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"Wir wollen diesen kindlichen Blick wiedererlangen"

 Ob man sie nun liebt oder hasst: Nach dem Besuch einer Vorstellung von Stefano
Ricci und Gianni Forte kann man nicht gleichgültig bleiben. Sinnlich und experimentell,
poetisch und gleichzeitig visionär – das populäre Underground-Duo aus Rom
bietet mitreißendes Theaterspektakel vom Feinsten.

Interview von Daniela Magiaru & Irina Wolf
(02. 03. 2013)

...




(c) www.muvideo.biz

 Das aus Rom und Trani
(Apulien) stammende Künstler-
duo Stefano Ricci und
Gianni Forte lernte sich Mitte
der 1990er Jahre bei gemein-
sam besuchten Workshops
kennen, die sie im Rahmen
ihres Theaterstudiums absol-
viert hatten, unter anderem bei
Silvio d’Amico in Rom und
Edward Albee an der New
York University.

Nach der Entscheidung, sich
als "ricci/forte" zusammenzu-
tun, wurden bereits ihre ersten
Stücke mit Kritikerlob bedacht
und mit namhaften Preisen wie dem Oddone cappellino, Valle-
corsi oder Premio Studio 12
versehen. Internationale Be-
kanntheit erlangte u.a. ihre
Bearbeitung von Aristophanes'
"Pluto" 2009, die mit dem
Kritikerpreis für den besten
Text bei der Biennale Vene-
zia ausgezeichnet wurde.

Gastspiele führten ricci/forte zuletzt durch ganz Europa,
u.a. nach Belgien (Les Halles/
Brüssel), Kroatien (Queer Zagreb), Slowenien (Festival
Mladi Levi/Ljubljana), Rumänien
(Underground Theatre Festival
Arad), England (Lingering
Whispers in London), Deutsch-
land (glow in Berlin), Molda-
wien (BITEI Festival in Chişi-
nău) oder nach New York
(Queer New York Internat-
ional Arts Festival).


Linktipp

www.ricciforte.com

 

 

 

 

"Die Meister werden in
scharfer Soße gekocht –
sie werden gegessen,
hinuntergeschluckt und
verdaut, um sich von ihrer
Weisheit zu ernähren."

 

 

 

 


(c) piccoloteatro.org

"Imitation of Death"
(ricci/forte, 2012)

 

 

 


"Ursprünglich gab es kein
einziges geschriebenes
Wort, tagsüber arbeiteten
wir mit den Schauspielern,
um dann nachts den Text –
ähnlich einer vierhändigen
Symphonie – zu entwerfen."

 

 

 

 


(c) piccoloteatro.org

"Imitation of Death"
(ricci/forte, 2012)

 

 

 

 

"Aus Konzentrationsmangel
gab es leider in Mailand
einen Unfall. Zwei Performer
haben die Köpfe so stark
gegeneinander geschlagen,
dass sie verarztet werden
mussten."

 

 

 

 


(c) piccoloteatro.org

"Imitation of Death"
(ricci/forte, 2012)

 

 

 

 

"Wir wollen nicht, dass die
Zuschauer auf schönen
roten Sesseln im Theater-
saal sitzen und sich passiv,
ähnlich wie vor einem
Fernseher, unseren
Vorschlag anschauen."

 

 

 

 


(c) piccoloteatro.org

"Imitation of Death"
(ricci/forte, 2012)

 

 

 

 

"Manche sagen, dass wir
sehr schroff sind. In Wahr-
heit ist es keine Schroffheit,
sondern ein Lob auf die
Fantasie."

 

 

 

 

"Troia's Discount"
(Werbeplakat, 2010)

 

 

 

 

"Die Kunst erlaubt uns,
die Stimme des Anderen
zu werden, Gemeinsamkei-
ten zu teilen. Dadurch wird
... die Einsicht vermittelt,
dass wir alle unter demsel-
ben Himmel leben, dass
wir nicht alleine sind."

