"Leben
in der Kunst kann nur durch das Fehlen des Lebens, durch einen Appell an den
Tod, ausgedrückt werden". So lautet ein bekannter Satz von Tadeusz Kantor,
dem berühmten polnischen Theaterregisseur, Maler, Bühnenbildner und
Kunsttheoretiker. Dieser Gedanke war die zündende Idee für
Imitationofdeath, ricci/fortes neuester Performance. Stefano Ricci und
Gianni Forte, das Künstlerduo aus Rom, gelten als die Theatermacher
der italienischen alternativen Szene.
Einen
wesentlichen Baustein davon bildet die musikalische Umrahmung. Ihre
Performances faszinieren aber vor allem durch den vollen Körpereinsatz der
Schauspieler, sei es als Einzelperson oder Gruppe. Mit tiefgründigen
Inszenierungen zu aktuellen Themen wie dem modernen Konsumismus oder der
Auseinandersetzung mit der inneren Leere des heutigen Menschen haben sie
sich einen Namen gemacht.
Nach dem
erfolgreichen Start 2006 mit Troia's Discount, erhielten sie im
Sommer 2012 minutenlang Standing Ovations mit Grimmless in Moskau. Im
selben Jahr schafften sie eine Sensation: ricci/forte ist die erste
Underground-Gruppe, die im Mailänder Piccolo Teatro, im "Tempel" der
italienischen Szene, gespielt hat. Auch dieser Auftritt war von glänzendem
Erfolg gekrönt, sodass sie bereits für 2013 in Giorgio Strehlers Theater
nach Mailand eingeladen wurden.
Irina Wolf
:
Welche Quellen dienen als Inspiration für Eure Inszenierungen?
Stefano Ricci:
Eine Idee ist ähnlich einer Beziehung zwischen mehreren Personen. Zuerst
gibt es eine Frage. Diese "reist" durch unser Innerstes, bis daraus die
Notwendigkeit ihrer Umsetzung entsteht. Nicht alle Fragen entwickeln
sich auf diese Weise. Wenn wir aber der Meinung sind, dass eine
Verwirklichung Sinn ergeben würde, dass wir etwas damit aussagen und
auch die Zuschauer daran Interesse finden könnten, dann nehmen Gianni
und ich diese Frage in Angriff und bauen auf künstlerische Art und Weise
eine "Architektur" daraus.
Irina Wolf:
Ihr habt jedoch auch in der Literatur Anhaltspunkte für eure Arbeit
gefunden. (Für die letzten Performances war es die nordamerikanische
zeitgenössische Literatur von Dennis Cooper und Chuck Palahniuk).
Gianni Forte:
Ich erinnere mich an das, was Pier Paolo Pasolini im Film Uccellaci,
Uccellini, in dem es eine sprechende Krähe gibt, sagte: Die Meister
werden in scharfer Soße gekocht – sie werden gegessen,
hinuntergeschluckt und verdaut, um sich von ihrer Weisheit zu ernähren.
Aus diesem Grund haben wir 2006, im Gründungsjahr der
ricci/forte-Gruppe, die heroische Freundschaft zwischen Euryalus und
Nisus aus dem neunten Buch von Vergils Aeneis als Basis von
Troia's Discount verwendet. Nachher hat Ariosts Orlando Furioso
als zündende Idee für unsere Arbeit gedient. Daraus folgte 100%
Furioso. Aus den sieben Werken von Cristopher Marlowe ist die
gleiche Anzahl von Performances unter dem Namen Wunderkammer Soap
entstanden. Der Vergleich mit einer Soap Opera ist ersichtlich.
Ausgehend von Aristophanes haben wir Ploutos, von Shakespeare
Troilo Vs. Cressida entwickelt. Jede Inszenierung enthielt einen
Grundgedanken, den wir ein bisschen köcheln lassen wollten. Die
aufgezählten Oeuvres dienten als Sprungbrett, die Ergebnisse
unterscheiden sich jedoch deutlich von den Ausgangswerken.
Daniela Magiaru:
Wird der von Euch erarbeitete Text während der Proben noch geändert?
