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Rumänische Dramatik als anregendes Puzzle

Nach einem Jahr Pause lockte das Nationaltheater "Mihai Eminescu" aus Temeswar
wieder Tausende von Theaterbegeisterten nach Westrumänien.

Von Irina Wolf
(09. 07. 2014)

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   Zum ersten Mal gestaltete die Theaterwissenschaftlerin Oana Borş als künstlerische Leiterin das Geschehen. Demzufolge setzten sich die Festspiele erstmals aus zwei zeitlich voneinander getrennten und eigenständigen Teilen zusammen. Fünf Tage lang drehte sich im Mai alles um das bekannte Festival der rumänischen Dramatik (FDR). Diesem folgte vom 10. bis 17. Juni das Europäische Festival der darstellenden Künste (FEST). Dabei wurde Vielfalt groß geschrieben: Sprechtheater, Performance, Stand-Up-Comedy, Tanz- und Straßentheater erwarteten die Zuschauer an fünf verschiedenen Spielorten.

Reichtum an Themen und Stilen

   "Ich habe versucht, ein Puzzle aus Stücken zu legen, die einen Blick auf die zeitgenössische rumänische Dramatik werfen und trotzdem die Neuinterpretation von klassischen Texten nicht auslassen", so Oana Borş über das Programm des FDR, das sich hauptsächlich den jungen Theaterschaffenden widmete. Dabei zeichneten die Autoren in mehr als der Hälfte der Werke gleichzeitig für die Regie verantwortlich, darunter so bekannte Namen, wie Gianina Cărbunariu, David Schwartz und Bogdan Georgescu. Die Fülle von Themen erstreckte sich von Korruption und Nationalismus über Migration und Integration bis hin zur Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit des Landes.

Mit viel Humor zeigten mehrere Vorstellungen einen Spiegel der heutigen rumänischen Gesellschaft, so z.B. Radu Iacoban in der mit witzigen Einfällen gespickten Komödie Carpathian Garden, das Theater Fix aus Iaşi im Gemeinschaftswerk Dreaming Romania oder Gianina Cărbunariu in Solitaritate. Diese im Rahmen des EU-finanzierten Projektes "Cities on Stage" entstandene Koproduktion wird beim diesjährigen Avignon-Theaterfestival aufgeführt.

   Dass Gianina Cărbunariu ein etablierter Name in der europäischen Theaterszene ist, davon zeugte ihre zweite im Rahmen des FDR programmierte Inszenierung: Schrift in Großbuchstaben (Tipografic Majuscul) entstand im groß angelegten Projekt "Parallel Lives – das 20. Jahrhundert durch die Augen der Geheimdienste gesehen" des Internationalen Theaterfestivals Divadelná Nitra in der Slowakei. Auf der Grundlage von Akten und Dokumenten der Archive der ehemaligen Securitate entwickelte Cărbunariu ein bewegendes Stück und brachte die Lebensgeschichte eines Schülers auf die Bühne, eines der vielen Opfer des rumänischen kommunistischen Geheimdienstes.

Seit nunmehr sieben Jahren hat sich David Schwartz dem Dokumentartheater gewidmet. Am falschen Ort (Nu ne-am născut la locul potrivit) heißt das Stück, mit dem er, zusammen mit Alice Monica Marinescu, 2012 den österreichischen Wettbewerb "Über Grenzen sprechen" gewann und das das Schicksal der Flüchtlinge im heutigen Bukarest auf berührende Weise behandelt.

   Abseits des sozialpolitischen Theaters warfen neue Namen einen frischen Blick auf vermeintlich Altbekanntes. Die mit sprudelnder Fantasie von Catinca Drăgănescu und Eugen Jebeleanu erzählte Geschichte dontcrybaby basiert auf dem Märchen Rotkäppchen der Gebrüder Grimm. Daraus schuf Jebeleanu, zusammen mit den Schauspielern, hauptsächlich durch Improvisationstechniken, eine bemerkenswerte Performance, die Schuld und Unschuld, Opfer und Täter, auf originelle Weise beleuchtet.

Zu den neuen Namen zählt auch die aus Kronstadt stammende Elise Wilk. Als Teilnehmerin am internationalen Autorenprojekt "Fabulamundi, Playwriting Europe" schrieb sie Die grüne Katze (Pisica verde), die von den Mühen des Erwachsenwerdens erzählt und dabei lakonisch und nahezu beiläufig einen Mord unter Teenagern rekonstruiert. Das schon in zahlreiche Sprachen übersetzte Stück wurde von Studenten der Nationalen Theater- und Filmakademie Bukarest unter der Regie von Cristi Juncu auf der Bühne umgesetzt. Ein großzügiges Rahmenprogramm aus Konzerten und Buchpräsentationen, der Endphase des nationalen Dramatikwettbewerbs, sowie einer Jubiläumsausstellung, gewidmet dem berühmten rumänischen Maler und Bühnenbildner George Löwendal, unterstrich das Potenzial des Festivals als "Schaufenster der rumänischen Dramatik".

Facettenreiches europäisches Programm

   Mit FEST, als Bindeglied zum europäischen Theater, begann schließlich der zweite Teil der Festspiele. Ein vielschichtiges und breit gefächertes Programm bot für jeden Geschmack das Richtige. Weit über den Köpfen der Zuschauer entfaltete sich etwa die von der spanischen Gruppe Puja! frei nach Alice im Wunderland erzählte Geschichte Do Do Land, in der der exotische, flugunfähige Dodo-Vogel im Vordergrund stand. Schattenspiele an den Wänden des Nationaltheaters, Akrobatikshows über den Dächern von Temeswar sowie eine Live-Band mitten auf dem Theaterplatz sorgten für große Begeisterung und hinterließen einen unvergesslichen Eindruck.

Ein Tanztheater besonderer Art lieferte am darauffolgenden Tag die ebenfalls aus Spanien angereiste Gruppe SenZa TemPo. Blitzartig wurde der Kran, der die Akrobaten am Vortag in der Luft schweben ließ, abmontiert und stattdessen ein aufblasbares Schwimmbecken, das nicht weniger als 7.000 Liter verschlang, montiert. "Das Mittelmeer gibt es nicht … Es handelt sich nur um ein innerliches Meer, das von jedem von uns täglich bereist wird und dessen Wasserfarbe die Tiefe unserer Erinnerungen widerspiegelt. Lazurd ist eine Reise durch solche Gewässer. Dabei wird der Weg der vom Aussterben bedrohten Nomadenvölker und deren Exodus auf der Fahrt zu einer besseren Welt verfolgt", sagen die Produzenten.

   Für mich bleibt jedoch Parallel, eine Produktion der GroundFloor Group aus Klausenburg, der absolute Höhepunkt dieses Festivals. Ausgehend von den persönlichen Erfahrungen und Vorschlägen der zwei Protagonistinnen wurden große Tabuthemen der rumänischen Gesellschaft direkt angesprochen: die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper, mit der Geschlechtsidentität, mit der lesbischen Liebe und den damit verbundenen Klischees. In einem minimalistischen Bühnenbild boten Lucia Mărneanu und Kata Bodoki-Halmen mit viel Spielfreude und Humor eine einmalige Performance. Was als energiegeladener Aerobic-Tanz begann, endete als Spiel zwischen Frage-Antwort-Stellung und Drag-Show. Einzigartig das Konzept von Ferenc Sinkó, der zusammen mit Leta Popescu auch Regie führte. Eine dynamische, bewegende, nachhaltige Vorstellung. Dass es Standing Ovations gab, ist nicht verwunderlich.
 


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