 

 

 

 



"100 % Furioso"
(Werbeplakat, 2008)

 

 

 

 

"Abhängig davon, wie
 viele Zentimeter nackter
Haut in unseren Performan-
ces gezeigt werden, klassi-
fiziert man uns als Künstler,
die die Grenzen überschrei-
ten. Nacktheit ist also noch
immer ein Anathema, es
wird betrachtet als etwas,
das mit dem Teufel zu
tun hat."

 

 

 

 


(c) ricciforte.com

"Wunderkammer Soap"
(ricci/forte, 2009)

 

 

 

 

"Die Schauspieler sollen
nicht glauben, dass jeder
für sich alleine alles
machen kann."

 

 

 

 

Linktipp
www.goethe.de/ins/it

 

 

 

 

 

"In dieser Szene teilt einer
mit fünfzehn anderen auf
der Bühne sein Wissen. So
versucht jeder zu verstehen,
dass wir uns in Wahrheit
alle unter denselben Bedin-
gungen auf demselben
Weg befinden."

 

 

 

 

 

 

 

"Giorgio Strehlers Theater-
haus steht für die italie-
nische Tradition, die Tradi-
tion des bürgerlichen
Theaters. Das dortige Publi-
kum kannte nicht unser
"Alphabet", sah zum ersten
Mal eine unserer Inszenier-
ungen. Wir konnten in ihren
Augen die Überraschung
lesen."

 

 

 

 

 

 

 

"Stöckelschuhe sind nicht
da, um zu verführen oder
sich über die weibliche
Sinnlichkeit lustig zu
machen. Sie stellen eine
Identitätsmigration, eine
Untersuchung der Heuche-
lei, Vorurteile und Grenzen
unserer Gesellschaft dar."

 

 

 

 

 

 

 

 

"Jeder von uns lebt isoliert,
versucht alleine einen
Sinn des Lebens zu finden,
während die anderen ihr
eigenes Leben mit den je-
weiligen Problemen führen.
Jeder 'reist' also alleine.
Wir versuchen, diesem
Zustand einen Gegenpol
entgegenzusetzen."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.

 

 

Daniela Magiaru,
 
Philologin, Theaterkritikerin,
Übersetzerin, Professorin.
Schreibt regelmäßig für die
Zeitschrift Orizont, publiziert
Rezensionen in wichtigen
rumänischen Kulturzeit-
schriften. Publikationen in
zahlreichen Zeitschriften und
Büchern in Belgien, Österreich,
Deutschland, Ungarn und der
Türkei. Autorin des Bandes
Matei Vi
şniec, mirajul cuvin-
telor calde
(2010). Koordina-
torin von Kinder- und Jugend-
theaterprogrammen. Litera-
rische Beraterin des unga-
rischen Staatstheaters
"Csiky Gergely" Temeswar.

   "Leben in der Kunst kann nur durch das Fehlen des Lebens, durch einen Appell an den Tod, ausgedrückt werden". So lautet ein bekannter Satz von Tadeusz Kantor, dem berühmten polnischen Theaterregisseur, Maler, Bühnenbildner und Kunsttheoretiker. Dieser Gedanke war die zündende Idee für Imitationofdeath, ricci/fortes neuester Performance. Stefano Ricci und Gianni Forte, das Künstlerduo aus Rom, gelten als die Theatermacher der italienischen alternativen Szene.

Einen wesentlichen Baustein davon bildet die musikalische Umrahmung. Ihre Performances faszinieren aber vor allem durch den vollen Körpereinsatz der Schauspieler, sei es als Einzelperson oder Gruppe. Mit tiefgründigen Inszenierungen zu aktuellen Themen wie dem modernen Konsumismus oder der Auseinandersetzung mit der inneren Leere des heutigen Menschen haben sie sich einen Namen gemacht.

Nach dem erfolgreichen Start 2006 mit Troia's Discount, erhielten sie im Sommer 2012 minutenlang Standing Ovations mit Grimmless in Moskau. Im selben Jahr schafften sie eine Sensation: ricci/forte ist die erste Underground-Gruppe, die im Mailänder Piccolo Teatro, im "Tempel" der italienischen Szene, gespielt hat. Auch dieser Auftritt war von glänzendem Erfolg gekrönt, sodass sie bereits für 2013 in Giorgio Strehlers Theater nach Mailand eingeladen wurden.
 