Gianni Forte:
Was das Textbuch anbelangt, haben wir damit bei Troia's Discount
aufgehört, d.h., das war das letzte Stück, in dem wir an einem
vorgefertigten Text gearbeitet haben. Was unsere Arbeit anbelangt,
stellt diese Inszenierung also eine Trennung dar. Denn die
Vorgehensweise für die nachfolgenden Performances ging folgendermaßen
vonstatten: Ursprünglich gab es kein einziges geschriebenes Wort,
tagsüber arbeiteten wir mit den Schauspielern, um dann nachts den Text –
ähnlich einer vierhändigen Symphonie – zu entwerfen. Manchmal fehlten
sogar am letzten Tag geschriebene Textteile. Trotzdem verfügten viele
der Schauspieler über eine Art von Skript.
Stefano Ricci:
Ich würde noch etwas hinzufügen. In den letzten Jahren haben wir eine
verbale Struktur der Dramatik kreiert, die teilweise schon in Werken
anderer Autoren vorhanden ist. Der Grund dafür liegt darin, dass wir es
für richtig halten, genau diejenigen Worte wiederzugeben. Der Großteil
der Dramatik entsteht jedoch während der Improvisationen. Diese stehen
im Zentrum unserer Performances. Die Improvisation erlaubt einerseits
die "Aktivierung" des Schauspielers, d.h., sie verleiht ihm jeden Abend
das Erlebnis eines Events anstatt einer Replik. Andererseits ist dies
die "Straße", entlang der sich unsere kreative Arbeit entfaltet. So
entsteht eine Mischung aus dramatischer Struktur und Improvisation, eine
einfache, direkte Sprache, dafür aber eine strukturierte Architektur.
Zusammen ergeben sie die Symphonie, die Gianni früher erwähnte. Unserer
Meinung nach ist dies der einzige stimmige Ablauf, dem die Gruppe folgen
sollte.
Gianni Forte:
Imitationofdeath war ursprünglich als alleinige "Körpersymphonie"
gedacht. Es hätte eine nonverbale Performance werden sollen. Zu einem
späteren Zeitpunkt haben wir, und auch die Schauspieler, die
Notwendigkeit gespürt, die Stimmen der Performer hören zu lassen. Das
ist auch richtig so, weil es die Stimme junger Leute ist. Es herrscht
der Glaube, dass die neue Generation nur Sünden, dass sie so wie die
"Labor-Meerschweinchen" keine Persönlichkeit hat. Die Performer spürten
sogar die Notwendigkeit, ihren Herzschlag hören zu lassen, so als ob
sich an der Stelle ein Mikrofon befinden würde. Auf der Bühne sind
sechzehn Schauspieler. Jeden Abend übernehmen sie unterschiedliche
Rollen. Aus diesem Grund werdet ihr heute Abend in einer Szene ein
"Skelett" sehen, das gestern von einem Performer gespielt wurde, heute
Abend jedoch von einem anderen dargestellt wird. Vor Vorstellungsbeginn
teilen wir den Schauspielern mit, wer von ihnen das "Skelett" verkörpern
wird. Die Darstellung des "Skeletts" erfordert große Konzentration.
Außerdem gibt es viele Szenen, in denen die Körper stark beansprucht
werden. Aus Konzentrationsmangel gab es leider in Mailand einen Unfall.
Zwei Performer haben die Köpfe so stark gegeneinander geschlagen, dass
sie verarztet werden mussten. Um solche Situationen zu vermeiden,
brauchen die Schauspieler eine lange Vorbereitungszeit. Daher erscheinen
sie um zwei oder drei Uhr nachmittags im Theater, obwohl die Vorstellung
erst um neun Uhr abends beginnt.
Daniela Magiaru:
Euer soeben beschriebener Arbeitsverlauf steht in engem Zusammenhang mit
der Authentizität.
Stefano Ricci:
Ja, das stimmt. Am Vortag fand ein Publikumsgespräch statt. Wir hatten
großes Vergnügen an dem Kommentar einer Zuschauerin, die meinte:
"Endlich habe ich eine Vorstellung gesehen, in der die vierte Wand
vollkommen durchbrochen war." Authentizität an einem Ort zu entdecken,
der durch Konvention auf Fiktion basiert, ist wunderschön, auch wenn der
Fiktion eine künstlerische Ausdrucksform verschafft wird. Authentizität
muss nicht in Psychodrama ausarten.
