Über die Aurora

Aktuelle Ausgabe

Frühere Ausgaben

Suche

   Schwerpunkte    Theater     Kulturphilosophie     Belletristik      Literatur     Film     Forschung    Atelier     Musik  

......
"Nackt werde ich sein wie ein Hintern über der Latrine"

Versuch, an Gustav Regler zu erinnern
...

Als 1933/34 die nationalsozialistische Propaganda mit dem Slogan "Nix wie hemm" den
Saarländern eine Heimkehr zur "deutschen Mutter" vorgaukelt, hat eine Gruppe Oppositioneller
den Mut, vor den Berg- und Hüttenarbeitern aufzutreten und ihnen zu erklären, dass ihre
Vaterlandsliebe von einer Diktatur missbraucht wird. Einer von ihnen ist Gustav Regler, einer
der wenigen saarländischen Autoren, die es später auch international zu hohem Ansehen bringen.
Zwischen den Veranstaltungen schreibt er an seinem Saar-Roman Im Kreuzfeuer, den
er 26 Jahre später als "ein scheussliches Buch" bezeichnen wird. Ein Agitationsroman
in grellen Kontrasten, geschrieben unter dem Druck, nichts als Worte zu haben,
um die blinde Begeisterung für Hitler zur Vernunft zu bringen.

Von Lothar Quinkenstein
(24. 07. 2008)

...


   I did not die as the hero of the saga did.
Now stay if you like
but, if you want to, go.
..
(Charles Reznikoff)

   Seine Geburtsstadt Merzig liegt eine Fahrradtour von jenem Ort entfernt, in dem ich ins Gymnasium ging. Heimat, wenn man so will. Verkehrt in jenes Gegenteil, von dem die Heimat ungern spricht. Heimat, aus der man vor seinen Landsleuten flieht.

Wir Kinder vom Land machten Abitur, ohne seinen Namen je gehört zu haben. Argumente gegen eine Zeit, deren Pragmatismus uns quälend banal erschien, fanden wir bei Novalis, Hesse und Thoreau. "Magie der ewig einen Chiffre Wald", wie Jean Améry es in den Unmeisterlichen Wanderjahren so treffend ausgedrückt hat – wir waren ihr heillos verfallen, ständig auf der Suche nach Beweisen, die uns bestätigten in unserer zu spät gekommenen Sehnsucht nach einer Rebellion, die längst vorbei war und nur in der Provinz noch eine letzte Nippflut erlebte.

Während wir uns gegenseitig übertrumpften in unserem Bescheidwissen über deutsche Spießigkeit, lag der Jüdische Friedhof drei Straßen weiter. Wir aber fragten nicht nach Adolf Kahn, Johanna Levy, Moritz Moses, stattdessen nahmen wir das Dritte Reich in der Schule durch. Dort bestand es aus ruckelnden Schwarzweiß-Filmen, nach denen wir uns mit belegter Zunge in den Lärm der großen Pause verdrückten. Hätte uns damals jemand durch die Dörfer geführt und gesagt: hier wohnte Eduard Maas, KPD-Mitglied, Häftling in Dachau, erster Bürgermeister des Dorfes nach dem Krieg, gestorben an den Folgen dessen, was seine Landsleute ihm angetan hatten; hier wohnte der Bauarbeiter Nikolaus Hubig, der nach Frankreich floh und weiter nach Spanien, sich zu den Internationalen Brigaden meldete und am Jarama fiel; hier wohnte ein Bergarbeiter, der antinationalsozialistische Flugblätter in Heuhaufen versteckte, damit die Bauern sie fänden … ich weiß nicht, wie wir reagiert hätten. Nicht auszuschließen, dass wir in begriffsstutziges Schweigen verfallen wären. Hatten wir nicht gelernt, der Faschismus stamme von römischen Rutenbündeln ab?

"Das starke Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit hatte grundlegende Veränderungen in der Lebensführung aller Schichten zur Folge; es wurde 1974 durch die weltweite Rezession, die auch auf die Bundesrepublik Deutschland übergriff, zeitweilig unterbrochen."

