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Geklonte Identitäten

Fast zwei Stunden scheinbar wirrer Episoden, Livemusik auf der Bühne, Film-
einblendungen auf der Leinwand, Tanzsolos und einstudierte Bewegungen im Gleichtakt
mehrerer Tänzer: Dies sind unverwechselbare Merkmale einer Theaterperformance
des flämischen Künstlers Jan Lauwers und seiner Needcompany.

Von Irina Wolf
(01. 12. 2009)

...





Irina Wolf
wolfirina [at] yahoo.com


wurde in Bukarest geboren.
Nach Abschluss ihres Infor-
matikstudiums kam sie 1988
durch ein Herder-Stipendium
nach Wien. Nach mehreren
Jobs im Telekommunikations-
und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Handelsbereich. Seitdem
arbeitet sie bei der Friedrich
Wilhelm GmbH & Co.KG
und hält weiterhin engen
Kontakt mit Rumänien.

 



 


(c) Burgtheater,
Eveline Vanassche

 

 

 


(c) Burgtheater,
Eveline Vanassche

 

 

 


(c) Burgtheater,
Eveline Vanassche

   Nach dem Erfolg mit "Isabella's Room", dessen zweihundertste Vorführung im September im Burgtheater zu sehen war, kehrte Jan Lauwers, derzeitiger Artist in Residence am Burgtheater, im Oktober mit dem zweiten Teil seiner Trilogie "Sad Face/Happy Face Drei Geschichten über das Wesen des Menschen" nach Wien zurück. Dieses zweite Stück, "The Lobster Shop", erzählt die Geschichte von Axel und Theresa. Axel ist Gentechniker und verliert seinen Sohn infolge eines Unfalls: zwei Kinder treten und schlagen sich brutal am Strand während die Väter einfach nur zuschauen – in der Vorstellung am Akademietheater via Filmeinblendung gezeigt. Axels Trauer zerstört die Ehe mit Theresa. Als sie ihn verlässt und seine psychiatrische Therapie keine Folgen zeigt, beschließt Axel, sich das Leben zu nehmen. Ein letztes Mal geht er in sein Lieblingsrestaurant, den Lobstershop an der Rue de Flandre, und bestellt Hummer mit Sauce Armoricaine. Doch der Kellner stolpert und das Essen landet auf Axels weißem Anzug. Während er in der Restauranttoilette die Sauce wegzubekommen versucht, sieht er im Bruchteil einer Sekunde sein Leben vorbeiziehen.

In einsamen Hotelzimmern, bei laufendem Fernseher

   Was mit Humor und romantischer Sentimentalität beginnt, endet in zynischem Realismus. Nicht umsonst sagt Jan Lauwers, dass er das Stück "in einsamen Hotelzimmern, bei laufendem Fernseher" geschrieben habe. Sein Text ist fantasiereich und humorvoll, aber auch sozial und politisch. So klont Axel etwa den ersten Menschen, einen Mann namens Salman, "zu Ehren des verhassten Schriftstellers Salman Rushdie", dessen "Menschlichkeit auf mehrfache Weise zerstört worden war". Der neue Mensch "stirbt vor Langeweile", die ihn so überwältigt, dass er Autos in Brand setzt.

Der stolpernde Kellner heißt Mo, dessen Name eine Abkürzung von Mohammed sein kann, ein Terrorist oder Bootsflüchtling, ein Menschenschmuggler, ein Atheist oder einfach nur ein Fischer, der Probleme mit seinem Boot hat. Er ist ein Identitätsloser. Das ist auch sein Problem: "Ich bin, aber wer bin ich?"

Axels Frau schluckt Pillen, während ihr von Albträumen geplagter Mann sich bei der Psychiaterin behandeln lässt. Der Gentechniker Axel hängt an seiner Markenkleidung, den Gucci-Espadrilles und seiner Armani-Safarihose, "denn guter Geschmack ist ein Zeichen von Macht". Als Wissenschaftler interessiert er sich "längst nicht mehr für Krebs", sondern "für Klone und körperlose Daseinsformen". Neben dem ersten Menschen ist er auch der Erzeuger des ersten Klons eines Bären.

Visuelle Intensität, markante Tänze

   So schildert Jan Lauwers unsere Zukunft, in der es "nach den großen Überflutungen und globalen Hasskampagnen des frühen 21. Jahrhunderts, welche die Demokratie vollkommen zerstört und jeden gezwungen hatten, um sein eigenes Leben zu kämpfen, ... eine Generation von Kindern geben würde, die keinerlei Anstrengungen unternehmen wollte, um irgendetwas zu erreichen".