Irina Wolf: Welche Quellen dienen als Inspiration für Eure Inszenierungen?

Stefano Ricci: Eine Idee ist ähnlich einer Beziehung zwischen mehreren Personen. Zuerst gibt es eine Frage. Diese "reist" durch unser Innerstes, bis daraus die Notwendigkeit ihrer Umsetzung entsteht. Nicht alle Fragen entwickeln sich auf diese Weise. Wenn wir aber der Meinung sind, dass eine Verwirklichung Sinn ergeben würde, dass wir etwas damit aussagen und auch die Zuschauer daran Interesse finden könnten, dann nehmen Gianni und ich diese Frage in Angriff und bauen auf künstlerische Art und Weise eine "Architektur" daraus.

Irina Wolf: Ihr habt jedoch auch in der Literatur Anhaltspunkte für eure Arbeit gefunden. (Für die letzten Performances war es die nordamerikanische zeitgenössische Literatur von Dennis Cooper und Chuck Palahniuk).

Gianni Forte: Ich erinnere mich an das, was Pier Paolo Pasolini im Film Uccellaci, Uccellini, in dem es eine sprechende Krähe gibt, sagte: Die Meister werden in scharfer Soße gekocht – sie werden gegessen, hinuntergeschluckt und verdaut, um sich von ihrer Weisheit zu ernähren. Aus diesem Grund haben wir 2006, im Gründungsjahr der ricci/forte-Gruppe, die heroische Freundschaft zwischen Euryalus und Nisus aus dem neunten Buch von Vergils Aeneis als Basis von Troia's Discount verwendet. Nachher hat Ariosts Orlando Furioso als zündende Idee für unsere Arbeit gedient. Daraus folgte 100% Furioso. Aus den sieben Werken von Cristopher Marlowe ist die gleiche Anzahl von Performances unter dem Namen Wunderkammer Soap entstanden. Der Vergleich mit einer Soap Opera ist ersichtlich. Ausgehend von Aristophanes haben wir Ploutos, von Shakespeare Troilo Vs. Cressida entwickelt. Jede Inszenierung enthielt einen Grundgedanken, den wir ein bisschen köcheln lassen wollten. Die aufgezählten Oeuvres dienten als Sprungbrett, die Ergebnisse unterscheiden sich jedoch deutlich von den Ausgangswerken.

Daniela Magiaru: Wird der von Euch erarbeitete Text während der Proben noch geändert?

Gianni Forte: Was das Textbuch anbelangt, haben wir damit bei Troia's Discount aufgehört, d.h., das war das letzte Stück, in dem wir an einem vorgefertigten Text gearbeitet haben. Was unsere Arbeit anbelangt, stellt diese Inszenierung also eine Trennung dar. Denn die Vorgehensweise für die nachfolgenden Performances ging folgendermaßen vonstatten: Ursprünglich gab es kein einziges geschriebenes Wort, tagsüber arbeiteten wir mit den Schauspielern, um dann nachts den Text – ähnlich einer vierhändigen Symphonie – zu entwerfen. Manchmal fehlten sogar am letzten Tag geschriebene Textteile. Trotzdem verfügten viele der Schauspieler über eine Art von Skript.

Stefano Ricci: Ich würde noch etwas hinzufügen. In den letzten Jahren haben wir eine verbale Struktur der Dramatik kreiert, die teilweise schon in Werken anderer Autoren vorhanden ist. Der Grund dafür liegt darin, dass wir es für richtig halten, genau diejenigen Worte wiederzugeben. Der Großteil der Dramatik entsteht jedoch während der Improvisationen. Diese stehen im Zentrum unserer Performances. Die Improvisation erlaubt einerseits die "Aktivierung" des Schauspielers, d.h., sie verleiht ihm jeden Abend das Erlebnis eines Events anstatt einer Replik. Andererseits ist dies die "Straße", entlang der sich unsere kreative Arbeit entfaltet. So entsteht eine Mischung aus dramatischer Struktur und Improvisation, eine einfache, direkte Sprache, dafür aber eine strukturierte Architektur. Zusammen ergeben sie die Symphonie, die Gianni früher erwähnte. Unserer Meinung nach ist dies der einzige stimmige Ablauf, dem die Gruppe folgen sollte.

