Über die Aurora

Aktuelle Ausgabe

Frühere Ausgaben

Suche

   Schwerpunkte    Theater     Kulturphilosophie     Belletristik      Literatur     Film     Forschung    Atelier     Musik  

......
Moralische Momentaufnahme

"Call Me God" im Marstall des Residenztheaters München: Der Beltway Sniper
in
der Regie von Marius von Mayenburg in einer krassen Bühnenshow samt schriller Satire
und Parodie
.
Theatrale und mediale Inszenierung in einer fragwürdigen Gesellschaft.

Von Tina Karolina Stauner
(15. 02. 2013)

...


"...wenn die wolken aufhören weiterzuziehen..." (Ostermaier)
 

   Die Menschen sollten Idyllen haben. Nur Idyllen. Optimalerweise. Natürlich. Manche scheinen es dazu zu bringen und andere nicht. Ob Idyllen leichter zu haben sind, wortlos oder wortreich, ist vielleicht eine Frage. Tatsache ist aber, dass unsere Welt insgesamt keine Idylle ist und offenbar eine Gewaltspirale samt Unglück  existiert, die sich dreht und dreht. Dies spiegeln die Medien tagtäglich wieder. Und zwar nicht wortlos. Sondern bis hin zu wortgewaltig.

Gibt es die Hoffnung, der sogenannten Gewaltspirale entgegenzuwirken? Oder ist längst alle Hoffnung aufgegeben worden. Auch von kritischen Kulturschaffenden?

Selbstverständlich wird auch in Kunst und Kultur Gewalt thematisiert. Als Korrektiv. Versteht sich. Um nicht das altmodische Wort Sozialkritik zu strapazieren. Nicht zuletzt im Theater befasst man sich mit den schwierigsten Stoffen. Ich habe vorbeigeschaut, wie es das Residenztheater derzeit bei der Inszenierung "Call Me God" tut: In Realismusfragmenten in einem länglich-schmalen, rechteckigen weißen Raum mit Tür, Fenster, Glasfront, entworfen von Nina Wetzel. Das Licht dazu designte Uwe Grünewald, die eingefügte Videoarbeit stammt von Sebastien Dupouey. Wahllos liste ich in der Reihenfolge Begriffe zur Inszenierung auf. Eine Reihenfolge scheint beliebig, so wie auch im Stück: Gewalt, Sex, Kunst, Ärzte, Gefängnis, Mord, Selbstmord, Todesstrafe, Wissenschaft, Medien, Tote, Lebende, Poesie, Prosa, Realität, Fiktion, Gefühle, Kälte, Monologe, Dialoge, Musik, Videos, Medikamente, Gift, Talkshow, Idylle, Zerstörung, Opfer, Täter, Moderator, Hysterie, Coolness, Überdruss, Langeweile, Sinnlosigkeit. Worte sind Worte sind Worte sind Worte. Bilder sind Bilder sind Bilder sind Bilder sind Bilder. Texte sind Texte sind Texte sind Texte sind Texte sind Texte.

   Vielleicht will der Konsument ein Worte-, Bilder- und Texte-Kaleidoskop in ständiger Bewegung in den Medien, der Kunst, damit er nirgends in der Realität in Ruhe mit Fakten konfrontierend überrascht wird, die er nicht aushalten kann, nicht aushalten will oder nicht ändern kann oder will? Weil also die Gewalt, die tatsächlich stattfindet, längst ein unerträgliches Ausmaß hat? Schließlich: Dabeigewesen sein und eine Veröffentlichung haben, ein Buch etwa, das ist es, was interessant zu sein scheint. Bücher, die irgendwer liest, oder niemand. Geschichten, die am liebsten schnell wieder abgehakt sein sollten. Wie diese samt dem Theaterstück "Call me God" nennt mich Gott. Diese Worte hatte ein Attentäter auf eine Tarotkarte notiert, um 10 Millionen Dollar Lösegeld zu fordern. Im Oktober 2002 war das gewesen. Als in Washington zwei Männer wahllos zehn Menschen erschossen hatten, drei weitere waren schwer verletzt worden. Der ältere der beiden Serienmörder wurde 2009 hingerichtet, der minderjährige Komplize bekam lebenslänglich.