Gianni Forte:
Unsere persönlichen Erfahrungen gehören ebenfalls zum Ausgangspunkt der
Inszenierungen. Erst durch die Worte der Schauspieler wird die
Universalität erreicht. In dieser Vorstellung gibt es sechzehn
Performer, eben weil nicht nur drei oder vier Schauspieler auf der Bühne
von der Grundidee betroffen sind. Die Sechzehn bilden eine Art "Staat".
Vielleicht liegt die beste Erklärung in einer weiteren gestrigen Aussage
eines Zuschauers, die lautete: "Ich habe gespürt, dass sie über mich
selbst sprachen, mich persönlich ansprachen". Das Publikum hat sich also
direkt involviert gefühlt. Das ist genau das, was wir bezwecken. Wir
wollen nicht, dass die Zuschauer auf schönen roten Sesseln im
Theatersaal sitzen und sich passiv, ähnlich wie vor einem Fernseher,
unseren Vorschlag anschauen. Im Gegenteil, wir wollen ihnen den Zugang
zu einer Performance bieten, die strukturell fragmentiert ist (Imitationofdeath
besteht aus sechzehn Fragmenten). Das ist wie eine Explosion, wie eine
Bombe, deren Splitter in alle Richtungen fliegen. Metaphorisch gesehen
geben wir dem Publikum eine Art Karte mit, mit deren Hilfe es sich die
eigene Performance bauen kann. Nachträglich wird es also eine
persönliche Vorstellung, eine auf 360 Grad verteilte Aufführung. In
diesem Saal (im Teatro Palamostre in Udine), der die klassische Struktur
der meisten italienischen Theater aufweist, läuft alles ein bisschen
anders ab. Im Piccolo Theater in Mailand war das Publikum im Halbkreis
platziert, wobei die Performer von drei Vierteln der Zuschauer umgeben
wurden. Genauso hatten wir die Inszenierung beabsichtigt. Trotzdem
schaffen es die Schauspieler, auch in den klassisch ausgerichteten
Theaterhäusern dorthin zu gelangen, wohin sie sollten, nämlich zu diesem
so wichtigen Körperteil (er zeigt aufs Herz).
Daniela Magiaru:
Wenn wir über diesen Körperteil sprechen, dann erinnere ich mich an
Troia's Discount. Darin gab es reine Poesie. Was ist euer Zugang zur
Poesie?
Stefano Ricci:
Ich glaube, diese steht in engem Zusammenhang mit der Authentizität.
Wenn man über Authentizität spricht, denken die Menschen im Allgemeinen
an Echtheit, an etwas, das mit tagtäglichen Ereignissen zu tun hat. Was
wir tatsächlich bezwecken, ist diese Geschehnisse zu behalten, sie aber
in einer anderen Perspektive darzustellen, so als ob wir eine Kraft
erfinden würden. Dies ist die Kraft der Fantasie, eine Kraft, die
wir von Geburt aus besitzen, die aber leider zu oft in Vergessenheit
gerät. Wir wollen also diesen kindlichen Blick wiedererlangen.
Das gehört zu unserem Experiment. Wir versuchen, den Performern eine
Lektion zu erteilen: Sie sollen sich nicht mit sich selbst begnügen,
sich stattdessen bemühen, sich ständig wieder neu zu erfinden. Dadurch
sollten sie das tägliche Leben besser meistern können. Diese Vision
schlagen wir vor. Manche sagen, dass wir sehr schroff sind. In Wahrheit
ist es keine Schroffheit, sondern ein Lob auf die Fantasie. Es ist aber
auch kein Traum, sondern eine greifbare Vision, eine andere Sicht, die
Dinge darzustellen.
Gianni Forte:
Wir sehen uns als "Anwälte des poetischen Terrorismus". Die Poesie
erlaubt es uns, täglich Hindernisse zu überwinden. Sie ist ein
Gegenmittel zur täglichen Misere. Wenn es die Poesie nicht gäbe, wären
wir verloren – ähnlich lebenden Toten. In Troia's Discount ist
die Poesie auch im Text vorhanden, in Imitationofdeath hingegen
ist es eine Poesie der Körper, die mehr aussagt als der Text.
Daniela Magiaru:
Machen die Darsteller von Vorstellung zu Vorstellung eine Verwandlung
durch?