Gianni Forte: Imitationofdeath war ursprünglich als alleinige "Körpersymphonie" gedacht. Es hätte eine nonverbale Performance werden sollen. Zu einem späteren Zeitpunkt haben wir, und auch die Schauspieler, die Notwendigkeit gespürt, die Stimmen der Performer hören zu lassen. Das ist auch richtig so, weil es die Stimme junger Leute ist. Es herrscht der Glaube, dass die neue Generation nur Sünden, dass sie so wie die "Labor-Meerschweinchen" keine Persönlichkeit hat. Die Performer spürten sogar die Notwendigkeit, ihren Herzschlag hören zu lassen, so als ob sich an der Stelle ein Mikrofon befinden würde. Auf der Bühne sind sechzehn Schauspieler. Jeden Abend übernehmen sie unterschiedliche Rollen. Aus diesem Grund werdet ihr heute Abend in einer Szene ein "Skelett" sehen, das gestern von einem Performer gespielt wurde, heute Abend jedoch von einem anderen dargestellt wird. Vor Vorstellungsbeginn teilen wir den Schauspielern mit, wer von ihnen das "Skelett" verkörpern wird. Die Darstellung des "Skeletts" erfordert große Konzentration. Außerdem gibt es viele Szenen, in denen die Körper stark beansprucht werden. Aus Konzentrationsmangel gab es leider in Mailand einen Unfall. Zwei Performer haben die Köpfe so stark gegeneinander geschlagen, dass sie verarztet werden mussten. Um solche Situationen zu vermeiden, brauchen die Schauspieler eine lange Vorbereitungszeit. Daher erscheinen sie um zwei oder drei Uhr nachmittags im Theater, obwohl die Vorstellung erst um neun Uhr abends beginnt.

Daniela Magiaru: Euer soeben beschriebener Arbeitsverlauf steht in engem Zusammenhang mit der Authentizität.

Stefano Ricci: Ja, das stimmt. Am Vortag fand ein Publikumsgespräch statt. Wir hatten großes Vergnügen an dem Kommentar einer Zuschauerin, die meinte: "Endlich habe ich eine Vorstellung gesehen, in der die vierte Wand vollkommen durchbrochen war." Authentizität an einem Ort zu entdecken, der durch Konvention auf Fiktion basiert, ist wunderschön, auch wenn der Fiktion eine künstlerische Ausdrucksform verschafft wird. Authentizität muss nicht in Psychodrama ausarten.

Gianni Forte: Unsere persönlichen Erfahrungen gehören ebenfalls zum Ausgangspunkt der Inszenierungen. Erst durch die Worte der Schauspieler wird die Universalität erreicht. In dieser Vorstellung gibt es sechzehn Performer, eben weil nicht nur drei oder vier Schauspieler auf der Bühne von der Grundidee betroffen sind. Die Sechzehn bilden eine Art "Staat". Vielleicht liegt die beste Erklärung in einer weiteren gestrigen Aussage eines Zuschauers, die lautete: "Ich habe gespürt, dass sie über mich selbst sprachen, mich persönlich ansprachen". Das Publikum hat sich also direkt involviert gefühlt. Das ist genau das, was wir bezwecken. Wir wollen nicht, dass die Zuschauer auf schönen roten Sesseln im Theatersaal sitzen und sich passiv, ähnlich wie vor einem Fernseher, unseren Vorschlag anschauen. Im Gegenteil, wir wollen ihnen den Zugang zu einer Performance bieten, die strukturell fragmentiert ist (Imitationofdeath besteht aus sechzehn Fragmenten). Das ist wie eine Explosion, wie eine Bombe, deren Splitter in alle Richtungen fliegen. Metaphorisch gesehen geben wir dem Publikum eine Art Karte mit, mit deren Hilfe es sich die eigene Performance bauen kann. Nachträglich wird es also eine persönliche Vorstellung, eine auf 360 Grad verteilte Aufführung. In diesem Saal (im Teatro Palamostre in Udine), der die klassische Struktur der meisten italienischen Theater aufweist, läuft alles ein bisschen anders ab. Im Piccolo Theater in Mailand war das Publikum im Halbkreis platziert, wobei die Performer von drei Vierteln der Zuschauer umgeben wurden. Genauso hatten wir die Inszenierung beabsichtigt. Trotzdem schaffen es die Schauspieler, auch in den klassisch ausgerichteten Theaterhäusern dorthin zu gelangen, wohin sie sollten, nämlich zu diesem so wichtigen Körperteil (er zeigt aufs Herz).

