Marlen
Haushofer ist 48 Jahre alt, als ihr 1968, zwei Jahre vor ihrem Tod, für den
Erzählband Schreckliche Treue der Österreichische Staatspreis
verliehen wird. Obwohl preisgekrönt, geraten Buch und Werk der Autorin bald
in Vergessenheit, um erst in den 1980er Jahren im Zuge der Frauenbewegung
wieder entdeckt und in ihrem Rang bestätigt zu werden. Eine
Wiederentdeckung, die allerdings nicht mit modischer Aktualität verwechselt
werden darf.
Das
grundpessimistische und introvertierte Werk Marlen Haushofers war
anachronistisch in der Zeit seines Entstehens, zwischen Wiederaufbau und
Studentenbewegung, und ist es heute im medialen Zeitalter der Globalisierung
erst recht. Der Hang der Autorin zum Rückzug, ihre Verweigerungshaltung und
ihre Vorliebe für alltägliche Stoffe, sind im Ansatz sicher biedermeierlich,
aber modern in dessen Radikalisierung. Die Abkehr, die schließlich eine
totale war, verweist auf ein totalitär gewordenes Ganzes, dessen Kainsmal
alle Figuren der Marlen Haushofer tragen als Zeichen ihrer Deformationen und
ihres Leidens an der Zeit. Wunden, die vom Gesellschaftskörper herrühren,
aber ins Privateste hinein reichen, und die dort unauslöschliche Spuren
hinterlassen. Die Spuren sind sichtbar und können benannt werden, die meist
weiblichen Träger jedoch bleiben anonym, die strukturelle Aggression hat
beharrlich abgetragen, was an ihnen autonom war, hat sie unkenntlich
gemacht. Ein Kaffeekränzchen á la Haushofer, es hört sich so an:
"Wir jedenfalls
werden im Spital sterben, von unseren Kindern wird uns keines pflegen.
Alle Frauen sterben im Spital." –"Das stimmt", gab der Sopran zu, "wenn
es soweit ist, wird man es eben aushalten müssen. Mir wäre jeder Tag
recht. Was hat man denn als Frau schon vom Leben." (F)
Die
so reden, sind alt und, wie man so sagt, gezeichnet: von der Abwesenheit des
Lebens in ihrem Leben, nicht vom Gewicht ihres Schicksals. Die typischen
Helden der Haushofer sind natürlich keine, sie bleiben in der Archaik ihrer
Charakteristik seltsam unbestimmt; andere verbergen ihre Identität hinter
Spitznamen, säkularen Pseudonymen gleichsam, die dem profanen Alltag
korrespondieren. Wieder andere sind tatsächlich namenlos wie die
Protagonistin in Haushofers bekanntestem Buch Die Wand. Oder wie die
vielleicht radikalste Figur, die sie schuf, der ausnahmsweise männliche
Protagonist in der Erzählung Die Stechmücke. Ein Leidender
selbstverständlich auch er, der vielleicht nicht ganz zufällig an Lord
Chandos von Hofmannsthal erinnert. Seine Schwermut hat allerdings nicht mehr
den Zug ins Grandiose, der den Neurastheniker des Wiener Dandy so
unwiderstehlich macht. Kein großer Einsamer also, sondern ein Exempel,
hinter dessen banaler Geschichte die gesellschaftliche Mechanik um so
unerbittlicher hervortritt.
Bezeichnenderweise setzt sein Lebensbericht darum mit der Schulzeit, nicht
der Kindheit ein. Als Kind weinte er jedesmal, wenn ein Mitschüler
geschlagen wurde (S), heißt es da gleich im ersten Satz. Kinder sind für
Marlen Haushofer, die ihre schriftstellerische Karriere mit Kinderbüchern
begann, neben den Tieren offenbar der leuchtende Kontrapunkt zur Welt der
Erwachsenen. Wenn sie von ihren Erziehungsberechtigten nicht buchstäblich in
den Tod getrieben werden wie das Mädchen Stella in Wir töten Stella,
so endet jedenfalls mit ihrem Eintritt in die Sozietät ihr kurzer Aufenthalt
im Paradies und es beginnt ihr Leben als Patient.