   Mit diesem Satz schließt das Geschichtsbuch, das uns in die Gegenwart entließ. Besser könnte man die Ignoranz, die wir in unseren zu spät gekommenen Träumen reproduzierten, nicht beschreiben. Groß geworden mit den Existenzgründungserfolgen der sechziger und siebziger Jahre, hatten wir die Dimensionen aus den Augen verloren. Indianische Weisheit und altdeutsche Wehmut verkochten wir zu einem Rezept für die Rettung des Erdballs, anstatt in nächster Umgebung bei der Sache zu bleiben. An den Familientischen war immer irgendein Nachbar der Hundertfünfzigprozentige gewesen, hatte immer irgendeine Tante den Russen, Polen, Franzosen Kartoffeln über den Zaun geworfen (klammheimlich, versteht sich, damit der hundertfünfzigprozentige Nachbar es nicht sah). Ansonsten war von Zukunft die Rede, von Bausparverträgen – Deutschland hatte schließlich lange genug an Israel gezahlt (sagen wird man es doch wohl noch dürfen). Dem hielten wir trotzig die sterbenden Wälder entgegen. Hörten die musikalisch aufbereitete Rede des Häuptlings Seattle an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, bis wir sie auswendig wussten.

Wenn nach Feierabend die Kunst ihr Plätzchen bekam, glaubten wir, für Augenblicke einig zu sein in einer verführerisch schönen Erinnerung, die leider im emsigen Tagesgeschäft allzu rasch wieder verflog. Doch war die Sehnsucht, der sie huldigte, erst recht nicht Trauer um einen Verlust, dessen Realität jede Vorstellungskraft hätte sprengen müssen, sondern sorgsam gepflegtes Erbe vermeintlich besserer Zeiten. Eichendorff-Trauer, Tod-in-Venedig-Trauer. Wer sich danach noch für die Geheimnisse des Todes dreiunddreißig bis fünfundvierzig interessierte, hatte mit den Erinnerungen Albert Speers Phantastisches genug.

   Spuren, die zu Gustav Reglers Leben hätten führen können, enthält das besagte Geschichtsbuch im Kleingedruckten: die Saarabstimmung von 1935. Der Spanische Bürgerkrieg. Ihnen nachzugehen war im Lehrplan für Gymnasien des Saarlandes nicht vorgesehen.

"Nackt werde ich sein wie ein Hintern über der Latrine." Mit diesem Satz aus Reglers Großem Beispiel hätte das Kapitel zum Dritten Reich beginnen müssen. Vielleicht wäre uns damit auch die so genannte Heimat näher gekommen als in den Familientischerzählungen von einem Krieg, aus dem die Deutschen von den Alliierten befreit werden mussten.

   Geboren 1898, wuchs Gustav Regler in einem Haus auf, das nicht unbedingt typisch war für eine deutsche Kleinstadt dieser Jahre. Sein Vater Michael, ein kritisch-liberaler Kopf, führte eine Buchhandlung (diesen Beruf hatte er gegen die ihm zugedachte Priesterlaufbahn durchgesetzt), die Mutter Helene, mit einer Neigung zum Schwärmerischen, trug den drei Kindern selbst verfasste Gedichte und Geschichten vor. Zu den Kindheitserinnerungen gehören Spaziergänge an die deutsch-französische Grenze, wo der Vater dem jungen Gustav den für damalige Verhältnisse geradezu hochverräterischen Beweis erbringt, dass dem Geschmack nach nicht zu unterscheiden ist, welche Äpfel germanisch sind und welche gallisch.

Doch ist der Achtzehnjährige so weit auch Kind seiner Zeit, dass er es kaum erwarten kann, teilzunehmen am Großen Krieg. Die Realität der Schlachten bringt eine schwere Erschütterung – der Patriot vom Chemin des Dames erleidet nach Verwundung und Gasvergiftung einen Sprachverlust und wird im Februar 1918 als "dienstunbrauchbar" entlassen.