Daniela Magiaru: Wenn wir über diesen Körperteil sprechen, dann erinnere ich mich an Troia's Discount. Darin gab es reine Poesie. Was ist euer Zugang zur Poesie?

Stefano Ricci: Ich glaube, diese steht in engem Zusammenhang mit der Authentizität. Wenn man über Authentizität spricht, denken die Menschen im Allgemeinen an Echtheit, an etwas, das mit tagtäglichen Ereignissen zu tun hat. Was wir tatsächlich bezwecken, ist diese Geschehnisse zu behalten, sie aber in einer anderen Perspektive darzustellen, so als ob wir eine Kraft erfinden würden. Dies ist die Kraft der Fantasie, eine Kraft, die wir von Geburt aus besitzen, die aber leider zu oft in Vergessenheit gerät. Wir wollen also diesen kindlichen Blick wiedererlangen. Das gehört zu unserem Experiment. Wir versuchen, den Performern eine Lektion zu erteilen: Sie sollen sich nicht mit sich selbst begnügen, sich stattdessen bemühen, sich ständig wieder neu zu erfinden. Dadurch sollten sie das tägliche Leben besser meistern können. Diese Vision schlagen wir vor. Manche sagen, dass wir sehr schroff sind. In Wahrheit ist es keine Schroffheit, sondern ein Lob auf die Fantasie. Es ist aber auch kein Traum, sondern eine greifbare Vision, eine andere Sicht, die Dinge darzustellen.

Gianni Forte: Wir sehen uns als "Anwälte des poetischen Terrorismus". Die Poesie erlaubt es uns, täglich Hindernisse zu überwinden. Sie ist ein Gegenmittel zur täglichen Misere. Wenn es die Poesie nicht gäbe, wären wir verloren – ähnlich lebenden Toten. In Troia's Discount ist die Poesie auch im Text vorhanden, in Imitationofdeath hingegen ist es eine Poesie der Körper, die mehr aussagt als der Text.

Daniela Magiaru: Machen die Darsteller von Vorstellung zu Vorstellung eine Verwandlung durch?

Stefano Ricci: Beim gestrigen Publikumsgespräch sagte uns eine Zuschauerin: "Mit jeder neuen Inszenierung erfahre ich etwas Neues über mich. Ich danke Euch dafür!" Vielleicht liegt der Sinn unserer Arbeit darin, den Zuschauer mit einer Fragestellung zu konfrontieren, eine Fragestellung, die ursprünglich von uns ausgeht, sich aber während der Aufführung auf das Publikum überträgt. Die Kunst erlaubt uns, die Stimme des Anderen zu werden, Gemeinsamkeiten zu teilen. Dadurch wird das moralische Verhältnis dem anderen gegenüber rückerstattet und die Einsicht vermittelt, dass wir alle unter demselben Himmel leben, dass wir nicht alleine sind.