In einem futuristisch anmutenden, in weiß gehaltenen Bühnenbild (gestaltet übrigens vom Autor selbst, der auch für die Regie zeichnet), spielt sich diese vieldeutige, fantasievolle Geschichte ab. Auf der zentral platzierten, überdimensionalen Leinwand werden immer wieder Filmsequenzen eingeblendet. Schon beim Betreten des Saales, noch vor Beginn der Aufführung, zieht ein Mann, der (wie sich später herausstellt) Mo ist, Kreise mit einem Motorboot.

Mit passenden Videoprojektionen und effektvoller Musikuntermalung wird der gesprochene Text auf eindrucksvolle Art präsentiert. Auf das Ufer brechende Wellen unterstreichen wirkungsvoll Axels Trauer, zu der Grace Ellen Barkey (Theresa) mit einem markanten Tanzsolo vollends überzeugt, zweifellos einer der Höhepunkte der Aufführung. Jedoch ist der äußerst einprägsame Abend der Truppe als Ganzes zu verdanken, ihrem schonungslosen körperlichen Einsatz, der besonderen Leidenschaft und Professionalität dieser Tänzer, Sänger und Schauspieler, die selbst die Musik, Kostüme und Choreographie gestalten. Alles in allem eine durchaus gelungene, abwechslungsreiche Performance.



(c) Phile Deprez/Needcompany

Jan Lauwers
1957 in Antwerpen geboren,
studierte Malerei an der Kunst-
akademie in Gent. 1979 grün-
dete er das Epigonenensemble,
das 1981 in das Kollektiv
Epigonentheater zlv umge-
wandelt wurde und zum
radikalen Wandel der fläm-
ischen Theaterszene in den
frühen 1980er Jahren beitrug.
Das Kollektiv präsentierte
direktes Theater von starker
visueller Präsenz, das Musik
und Sprache als strukturierende
Elemente gebrauchte. Die
Zunahme von Lauwers’ Ein-
fluss innerhalb des Epigo-
nentheater zlv führte 1985
zu dessen Auflösung und
zur Gründung der
Needcompany.

Sowohl in der Zusammen-
setzung der Schauspieler als
auch in der Arbeitsweise ist
die Needcompany international
orientiert; von Anfang an wurde
jede Produktion in verschied-
enen Sprachen aufgeführt. Auch
der internationale Erfolg stellte
sich bald ein. Während die
ersten Arbeiten – etwa Need
to know
(1987) und ça va
(1989) noch stark visuell
geprägt waren, gewannen im
Folgenden die erzählerische
Linie und die Herausarbeitung
eines zentralen Themas an Be-
deutung, wobei die fragmen-
tierte Struktur aber beibe-
halten wurde.

Nach Invictos (1991), dem
Monolog SCHADE/Schade
(1992) und der Oper Orfeo
(1993) realisierte Lauwers von
1994 bis 1996 The Snakesong
Trilogy
. Für die documenta X
kreierte er 1997 Caligula (nach
Camus) als ersten Teil des
Diptychons No beauty for me
there, where life is rare
; der
zweite Teil Morning Star (1999)
brachte Lauwers und der
Needcompany in New York
einen OBIE Award ein. Mit
dem Frankfurt Ballett erar-
beitete er DeaDDogsDon’t
Dance/DjamesDjoiceDeaD
(2000). Auf Images of Affection
(2002) folgten 2003 unter dem
Titel No Comment drei Mono-
loge sowie ein Tanzsolo, in
denen sich Lauwers seinen
seit jeher bevorzugten Themen
Gewalt, Liebe, Erotismus
und Tod widmet.

Zu Lauwers jüngsten Arbeiten
zählen Isabella’s Room (2004),
das ebenso wie The Lobster
Shop
(2006) und dem Monolog
All is Vanity (2006, mit Vivianne
De Muynck) seine Premiere
beim Festival d’Avignon erlebte.
Anlässlich des 20-jährigen
Bestehens der Needcompany
präsentierte Lauwers mit seinen
Schauspielern im März 2007
im Brüsseler BOZAR die
Walk-In-Installation Need-
company Deconstruction
. Im
November des Jahres folgte
beim Theaterfestival Spielart
Deconstruction 07 im Münchner
Haus der Kunst. (Quelle:
Salzburger Festspiele)


"Wir haben kein leichtes Leben"

Jan Lauwers im Gespräch mit Irina Wolf


I
rina Wolf: Sie sind "Artist in Residence" beim Burgtheater. Was bedeutet das für die Needcompany? In einem Artikel in der Presse vom August 2008 sagten Sie, "das vorhandene System beeinflussen" zu wollen. Was darf man sich darunter vorstellen?