Stefano Ricci:
Beim gestrigen Publikumsgespräch sagte uns eine Zuschauerin: "Mit jeder
neuen Inszenierung erfahre ich etwas Neues über mich. Ich danke Euch
dafür!" Vielleicht liegt der Sinn unserer Arbeit darin, den Zuschauer
mit einer Fragestellung zu konfrontieren, eine Fragestellung, die
ursprünglich von uns ausgeht, sich aber während der Aufführung auf das
Publikum überträgt. Die Kunst erlaubt uns, die Stimme des Anderen zu
werden, Gemeinsamkeiten zu teilen. Dadurch wird das moralische
Verhältnis dem anderen gegenüber rückerstattet und die Einsicht
vermittelt, dass wir alle unter demselben Himmel leben, dass wir nicht
alleine sind.
Gianni Forte:
Wir werden in den Rezensionen ständig definiert als "ricci/forte –
verstoßen gegen die Regeln", "ricci/forte – provozieren", "ricci/forte –
enfants terribles". Meiner Meinung nach liegt die Herausforderung aber
darin, ein inniges Gespräch zwischen Performer und Zuschauer
herzustellen. Es gibt nichts Schöneres. Es geht also nicht darum, Körper
zu betrachten. Wir sehen ständig Körper. Manchmal sind es nackte Körper.
Abhängig davon, wie viele Zentimeter nackter Haut in unseren
Performances gezeigt werden, klassifiziert man uns als Künstler, die die
Grenzen überschreiten. Nacktheit ist also noch immer ein Anathema, es
wird betrachtet als etwas, das mit dem Teufel zu tun hat. Das Gegenteil
ist der Fall, es sind gefühlvolle Körper, die uns "ansprechen". In
Wahrheit handelt es sich um eine innere Nacktheit, nicht um das Ausmaß,
in dem ich meinen Arm, meinen Oberschenkel oder meinen Busen zeige. Wir
sind nicht die Ersten, die mit nackten Körpern arbeiten. Das wurde schon
in den Siebzigern getan, am meisten vor allem von Living Theatre. Die
Herausforderung besteht darin, den Blick des Zuschauers wach zu halten.
Irina Wolf:
Ihr habt Tourneen durch zahlreiche Länder unternommen. Seit Kurzem seid
Ihr aus Moskau zurückgekehrt. Wie war dort die Publikumsreaktion?
Gianni Forte:
Die Publikumsreaktion hat uns überrascht. Wir hatten mit Sprachproblemen
gerechnet (ähnlich wie in Chişinău bei der Aufführung von Troia's
Discount im Mai 2012). Stattdessen fanden wir ein enthusiastisches
Publikum vor. Es war unglaublich. Es gab Standing Ovations. Das Echo des
Beifalls der Moskauer Zuschauer hallte nach unserer Rückkehr noch für
längere Zeit in unseren Ohren nach. Es war ein heterogenes Publikum,
zusammengesetzt aus jungen und älteren Menschen, die aus Begeisterung
die Zuschauerwelle ausführten. Unser Ziel war erreicht. Die
Sprachbarrieren waren endgültig gefallen. Am Anfang las das Publikum die
Übertitel, hörte aber bald damit auf und folgte nur dem Spiel auf der
Bühne. Die Kommunikation war perfekt.
Daniela Magiaru:
In welchem Verhältnis stehen die Schauspieler zur Freiheit? Über wie
viel Freiheit verfügen sie während der Proben?
Stefano Ricci:
Unser Arbeitsvorgang besteht aus zwei Teilen. Der erste beinhaltet die
Vorbereitung, in der dem Performer während der Proben viel
Ausdrucksfreiheit gestattet wird. Trotz aller Improvisationen erhalten
die Schauspieler selbstverständlich von uns immer einen Input, zum
besseren Verständnis der von uns gewünschten Richtung. Mit Beginn der
Strukturierung der Inszenierung wird die Improvisation "organisiert".
Grund dafür ist, dass die Schauspieler nicht glauben sollen, dass jeder
für sich alleine alles machen kann. Gianni hat das früher erwähnt. Wir
kennen uns gut mit der "Zeichen-Grammatik" aus. Deshalb konstruieren wir
ein "Alphabet", eine Sprache, die unserem Wunsch entsprechend an den
Zuschauer durchdringen soll. Die Richtung muss also eine sehr klare
sein. Wir bauen einen "Kristallkäfig", in dem sich alles genau abspielt.