Man
kann sich, wie es geschah, über den naiven Rousseauismus der Autorin
mokieren, in der Luzidität seiner gesellschaftlichen Diagnose ist er darum
nicht weniger entlarvend. Es geht um Gesellschaftskritik, um den Nachweis
ihrer Genese aus der Gewalt. Vorgeführt jedoch vor einem scheinbar
ahistorischen Hintergrund, nicht aus der Sicht der Sieger also, sondern am
Beispiel der Verletzlichsten, jener, die dem Einfluss der Gewalt am
wehrlosesten ausgeliefert sind. Männer, die von ihren Frauen Besitz
ergreifen, Mütter, die männlichen Verhaltensmustern folgend nach ihren
Kindern greifen, und die Gesellschaft, die ihre Individuen formt. Und die
Opfer, die die Flucht ergreifen durch Mord und Selbstmord. Oder die den
gesellschaftlichen Druck durch Passivität zu unterlaufen suchen und sich in
ihren privaten Fluchtversuchen verlaufen, aus dem Haus in den Garten, aus
der Stadt aufs Land und vom Land, dem mörderischen Dorfidyll, weiter in die
Landschaft hinein.
Robinsonaden hat
man ihre Bücher darum genannt, ein Vergleich, der so weit hergeholt nicht
ist, wenn man den Kannibalismus auf der Isla Más a Tierra in Rechnung
stellt. Allerdings fehlen in den Büchern der ehemaligen Klosterschülerin und
HJ-Elevin der missionarische Eifer und jemand, den man bekehren könnte. Ein
Kind ist kein "edler Wilder" im Kleinformat und die Isolation in vitro mit
Kuh und Katze garantiert noch kein Goldenes Zeitalter. In Die Wand,
dieser postapokalyptischen Phantasmagorie, führt die Umkehrung der
"natürlichen" Ordnung – ein Mann muss sterben, weil er Tiere getötet hat –
schließlich nur zur Einsicht in die Unumkehrbarkeit der historischen
Entwicklung: Die Frau, die den Tieren zuliebe zur Mörderin wurde, begreift,
dass auch sie alleine bleiben muss, weil die Wand ihrer denaturierten Natur
sie unwiderruflich vom Lebendigen trennt. Der Mensch, das reflektierende,
aus der Art geschlagene Tier, stürzt am Tier vorbei in den Abgrund
(W). In der Erzählung Die Stechmücke tut er das nicht nur im
metaphorischen Sinn. Beim Versuch, eine Mücke zu retten, fällt der
lebensmüde Kriegsveteran aus dem Fenster und bricht sich den Hals. Um mit
den Tieren zu reden, bedarf es eines tieferen, eigentlich unmenschlichen,
vorsprachlichen Mitgefühls. Es bedarf jener "ungeheuren Anteilnahme"
(Hofmannsthal), die den verstummten Lord Chandos die Agonie eines Volks von
Ratten mimetisch nachempfinden lässt.
Marlen
Haushofers Figuren besitzen diese Gabe, heller zu sehen und zu hören als die
andern, die Menge der blind Bewegten. Hierin mag auch das viel gescholtene
politische Desengagement der Autorin seine Wurzel haben. Auch wo sie, wie in
der genannten Erzählung, Männer in das narrative Zentrum rückt, sind es
meist solche, die in der Gesellschaft der 1950er und frühen 1960er Jahren,
in denen die Texte entstanden sind, als "weibisch" oder efeminiert gegolten
haben müssen. Schmerzensmänner, Sensitive. Vor allem Männer, die sich
weigern, in den Konkurrenzkampf der Nachkriegszeit einzugreifen. Deren
Greifinstinkte versagen angesichts des still erwarteten und in seinen
Auswirkungen im Kleinsten bereits antizipierten großen Fiaskos. Alt oder
früh vergreist, sind sie allesamt Unproduktive, denen noch die Befriedigung
der vollbrachten Leistung versagt bleibt:
Er war jetzt
sehr müde, merkwürdig müde, vielleicht würde er noch einen Sprung in den
Park tun und ein paarmal tief atmen. (PaM)
Es liegt darin
auch ein Stück männlicher Selbstkritik, in dem sich das technische
Allmachtsimago selbst reflektiert, das die gesellschaftlichen Paradigmen und
Praktiken in den fortgeschrittenen Industrienationen bis heute nahezu
uneingeschränkt beherrscht.