Jan Lauwers: Niemand weiß, was das bedeutet. Nach meiner erfolgreichen Zusammenarbeit mit Matthias Hartmann beim Schauspielhaus Zürich haben wir beschlossen, einen Versuch unter dem Namen "Artist in Residence" in Wien zu starten. Das Burgtheater ist ein Riesensystem, daher hatte ich erwartet, ein starres Theaterhaus vorzufinden. Das ist nicht so. Ich war angenehm überrascht von seiner Flexibilität und Öffnung für neue Theaterformen. Die Zusammenarbeit ist für mehr als eine Theatersaison vorgesehen. Wir haben in dieser Saison Needlapb 16 sowie zwei Stücke aus dem Repertoire der Needcompany, Isabella's Room am 23. und 24. September im Burgtheater und The Lobster Shop an drei aufeinanderfolgenden Abenden ab 16. Oktober im Akademietheater aufgeführt. Im Juni 2010 (genauer am 18., 19. und 20. Juni) werden wir in Wien den dritten Teil der Trilogie The Deer House vorstellen. Gleichzeitig wird es ein gegenseitiges Kennenlernen und eine Annäherung zwischen den zwei Ensembles sowie ihrer unterschiedlichen Arbeitsweisen geben. Das soll zur Folge haben, dass in der Saison 2010/2011 eine bis zwei Mischproduktionen entstehen, die in Wien 2011 uraufgeführt werden. Das, was ich an Burgtheaterproduktionen bisher gesehen habe, hat mir gefallen. Ich habe schon ein paar Ideen. Die endgültige Entscheidung für eine Zusammenarbeit wird jedoch jedem Schauspieler frei gelassen. Niemand wird dazu gezwungen werden, mit uns zu arbeiten, im Gegenteil er/sie soll spüren, dass sie dazu gehören wollen. Genau dies soll zu einer erfolgreichen Zusammenarbeit führen.

Irina Wolf: Tijen Lawton, eine der Tänzerinen Ihrer Gruppe (dessen autobiographische Geschichte als Inspiration zu The Deer House gedient hat), hat vor Kurzem die Needcompany nach 12 Jahren verlassen. Sie sind immer auf Tournee unterwegs. Wie war es möglich, so schnell einen Ersatz zu finden?

Jan Lauwers: Ich hatte Glück.

Irina Wolf: Was für Kriterien muss ein Künstler erfüllen, um in die Needcompany aufgenommen zu werden?

Jan Lauwers: Er muss vor allem sein Metier, sei es als Tänzer oder als Schauspieler, perfekt beherrschen. Selbstverständlich sollte er mehrere Fremdsprachen kennen, da unsere Aufführungen mehrsprachig sind. Die Notwendigkeit einer körperlichen Hochform ist auch ein Muss. Insbesondere aber soll er sich seinem Beruf voll widmen. Improvisation wird in unseren Aufführungen nicht gebraucht. Wir haben kein leichtes Leben, da wir uns mehr als 150 Tage im Jahr auf Tournee  befinden und mehrere Mitglieder der Needcompany Familien haben. Es war nicht leicht, eine kompakte Gruppe zusammenzuschweißen.

Irina Wolf: Wie haben Sie das Wiener Publikum empfunden?

Jan Lauwers: Das Publikum ist frisch und aufnahmefähig. Man merkt, dass wir es hier mit Zuschauern zu tun haben, die oft ins Theater gehen. Es ist ein Publikum, offen für neue Theaterformen, das die Aufführungen emotionsgeladen erlebt.

Irina Wolf: Sie waren 2007 in Bukarest um Isabella’s Room beim Nationaltheaterfestival zu zeigen. Wie haben Sie das dortige Publikum erlebt?

Jan Lauwers: Es war eine neue Erfahrung. Ich war zum ersten Mal in Rumänien und wurde besonders warm empfangen. Ich habe mich mit mehreren Leuten unterhalten und dabei den Eindruck gewonnen, dass sie umfangreiche Kenntnisse, unter anderem aus der Weltliteratur besitzen. Die Stadt selbst strahlt eine einmalige Energie aus, eine Energie des Wandels nach dem Fall des Kommunismus.

Irina Wolf: Das Symbol der Needcompany ist ein Hirsch. Warum gerade ein Hirsch?

Jan Lauwers: Weil sein Bild mir Hoffnung gibt. Jedes Mal, wenn ich durch den Wald spaziere und einen Hirsch sehe, kommt er mir besonders schön vor und ich spüre, dass noch nicht alles verloren ist, dass es noch Hoffnung gibt.



Das Interview erschien als Erstveröffentlichung
in "Teatrul azi": www.teatrul-azi.ro

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