Vier Theaterschriftsteller, der Italiener Gian Maria Cervo, der Argentinier Rafael Spregelburd, Marius von Mayenburg und Albert Ostermaier haben für "Call Me God" unabbhängig voneinander Texte zum Washington-Verbrechen geschrieben. Herausgekommen ist eine Koproduktion mit dem Festival "Quartieri dell'arte" in Viterbo, dem Festival "Romaeuropa" und dem Teatro di Roma. Die Residenztheater-Dramaturgin Laura Olivi, eine Italienerin, hatte mit Gian Mario Cervo das Thema jahrelang in Planung.

   Von Mayenburg stellt im Gespräch mit Ivana Garbage, Autorin von "American Gladiator. Crime and Fame in American Postwar Society", die Frage: "Und die Opfer?" Während diese Autorin in der amerikanischen Presse "gemeine Sphinx" genannt wurde für ihre enthüllenden Äußerungen darüber, wie Täter durch die Medien im Zentrum der Öffentlichkeit stehen. "Der sinnlose Mord stellt den radikalsten vorstellbaren Verstoß gegen sämtliche moralischen Prinzipien dar ...", beginnt sie. Cervo lässt wissen: "Mein Teil des Textes inszeniert kleine Bewegungen und kleine Aktionen, die transversal mit den Beltway Sniper-Attacks in Zusammenhang stehen ...". Spregelburd teilt mit: "Vermutlich tue ich, wenn ich über einige der traurigen, verschwendeten Leben schreiben will, die es vor einem Jahrzehnt in den Vereinigeten Staaten gegeben hat, nichts weiter als mich einem eher lokalen Horror, einem naheliegenderen, gefürchteteren und vertrauteren Monster zu stellen: der Bürokratisierung des Bösen." Ostermaier schreibt: "dein magazin des glücks war schnell leer ...".

Dass dies alles aus vier Perspektiven und Blickwinkeln betrachtet wird und dazu noch collagenartig, fast willkürlich, ineinandergeschnittene Bilder und Szenen gezeigt werden, entspricht der Intention, zu präsentieren, wie Medien und Unterhaltungsindustrie mit derartigen Themen umgehen. Die vier Schauspieler Katrin Röver, Genija Rykova, Thomas Gräßle und Lukas Turtur beobachtet man dabei in stetigem extremem Rollenwechsel zwischen dutzenden involvierter Personen in die gesamte Verbrechensgeschichte in Radio- und Fernsehstudios, CIA-Büros, Verhörzellen, Notaufnahmen und an Tatorten. An verbaler, psychischer und körperlicher Gewalt lässt die Regie es dabei an keiner Stelle fehlen. Die Fragen also: Wie gehen die Massenmedien mit der Thematik um? Wie die Politik? Und wie Kunst und Kultur? Wie ein Theater wie das Residenz in München?

   "Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf Information", lautet ein Satz im Theaterstück. Gleichzeitig wird die ganze Aufführung zur Lachnummer gemacht, auch die darin immanente Information. Regisseur Marius von Mayenburg bietet im Marstall das regelrechte zynische Ausnehmen des Themas. Vaudeville, Comedy, Slapstick, Splatter kommen dabei nicht zu kurz. Dass Gewalt nie und nirgends eine Lösung sein kann, das bleibt dabei außen vor. Es wird so rasant inszeniert, so klischeeartig und knallbunt, dass man zum Nachdenken gar nicht erst kommen kann. Entlarvt wird zwar. Aber bei dieser grellen Show wird man zum Zuschauer gemacht um des bloßen Zuschauens Willen. Der Unterhaltungswert eben. Teueres Staatstheater. Und aus einem einstmals kritischen Intellektuellen wurde oder wird flugs ein kommerzieller Konzernmitarbeiter.
 


Zurück zur Übersicht