Manchmal, wenn
sie gar nichts mehr im Griff haben, müssen diese Männer fallen oder werden
von ihrer Schöpferin fallen gelassen, damit an die Stelle ihres blindwütigen
Handelns Erkenntnis treten kann. Ihr Scheitern führt sie dann an die
Schwelle, wo das Wissen zur Vision sich ausweitet und über das Feld des
Zweckrationalen hinaus den verfemten Teil ihres patriachalen Erbes
miteinschließt: das animalische und vegetative Leben. Die Tiere, die sterben
müssen, und deren Tod nichts mehr festhält als das Fleisch, das wir essen,
weil sie als Totem ausgedient haben. Bäume und Blumen, die wir pflanzen, um
sie als Holz zu verarbeiten oder als Schnittblumen zu bewundern. Die Blumen
der Haushofer sind die typischsten: Tulpe, Rose und Lilie. Blumiges Ornament
einer Hausfrau, um den Geruch der Schlachthöfe, die Pestilenz der Geschichte
aus dem Eigenheim zu vertreiben? Oder ökologisches Refugium einer
passionierten Gärtnerin, die ihre Gartenarbeit als vitalen Gegensatz
begreift zur entwurzelten männlichen Botanik, die das, was sie
klassifiziert, erst der Biosphäre entziehen muss? Es verheißt jedenfalls
nichts Gutes, wenn die Blumen zum Bewusstsein erweckt werden:
Wie jeder
Mensch versuchte er zu vergessen, aber je mehr er sich bemühte, desto
heftiger bedrängten ihn die Bilder, die jetzt in seinem Hirn zu wuchern
begannen. (...) Tulpen konnten nicht leiden, zumindest wußte man nichts
darüber, sie schrien nicht und bluteten nicht, wenn man sie
zertrampelte. Nein, man wußte gar nichts darüber, es gab Schallwellen,
die der Mensch nicht hören konnte. Einen Augenblick lang erlag er der
Vision einer Welt, die von den Schmerzensschreien der Blumen, Gräser und
Bäume widerhallte. (ST)
In
ein wahrhaft futuristisches Bild fixiert hat diese Vision übrigens ein
anderer, der englische Schriftsteller und frühere Kampfpilot Roald Dahl,
dessen erste Erzählungen nach 1945 aus Albtraumprotokollen im Rahmen einer
psychoanalytischen Therapie entstanden und der den umgekehrten – man möchte
sagen – den gesünderen Weg vom Schriftsteller für Erwachsene zum
Kinderbuchautor beschritt. Eine dieser berühmt gewordenen Ungewöhnlichen
Geschichten erzählt von einem komischen Genie, einem mad scientist,
wie der englische Prototyp des verrückten Erfinders heißt, der die
Wissenschaftsgeschichte so schattenhaft begleitet wie der Melancholiker den
allgemeinen Zivilisationsprozess.
Klausner, so der
Name des Sonderlings, entwickelt einen Apparat, mit dessen Hilfe er in den
Lautkosmos der Pflanzen vordringt, in ein Gebiet, in das sich
Menschenohren noch nie gewagt hatten und eigentlich auch nicht wagen durften.
Wer einen Garten anlegt, der zieht damit auch eine Grenze. Nicht nur die
Kleingärten nach Schreber haben diesen Inselcharakter, aber diese haben ihn
natürlich besonders. Sie rühren ans Herz der kleinbürgerlichen Utopie von
der "Insel der Seligen". Solche Heimeligkeit hat ihren Preis, den Klausners
Wundergerät offenbart und seinem schüchternen Erfinder drastisch vorführt.
