gelesen. Hineinspähen, herumblättern, die CD mal "aufschlagen", sich
probeweise einen Auszug aus Canettis Die Fackel im Ohr vornehmen (in
der freilich keineswegs etwa Die Fackel selbst, dafür jedoch umso
mehr die von ihr entfachte Begeisterung aufleuchtet)? Gilt nicht.
Doch
auch Herr Groll scheint sich in Sachen Kraus fürchterlich gut auszukennen,
wie etwa in Riess’ "Geschichte vom Wiener Donaukanal" ersichtlich ist. Groll
ist dabei kein "wirklicher" Mensch, sondern ein erfundener, das soll heißen:
ein möglicher. Der Frage, ob Groll schlauer als sein Autor sei, wollen wir
jetzt nicht näher nachgehen, da sie ja zu tief in den
literaturwisschenschaftlichen Betrachtungen der Phänomenologie des Textes
verankert ist.
Wenn Herr Groll sich über
den "Einfluss der Donauregulierung in Kraus’ Werk" oder über Kraus’ Haltung
zum Thema Minderheiten oder über das Spannungsfeld zwischen Sprachkritik und
Kritikersprache auslässt, kommt einem fast unwillkürlich ein weiterer
skurriler Herr in den Sinn, der sich dieser Tage anhand einer keineswegs
behinderlichen, sondern durchaus potenzierenden Verlangsamung der "Story" in
mehr als nur räumlichem Sinne durch Österreich und das Österreichische
herumtut: Wolfgang Hermanns stillen Gesetzmäßigkeiten nachspurender Herr
Faustini. "Wer ruft mir?" würde der Kontinent-Geist fragen, wenn er
jetzt zufälligerweise da wäre. Doch der ist ja im Moment auf der Suche nach
der Mitte Europas – in Begleitung seines ritterlichen Seismographen
Karl-Markus Gauß, der nicht nur als Ritter, sonder gerne mal auch als Retter
sein Wesen treibt.
Im
zweiten Beitrag des Kraus-Dossiers trifft der Leser den großen Meister des
Totalitätsromans an. "Goethe lässt uns nicht im Stich", so beginnt Hansjörg
Graf seinen Bericht über die 2002 gegründete, mit der CD-ROM-Edition der
Fackel eröffnete Bibliothek Janowitz, 70 Kilometer südlich von Prag.
Zitate aus erhaben anmutenden Zeiten wollen über den ahnungslosen LuK-Konsumenten
herfallen. Zusammenhänge wollen erläutert, Kulturkreise wollen erfasst,
Parallelen wollen aufgestellt werden.
Räumlich umgesetzt: dem
Mainstream entlang, die Donau runter. Kraus drüben? Oder ist das immer noch
hier? Oder müssen wir immerfort zwischen Mitte und Zentrum hin und her
pendeln? Rilke. Sidonie. Briefe. Ein gutes Stück Altösterreich. Stimmung.
Information. Wiederum neue Erkenntnisse. "Insel Janowitz". Ein Wort von
früher.
Im
gewissen Sinne wird jetzt ganz Europa aus dem Bett gerissen, umgeleitet,
reguliert. Das aufblitzende Sprachereignis rund um die Wahrhaftigkeit einer
Stellungnahme und den Zusammenbruch von Werten, die gerade noch so stabil
waren, dürfte diesem Kontinent, dem Kraus-Kontinent, auch heutzutage
durchaus stehen. Freilich müsste dazu verstärkt gegen die journalistische
Rotationsmaschine angekämpft werden – brauchbare Schlachtfelder bietet u.a.
LuK. Das kritische Potential unbestechlicher Essayistik könnte dabei
möglicherweise Europas Ausweg aus den Schlingen des Konjunktivs zeitigen.
Zielstrebigkeit der
linguistischen Umsetzung: Lässt Riess als Motto seiner Grollschen
Kraus-Überlegungen Musils Möglichkeitsmenschen zur Sprache kommen, der
bekanntlich dem conjunctivus potentialis frönt und sich immer denkt, dass es
wahrscheinlich auch anders sein könnte, so geht es Simon Hadler in der
Rubrik Buchkritik um die Möglichkeitsprosa in Ronald Pohls Trippelroman
Die Spindelstürmer. Hadlers treffender Rezensionstitel? "Die
konjunktivistische Zumutung." Ein denkbarer Einstieg in die Irrealität des
Faktischen.
"Soll ich dir,
Flammenbildung, weichen?" hieß es noch recht antagonistisch zur Zeit des
Sturm und Drang. Doch LuK hat jetzt vor, die Flammenbildung
entschieden zu bejahen, zu nutzen, auf gut Europäisch in einen Prozess
einzublenden, von dem wir hoffen, dass er wo hinführt. Quite continental!
würde jeder "reisende Engländer" gerne bestätigen – um gleich mal einen
Begriff aus der klassischen Goethezeit mit reinzuschmuggeln.
Die
Faustische Frage an den hierin zweckmäßig Fackel genannten
Kontinent-Geist sei schlicht (wenn schon nicht treffend) ins Amerikanische
übertragen: Wem Die Fackel schlägt ... Von Karl Kraus bis zu
Ernest Hemingway ist es nämlich in LuK nur ein Schritt; ein sanfter
Gedankensprung; ein kleiner Ozean. Geboren wurde Hemingway im selben Jahr
wie Die Fackel. "Wer Kraus schätzt, spricht nicht wie er", bekundet
Herr Groll (S. 63). Und Andreas Weber zitiert in seinem Hemingway-Essay auf
Seite 50 den österreichischen Autor Fritz Habeck: "Man soll ja um Himmels
Willen nicht versuchen, einen Kurzgeschichten-Schluss wie Hemingway zu
schreiben. Das ist absolut unmöglich. Das ist etwas, das gar nicht da ist.
Man kann das immer wieder nur ansehen und lesen. Das kann nur er." Andreas
Weber berichtet von seinem sehr persönlichen Verhältnis zu Hemingway, den er
Ernest nennt, ohne ihn freilich je in Person kennengelernt zu haben.
Am Ende seines LuK-Beitrags
ein Zitat seiner "absoluten Hemingway-Lieblingsszene" aus Indian Camp:
"In the early morning on the lake sitting in the stern of the boat with his
father rowing, he felt quite sure that he would never die."