Gianni Forte: Wir werden in den Rezensionen ständig definiert als "ricci/forte – verstoßen gegen die Regeln", "ricci/forte – provozieren", "ricci/forte – enfants terribles". Meiner Meinung nach liegt die Herausforderung aber darin, ein inniges Gespräch zwischen Performer und Zuschauer herzustellen. Es gibt nichts Schöneres. Es geht also nicht darum, Körper zu betrachten. Wir sehen ständig Körper. Manchmal sind es nackte Körper. Abhängig davon, wie viele Zentimeter nackter Haut in unseren Performances gezeigt werden, klassifiziert man uns als Künstler, die die Grenzen überschreiten. Nacktheit ist also noch immer ein Anathema, es wird betrachtet als etwas, das mit dem Teufel zu tun hat. Das Gegenteil ist der Fall, es sind gefühlvolle Körper, die uns "ansprechen". In Wahrheit handelt es sich um eine innere Nacktheit, nicht um das Ausmaß, in dem ich meinen Arm, meinen Oberschenkel oder meinen Busen zeige. Wir sind nicht die Ersten, die mit nackten Körpern arbeiten. Das wurde schon in den Siebzigern getan, am meisten vor allem von Living Theatre. Die Herausforderung besteht darin, den Blick des Zuschauers wach zu halten.

Irina Wolf: Ihr habt Tourneen durch zahlreiche Länder unternommen. Seit Kurzem seid Ihr aus Moskau zurückgekehrt. Wie war dort die Publikumsreaktion?

Gianni Forte: Die Publikumsreaktion hat uns überrascht. Wir hatten mit Sprachproblemen gerechnet (ähnlich wie in Chişinău bei der Aufführung von Troia's Discount im Mai 2012). Stattdessen fanden wir ein enthusiastisches Publikum vor. Es war unglaublich. Es gab Standing Ovations. Das Echo des Beifalls der Moskauer Zuschauer hallte nach unserer Rückkehr noch für längere Zeit in unseren Ohren nach. Es war ein heterogenes Publikum, zusammengesetzt aus jungen und älteren Menschen, die aus Begeisterung die Zuschauerwelle ausführten. Unser Ziel war erreicht. Die Sprachbarrieren waren endgültig gefallen. Am Anfang las das Publikum die Übertitel, hörte aber bald damit auf und folgte nur dem Spiel auf der Bühne. Die Kommunikation war perfekt.

Daniela Magiaru: In welchem Verhältnis stehen die Schauspieler zur Freiheit? Über wie viel Freiheit verfügen sie während der Proben?

Stefano Ricci: Unser Arbeitsvorgang besteht aus zwei Teilen. Der erste beinhaltet die Vorbereitung, in der dem Performer während der Proben viel Ausdrucksfreiheit gestattet wird. Trotz aller Improvisationen erhalten die Schauspieler selbstverständlich von uns immer einen Input, zum besseren Verständnis der von uns gewünschten Richtung. Mit Beginn der Strukturierung der Inszenierung wird die Improvisation "organisiert". Grund dafür ist, dass die Schauspieler nicht glauben sollen, dass jeder für sich alleine alles machen kann. Gianni hat das früher erwähnt. Wir kennen uns gut mit der "Zeichen-Grammatik" aus. Deshalb konstruieren wir ein "Alphabet", eine Sprache, die unserem Wunsch entsprechend an den Zuschauer durchdringen soll. Die Richtung muss also eine sehr klare sein. Wir bauen einen "Kristallkäfig", in dem sich alles genau abspielt. Das ist insbesondere für diese Art von Inszenierung notwendig, in der es sechzehn Schauspieler auf der Bühne und sehr viele gefährliche Szenen gibt. Wenn letztere nicht auf eine ganz gewisse Art ausgeführt werden und Konzentrationsmangel herrscht – wie Gianni vorher erwähnte – ist die Verletzungsgefahr sehr groß. Solche Fehler oder Blessuren verhindern aber auch, dass die Nachricht an das Publikum übermittelt wird. Deshalb bauen wir einen "Apparat" von großer Genauigkeit, der aber Momente von uneingeschränkter Freiheit enthält. Es gibt zum Beispiel in Imitationofdeath eine Szene, in der die Performer stillstehen und jeden Abend neu überlegen, welcher von ihnen gewisse Fragen des "Skeletts" beantworten wird. Keiner von uns weiß das im Vorhinein.