   Die folgenden Jahre, geprägt von Widersprüchen, sind vielleicht gerade deshalb typisch für diese Nachkriegszeit. Wandervogel und George-Verehrung, Nietzsche, die deutsche Mystik, die Münchner Räterepublik – das alles fließt im Tagebuch zusammen und lässt erkennen, dass die Gärung begonnen hat. Doch wird sie noch einmal gestoppt. Die Ehe mit Charlotte Dietze beschert ihm den Juniorchefsessel im Handelsunternehmen des Schwiegervaters, der außerdem die Dissertation des frisch Promovierten in seinem eigenen Verlag publiziert und dem jungen Paar großzügige Unterstützung gewährt. Lange hält Regler diese "Existenz im Goldenen Käfig“ (Günter Scholdt) jedoch nicht aus, und das Scheitern der Ehe ist wohl nur mehr willkommener Vorwand – 1926 sucht er sein Heil in der Flucht. Im Tagebuch dieser Zeit heißt es: "Die Unruhe wächst. Bücher häufen sich rings. Vorgeschobene Mauern vor der eigenen Seele, die klopft."

In seinem ersten Roman – Zug der Hirten (1928) – gestaltet er einen Konflikt, der in vielerlei Formen in seinen Texten wiederkehren wird: den Aufruhr eines Denkens, das glauben möchte, ohne seinen Frieden machen zu müssen mit dieser Welt. In der Lebensgeschichte (Das Ohr des Malchus) schreibt er zur Entstehung dieses Romans:

"Sich nicht schrecken lassen vom oft Gehörten! Das Einfache noch einmal einfach sagen! Wie oft hatte ich versucht, aus der Gewohnheit der Bibelbetrachtung herauszukommen! Der Gekreuzigte sagte mir nichts mehr, selbst der von Grünewald nicht, der wirklich eine neue Kraft des Leidens darstellte. (…) Im Murmeln der Gewohnheit zerrieb sich selbst das Vaterunser zu einem Geräusch über gefüllten Suppentellern."

   Wenig später, auf einer der zahlreichen Reisen, lernt er das Experiment Worpswede kennen. Marieluise (Mieke) Vogeler wird seine große Liebe, ihr Vater Heinrich führt ihn in die Ideen des Kommunismus ein.

Während er in den folgenden Jahren versucht, den Schriftsteller in sich zu begreifen, huldigt das Volk der Dichter und Denker immer begeisterter der Politik der "Metzgertänze" (Ernst Bloch). Die Massen, von denen George sich so peinlich berührt abgewandt hatte im Namen des schönen Scheins – nun brüllen sie wahrhaftig einem "Führer" ihren Applaus.

1933 kehrt Regler in seine Heimat – das dem Völkerbund unterstellte Saargebiet – zurück, um am Abstimmungskampf teilzunehmen. In zahllosen Kneipensälen tritt er vor Berg- und Hüttenarbeitern auf, versucht ihnen zu erklären, dass ihre Vaterlandsliebe von einer Diktatur missbraucht wird. Und er weiß, wovon er spricht. Er hat an Willi Münzenbergs Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror (1933) mitgearbeitet. Zwischen den Veranstaltungen schreibt er an seinem Saar-Roman Im Kreuzfeuer (1934), den er 26 Jahre später als "ein scheussliches Buch" bezeichnen wird. Ein Agitationsroman in grellen Kontrasten, geschrieben unter dem Druck, nichts als Worte zu haben, um die blinde Begeisterung für Hitler zur Vernunft zu bringen. "Nix wie hemm!", lautete die griffige Parole des Philologen Goebbels. "Unsere Losung hatte einen lateinischen Namen: Status quo. Status quo vor Arbeitern, die nur die Volksschule besucht hatten, Status quo vor Bauern, die zum Teil nicht lesen konnten (…)" (Das Ohr des Malchus). Am 13. Januar 1935 findet die Abstimmung statt. 89 Prozent wollen "hemm". Regler, zum Staatsfeind abgestempelt, flieht nach Frankreich.