Es zeigt sich, dass es keine "harmlosen" Tätigkeiten gibt, kein Tun ohne
Fallstricke, und dass sich auch im Schneiden von Rosen die Apokalypse
ankündigt. Plötzlich hörte Klausner einen Schrei, einen entsetzlichen,
durchdringenden Schrei. (...) Er gellte genau in dem Augenblick, als
der Rosenstrauch durchgeschnitten wurde. Diese Erfahrung
bestätigt sich an einem Gänseblümchen, um erneut zum Abschluss noch an einem
Baum vorgenommen zu werden:
Klausner
stülpte den Kopfhörer über die Ohren und schaltete den Apparat ein. Er
lauschte ein Weilchen dem vertrauten schwachen Summen; dann ergriff er
die Axt, stellte sich breitbeinig hin und hieb sie mit aller Kraft dicht
über dem Boden in den Baumstamm. Die Schneide drang tief in das Holz und
blieb dort stecken. Im Augenblick des Aufpralls hörte er einen höchst
merkwürdigen Laut. Es war ein unbekannter Laut, anders als alles, was er
jemals gehört hatte, ein rauhes tonloses Dröhnen, ein brummendes, tiefes
Ächzen, nicht schnell und kurz wie der Aufschrei der Rosen, sondern
langgezogen wie ein Seufzen. Am lautesten war es, als die Axt aufschlug,
dann wurde es nach und nach schwächer, bis es schließlich verstummte.
Entsetzt starrte Klausner auf die Stelle, wo die Axt in das hölzerne
Fleisch des Baumes gedrungen war. Er umfaßte mit beiden Händen den Griff
der Axt, zog die Schneide behutsam aus dem Stamm und warf das Werkzeug
auf die Erde. Seine Finger tasteten über den Riß, der im Holz klaffte;
er versuchte, die Ränder zusammenzupressen, um die Wunde zu schließen,
und dabei murmelte er immer wieder: 'Baum ... ach, Baum ... Es tut mir
leid.' (L)
Der
Sturz aus dem Fenster bleibt Dahls gequälten Helden aber doch erspart:
Stattdessen fällt er in die Hände der Medizin. Selbstmord ist keine
Kategorie in der sarkastischen Science-fiction Roald Dahls. Vielleicht auch
keine der englischen Literatur. Sehr wohl aber in der Literatur Österreichs,
wo das Schuldbewusstsein immer nur mit erstickter Stimme sprechen durfte und
sogar nach der großen Katastrophe hellhörig verstrickt blieb in der
systemimanenten Hörigkeit.
Als Marlen
Haushofer 50-jährig an Krebs starb und sich mit demselben lakonischen
Pessimismus, der ihre Bücher kennzeichnet, in ihr eigenes Ende schickte,
wollten viele darin eine Abdankung sehen. Dass hier eine ihr Talent nicht
ausgeschöpft habe, hieß es da etwa an repräsentativer Stelle. Aber
schließlich gibt es vielleicht subtilere Formen der Affirmation als den
ruhelosen Vitalismus der Tüchtigen. Nicht Fallsucht oder Abenteuerlust, wohl
aber eine Art Todesbereitschaft als Solidarität mit dem unsicheren Leben.
Die Figuren der Marlen Haushofer machen, so viel ist wahr, einen oft
maßlosen Gebrauch von dieser Freiheit, schutzlos zu sein.
Zitate aus:
Marlen Haushofer
(F) = Furcht, in:
Schreckliche Treue, München, 2002
(PaM) = Porträt eines alten Mannes, ebenda
(S) = Die Stechmücke, ebenda
(W) = Die Wand, München, 2001
Roald Dahl
(L) = Der Lautforscher, in: ... und noch ein Küsschen, Reinbeck bei Hamburg,
2004