Gianni Forte: In dieser Szene gibt es einen Hauptdarsteller, der ein "Skelett" verkörpert und seinen Kollegen "Warum-Fragen" stellt. Der Protagonist wird von uns ausgewählt. Die anderen Schauspieler überlegen, ob sie die gleiche Erfahrung, die in der Frage steckt, gemacht haben. Wenn einer von ihnen spürt, dass er dieses Wissen mit den anderen teilen möchte, dann nähert er sich dem "Skelett", beantwortet die Frage und zeichnet gleichzeitig "Knochen" auf dessen Körper. Diese Szene besteht nur aus Improvisation.

Stefano Ricci: Das ist wie eine Übung, ähnlich meiner vorherigen Aussage über die Aktivierung des Publikums. Der Performer fragt sich "warum". Dieses ist das erste Wort eines Kindes, wenn es beginnt, die Welt zu verstehen. Die "Warum-Fragen" sind auch diejenigen, die jeder von uns unbeantwortet ein Leben lang in sich trägt. In dieser Szene teilt einer mit fünfzehn anderen auf der Bühne sein Wissen. So versucht jeder zu verstehen, dass wir uns in Wahrheit – abgesehen von den persönlichen Erfahrungen – alle unter denselben Bedingungen auf demselben Weg befinden. Diejenigen Schauspieler, die die Fragen beantworten, fühlen, dass sie ganz ehrlich sagen können: "Ich habe mir auch diese Frage gestellt, kann dir also meine Antwort darauf geben." Diese Szene erlaubt den Performern maximale Freiheit. Und so schaut unsere Arbeit aus. Es gibt Szenen von absoluter Freiheit, gestattet aber nur innerhalb eines millimetrisch berechneten "Netzes", das den Schauspielern Schutz gewährt, ihnen aber gleichzeitig eine großzügige Öffnung bietet.

Daniela Magiaru: Ihr habt gesagt, dass euer idealer Zuschauer sich nicht passiv verhalten sollte. Habt ihr ideale Zuschauer? Seid ihr ideale Zuschauer für die anderen?

Stefano Ricci: Jedes Mal wenn wir einer Aktivität nachgehen, sei es, wenn wir einen Film anschauen, reisen oder Menschen treffen, versuchen wir, uns offen für neue Sichtweisen zu halten. Es findet also eine Interaktion statt. Wir versuchen zu verstehen, warum etwas geschieht, warum sich eine Person auf eine gewisse Weise verhält, das heißt wir stellen uns Fragen zu unserer Umgebung, umso mehr dann, wenn wir in eine Theater- oder Opernvorstellung gehen oder ein Museum besuchen. Deshalb betrachten wir uns wahrscheinlich als ideale Zuschauer. Was den idealen Zuschauer unserer Inszenierungen betrifft: Für uns ist es immer zufriedenstellend zu provozieren, wenn wir an traditionellen Spielorten auftreten. So zum Beispiel im Mailänder Piccolo Theater, das als "Tempel" der italienischen, ja sogar der europäischen Theaterszene betrachtet wird. Giorgio Strehlers Theaterhaus steht für die italienische Tradition, die Tradition des bürgerlichen Theaters. Das dortige Publikum kannte nicht unser "Alphabet", sah zum ersten Mal eine unserer Inszenierungen. Wir konnten in ihren Augen die Überraschung lesen. Diese Erkenntnis tat uns gut. Das bedeutet, dass die Notwendigkeit besteht, Neues anzubieten, unabhängig von der Qualität der Aufführung. Nachträglich können sich die Zuschauer äußern, ob die Vorstellung gut oder schlecht war, sie verstehen aber, dass auch eine andere Art der Kommunikation, der Theaterformen, existiert. Derjenige, der eine Theateraufführung mit einer bestimmten Vorstellung besucht, und von der Neuheit unseres Vorschlages überrascht wird, der ist für mich ein idealer Zuschauer. So kommen wir zurück auf unseren Diskurs, dass wir ständig nach einem anderen Blickwinkel Ausschau halten, uns nicht in Schemata verstricken lassen sollten. Wir setzen dies um. Wenn auch das Publikum offen für etwas Neues ist, dann spüren wir, dass wir die passende Richtung gewählt haben.