   Die beiden nächsten Kapitel der Lebensgeschichte spannen den Bogen, der reißen wird: "Gott in Moskau" – "Madrid qui bien resiste …". Seine Teilnahme am Moskauer Schriftstellerkongress von 1934 stellt Regler im Rückblick aus der Perspektive des skeptischen Beobachters dar. Es ist nicht die einzige Retusche in diesem Buch, das in den Augen vieler Kritiker einer seiner literarisch besten Texte ist, der allerdings in biographischer Hinsicht etliche Fragen offen lässt.

Klaus Mann, der ebenfalls am Kongress von 1934 teilgenommen hatte, sieht Regler im Wendepunkt in jener Gruppe von Schriftstellern, die "das marxistisch-leninistisch-stalinistische Dogma in seiner reinsten und starrsten Form" vertreten. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass auch Der Wendepunkt zuweilen überquillt von mythomanischer Plaudersucht – aus der Luft gegriffen ist dieser "militante Glaubenseifer" (Klaus Mann) nicht.

Deutlicher als in der Lebensgeschichte ist die ideologische Krise im ersten Spanien-Roman gestaltet, der 1940 auf Englisch erschien – The Great Crusade (dt. Das große Beispiel, 1976), mit einem Vorwort von Ernest Hemingway. Regler verteilt den Konflikt auf zwei Figuren, konfrontiert die rigiden Ansichten des Politkommissars Albert mit der melancholischen Hellsicht des Arztes Werner. Symbolisch kehrt mehrfach Alberts Angina wieder: die Angst, die Enge – die Klemme, in der er steckt. "Das ist ein besonders ergiebiger Fall", geht es Werner durch den Kopf. Und: "Es wird nicht seine letzte Angina in diesem Krieg sein." Albert, der ihn einen "roten Psychiater" nennt, verteidigt am Ende des Romans noch einmal die harte Linie der Partei. In dem langen Gespräch, das sich daran entzündet, macht Werner keinen Hehl mehr daraus, dass er den Glauben an jegliche Dogmen verloren hat:

"Kannst du jemand dienen, mit Begeisterung dienen, der dich ewig schief ansieht, der mitten im Satz verstummt, wenn du ins Zimmer kommst? Ich nenne das Erziehung zum Verräter. Man wird es aus Opposition. Aus Rache. Es ist ein Befreiungsakt. Damit ihr endlich recht bekommt (…)."

In der englischen Ausgabe, die sich an wesentlichen Stellen von der deutschen unterscheidet (die im Übrigen keine Ausgabe letzter Hand ist), klingt es noch etwas schärfer: "I could never be happy if I had to smell the police at every street corner of our fine new world."

   Im Juni 1937 wird Regler bei Huesca so schwer verwundet, dass zahlreiche Berichte seinen Tod verbreiten. Während der langwierigen Rekonvaleszenz beginnt er mit der Arbeit am ersten Spanien-Roman; Juanita (1942 beendet, erschienen 1986) sollte der zweite werden. Außerdem leistet er nach wie vor politische Aufklärungsarbeit im Widerstand gegen das Dritte Reich. Etliche der Schriften, die in Tütchen mit Blumensamen oder eingefügt in einen Reclam-Klassiker nach Deutschland geschmuggelt werden, stammen aus seiner Feder.

Kurz nach dem Kriegsausbruch 1939 wird er in Südfrankreich interniert. Hier, im Lager Vernet, kommt es zum endgültigen Bruch mit der Partei. Der Hitler-Stalin-Pakt, die sowjetische Attacke gegen Finnland – es lässt sich nicht mehr schönreden.

Dass er aus dem Lager entlassen wird und in die USA ausreisen darf, hat Anlass zu bösen Beschuldigungen gegeben. Er habe sich die Freilassung mit dem Verrat von Kameraden erkauft, lautete der schwerste Vorwurf. Er habe ein Papier unterschrieben, dass er kein Stalinist sei, behauptete die mildere Version. Egon Erwin Kisch fällt in der Zeitschrift Freies Deutschland über ihn her (Februar 1942), es sind die bekannten Verleumdungen, die auch gegen Arthur Koestler, Manès Sperber oder Ignazio Silone in Umlauf gebracht wurden. Die Zeitung La Voz de México liefert eine unmissverständliche Illustration dazu: der "Baum des Verrats", der aus Trotzkis verwitterndem Schädel wächst. Auf einem der Äste, die sich als Schlangen winden, steht der Name Regler.

Die vertriebene Autorität von Gottes Gnaden wartet nur darauf, im Gewand der Theorie zurückzukehren. Dann reitet ausgerechnet in Jena, dem Treibhaus für blaue Blumen, der Weltgeist ein. Und der Symphonie, die den Mann der Tat in den Himmel hebt, folgt das Klavierkonzert, das den Tyrannen scheucht. Das wäre die wichtigste Lektion gewesen, die wir, geboren um jenes Jahr, das eben sein vierzigstes Jubiläum feiert, hätten lernen können. Waren wir denn nicht aufgebrochen aus der längst als zu eng empfundenen Provinz, um uns ernsthafter Lektüre zuzuwenden?

   Jetzt hätte ich ihm zum zweiten Mal begegnen können: in Mexiko, das ich mir ein Studium lang von Malcolm Lowry beschreiben ließ. Ignotum per ignotius, obscurum per obscurius … pseudokabbalistischer Budenzauber, Urräume der Finsternis, Mystik des Deliriums. Während in Rufweite neben dem alkoholisch verwilderten Paradies des Konsuls Gustav und Mieke auf der Terrasse ihres Exils saßen. Ich habe sie nicht bemerkt.

Im September 1945 stirbt Mieke an Krebs – nach zwölf Jahren freiwilligen Exils, die sie ihm zuliebe auf sich genommen hat. Regler nimmt Abschied von ihr mit einem Gedichtband, der ihren Namen als Titel trägt.

1946 heiratet er die Amerikanerin Margaret (Peggy) Irwin. Ihr Optimismus wird "für den so umfassend Gescheiterten", den nicht selten Melancholien heimsuchen, "zum Rettungsanker" (Günter Scholdt). Ein Handel mit mexikanischer Kleidung, ein nicht ganz so erfolgreicher Versuch im Obst- und Gemüsebau, die Einrichtung einer Pension für Feriengäste – dank dieser Initiativen Peggys konnte Regler in den folgenden Jahren noch einmal eine bewundernswerte Produktivität entwickeln. Jeder Schriftsteller würde diese Frau auf Händen tragen, und ein Foto in der Biographie von Günter Scholdt bezeugt, dass Regler das auch getan hat (soweit seine Konstitution nach der Verwundung von Huesca es ihm erlaubte). Im Lande Wilhelm Meisters aber blickt man bekanntlich tiefer, und da deutsche Intellektuelle seit jeher ihre Schwierigkeiten haben mit Amerika, danken wir es an dieser Stelle Ludwig Harig, dass er uns über die Phantasiefeindlichkeit von Peggys Zeigefinger aufgeklärt hat (zu finden in dem Band Begegnung mit Gustav Regler) – womit ein weiteres Mal bewiesen wäre, dass die Beweihräucherung des Hinterwaldes kein Weimar produziert, sondern die zu erwartende Stickluft.