Irina Wolf: War das euer erster Auftritt im Mailänder Piccolo?

Stefano Ricci: Ja, wir waren die ersten. Keine experimentelle Theatergruppe hat jemals dort gespielt. Es sind bisher nur die großen Namen der klassischen Theaterszene, traditionelle Gruppen, dort aufgetreten.

Gianni Forte: Und wir waren erfolgreich. Wir haben schon die Einladung erhalten, heuer wieder dort zu spielen. Es war eine unglaubliche Woche, alle Vorstellungen ausverkauft. Das Theaterhaus ist ähnlich dem elisabethanischen Shakespeare-Globe-Theatre gebaut.

Irina Wolf: Eure Vorstellungen sind voll von Metaphern. Was ist zum Beispiel die Bedeutung der Stöckelschuhe?

Ricci/Forte: Schuhe mit sehr hohen Absätzen werden von uns sowohl bei Frauen als auch bei Männern eingesetzt. Diese Schuhe sind nicht da, um zu verführen oder sich über die weibliche Sinnlichkeit lustig zu machen. Sie stellen eine Identitätsmigration, eine Untersuchung der Heuchelei, Vorurteile und Grenzen unserer Gesellschaft dar. Insbesondere stehen sie aber als Metapher für unsere Unsicherheit, unser kontinuierliches Herumtasten, um das Gleichgewicht im täglichen Leben zu finden.

Daniela Magiaru: Ihr habt früher erwähnt, dass die "Warum-Fragen" dem Kind zuzuordnen sind. In welchem Verhältnis steht ihr zum Spiel?

Stefano Ricci: Ich glaube, dass das Spiel lebensnotwendig ist. In unserer Kindheit bringen uns unsere Familien bei, dass die Welt perfekt ist, dass wir in ihr den Sinn des Lebens und unsere Zufriedenheit finden werden. Mit dieser Erkenntnis wachsen wir auf. Als Erwachsene wird uns jedoch bewusst, dass das, was uns die Familien versprochen haben, ihre eigene Lebensvorstellung ist, die Vorstellung der Menschen, die ihre Kinder lieben und ihnen alles schenken möchten. Wir merken aber, dass die Wahrheit eine ganz andere ist. Und dann versuchen wir, die Spieldimension wiederzufinden, weil diese eigentlich eine Kommunikationsform darstellt. Denn vor allem die Kommunikation mit den anderen fehlt uns ganz besonders. Jeder von uns lebt isoliert, versucht alleine einen Sinn des Lebens zu finden, während die anderen ihr eigenes Leben mit den jeweiligen Problemen führen. Jeder "reist" also alleine. Wir versuchen, diesem Zustand einen Gegenpol entgegenzusetzen, zu zeigen, dass eben, weil wir alle unsere Enttäuschungen und Frustrationen, unsere nicht erreichten Ziele haben, wir trotzdem, wenn wir auch nicht siegen, dann zumindest eine Art und Weise finden, um zusammen das auszuhalten, was jeden beschäftigt. Das Spiel ist eine unentbehrliche Kommunikationsform, um Gemeinsamkeiten zu teilen und lächeln zu können trotz vieler unangenehmer Erlebnisse. Durch unsere Arbeit "brechen" wir manchmal während der Inszenierung den Rhythmus eines Gefühls. Wenn es sich um eine spielerische Szene handelt, "brechen" wir diese auf unerwartete Art auf. So wird daraus eine tragische Szene, oder umgekehrt, etwas sehr Schmerzhaftes wird gestoppt und lächelnd überwunden. Das erlaubt uns, das von den Herausforderungen des Lebens hervorgerufene menschliche Verhalten besser zu verstehen. Jeden Tag gibt es Überraschungen, die unseren inneren Zustand verändern. Genau das versuchen wir mitzuteilen: sich selbst nicht zu ernst zu nehmen, im Guten oder Schlechten, eben weil wir wissen, dass sich das Leben dauernd ändert, und uns zwingt, uns selbst zu verändern. Ist das nicht ein Spiel?

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