   Mexiko. Vulkanisches Land, Verwunschenes Land – in den Texten der Vierziger und Fünfziger Jahre nimmt es immer breiteren Raum ein, inspiriert Regler zu poetischen Essays, die in ihrer Verknüpfung von Impression und Reflexion vielleicht mit zum Besten gehören, was er geschrieben hat. Auch hier setzt er die Erzählung der eigenen Geschichte fort, stattet seine Figuren mit Bruchstücken seiner Biographie aus, führt in neuen Spielarten das Gespräch zwischen Albert und Werner fort. Am Tag der Toten etwa, wenn er einen Psychoanalytiker und einen Kommunisten jeweils ihre Version der Entzauberung des karnevalistischen Jenseits-Kultes vortragen lässt. Oder wenn er Jorge, ein mexikanisches Alter Ego, mit folgenden Worten charakterisiert:

"Jorge brauchte das Abrupte. Er haßte es, gerade Wege zu gehen. Er misstraute dem Schönen, weil es ihm unwürdig schien, sich von seinem Glanz verblenden zu lassen und die Scheußlichkeit der Welt zu vergessen. Er misstraute aber ebenso seinem eigenen Zynismus."

Zugleich beobachtet er die Entwicklung im Nachkriegsdeutschland mit wachsamer Skepsis. In Alfred Anderschs Zeitschrift Texte und Zeichen erscheint 1956 Journal d`Europe, eine bitterböse Abrechnung mit der Bundesrepublik Adenauers.

   Mit seinen letzten Werken setzt er sich noch einmal zwischen alle Stühle. 1961 beendet er ein umfangreiches Romanmanuskript über den Maler Uccello – die Geschichte eines Raumbesessenen –, dem die Verlage reserviert gegenüberstehen. Regler, der nach den Verunglimpfungen, die hier den Renegaten, dort den Kommunisten meinen, Kritik an seiner Arbeit rasch als politisch motiviert versteht, wittert ein Komplott, vermutet gar Direktiven aus Rom, die das Erscheinen des Buches hätten verhindern sollen. Ähnliche Querelen begleiten die Versuche, einen Verleger für seine letzte Arbeit zu finden, Alles ist offen – Hellseher und Charlatane, zu der es in einem Lektoratsgutachten heißt: "Der gebürtige Katholik Regler, ehemaliger Kommunist, hat einen neuen Glauben gefunden, den an die Welt der Geister …" (zit. n. Günter Scholdt).

Am 14. Januar 1963 stirbt Gustav Regler während einer Indien-Reise in Neu-Delhi. Sein Leichnam wird dort verbrannt. Peggy bringt die Urne nach Merzig, um sie im Grab der Eltern beisetzten zu lassen.

   Seinen Nachlassverwaltern hat er es nicht leicht gemacht. "Er war Dichter oder literarischer Kolporteur, dazwischen kaum etwas." (Günter Scholdt) So ist es auf seine Weise fast schon wieder gerecht, dass Gero von Wilperts Deutsches Dichterlexikon von 1988 ihn aufführt, Metzlers Autorenlexikon von 1986 hingegen nicht.

Mit einem ästhetisch fragwürdigen Roman hat er 1934 Kopf und Kragen riskiert, in der mit ungeheurer Wucht erzählten Lebensgeschichte nimmt der Poet dem Augenzeugen immer wieder das Heft aus der Hand.

Kein Werk für analytische Askeseübungen, kein Werk für hermeneutisches Ringelspiel. Wer sich strikt an den Buchstaben hält, stolpert schnurstracks in ein Leben hinein. Darf sich erzählen lassen von einer Geschichte, die wahr ist – einer Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts.
 

Verwendete Literatur

Gustav Regler: Vulkanisches Land. Ein Buch von vielen Festen und mehr Widersprüchen. Saarbrücken 1947.

Gustav Regler: Das Ohr des Malchus. Eine Lebensgeschichte. Köln/Berlin 1958.

Gustav Regler: Das große Beispiel. Roman aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Frankfurt/Main 1976.

Klaus Mann: Der Wendepunkt. München 1989.

Begegnung mit Gustav Regler. Hg. v. VS Saar. Saarbrücken 1978.

Michael Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten. Stuttgart 1991.

Günter Scholdt: Gustav Regler. Odysseus im Labyrinth der Ideologien. Eine Biographie in Dokumenten. St. Ingbert 1998.

Hermann Volk: Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 – 1945. Saarland. Köln 1989

Zurück zur Übersicht