Das ist insbesondere für diese Art von Inszenierung notwendig, in der es
sechzehn Schauspieler auf der Bühne und sehr viele gefährliche Szenen
gibt. Wenn letztere nicht auf eine ganz gewisse Art ausgeführt werden
und Konzentrationsmangel herrscht – wie Gianni vorher erwähnte – ist die
Verletzungsgefahr sehr groß. Solche Fehler oder Blessuren verhindern
aber auch, dass die Nachricht an das Publikum übermittelt wird. Deshalb
bauen wir einen "Apparat" von großer Genauigkeit, der aber Momente von
uneingeschränkter Freiheit enthält. Es gibt zum Beispiel in
Imitationofdeath eine Szene, in der die Performer stillstehen und
jeden Abend neu überlegen, welcher von ihnen gewisse Fragen des
"Skeletts" beantworten wird. Keiner von uns weiß das im Vorhinein.
Gianni Forte:
In dieser Szene gibt es einen Hauptdarsteller, der ein "Skelett"
verkörpert und seinen Kollegen "Warum-Fragen" stellt. Der Protagonist
wird von uns ausgewählt. Die anderen Schauspieler überlegen, ob sie die
gleiche Erfahrung, die in der Frage steckt, gemacht haben. Wenn einer
von ihnen spürt, dass er dieses Wissen mit den anderen teilen möchte,
dann nähert er sich dem "Skelett", beantwortet die Frage und zeichnet
gleichzeitig "Knochen" auf dessen Körper. Diese Szene besteht nur aus
Improvisation.
Stefano Ricci:
Das ist wie eine Übung, ähnlich meiner vorherigen Aussage über die
Aktivierung des Publikums. Der Performer fragt sich "warum". Dieses ist
das erste Wort eines Kindes, wenn es beginnt, die Welt zu verstehen. Die
"Warum-Fragen" sind auch diejenigen, die jeder von uns unbeantwortet ein
Leben lang in sich trägt. In dieser Szene teilt einer mit fünfzehn
anderen auf der Bühne sein Wissen. So versucht jeder zu verstehen, dass
wir uns in Wahrheit – abgesehen von den persönlichen Erfahrungen – alle
unter denselben Bedingungen auf demselben Weg befinden. Diejenigen
Schauspieler, die die Fragen beantworten, fühlen, dass sie ganz ehrlich
sagen können: "Ich habe mir auch diese Frage gestellt, kann dir also
meine Antwort darauf geben." Diese Szene erlaubt den Performern maximale
Freiheit. Und so schaut unsere Arbeit aus. Es gibt Szenen von absoluter
Freiheit, gestattet aber nur innerhalb eines millimetrisch berechneten
"Netzes", das den Schauspielern Schutz gewährt, ihnen aber gleichzeitig
eine großzügige Öffnung bietet.
Daniela Magiaru:
Ihr habt gesagt, dass euer idealer Zuschauer sich nicht passiv verhalten
sollte. Habt ihr ideale Zuschauer? Seid ihr ideale Zuschauer für die
anderen?
Stefano Ricci:
Jedes Mal wenn wir einer Aktivität nachgehen, sei es, wenn wir einen
Film anschauen, reisen oder Menschen treffen, versuchen wir, uns offen
für neue Sichtweisen zu halten. Es findet also eine Interaktion statt.
Wir versuchen zu verstehen, warum etwas geschieht, warum sich eine
Person auf eine gewisse Weise verhält, das heißt wir stellen uns Fragen
zu unserer Umgebung, umso mehr dann, wenn wir in eine Theater- oder
Opernvorstellung gehen oder ein Museum besuchen. Deshalb betrachten wir
uns wahrscheinlich als ideale Zuschauer. Was den idealen Zuschauer
unserer Inszenierungen betrifft: Für uns ist es immer zufriedenstellend
zu provozieren, wenn wir an traditionellen Spielorten auftreten. So zum
Beispiel im Mailänder Piccolo Theater, das als "Tempel" der
italienischen, ja sogar der europäischen Theaterszene betrachtet wird.
Giorgio Strehlers Theaterhaus steht für die italienische Tradition, die
Tradition des bürgerlichen Theaters. Das dortige Publikum kannte nicht
unser "Alphabet", sah zum ersten Mal eine unserer Inszenierungen. Wir
konnten in ihren Augen die Überraschung lesen. Diese Erkenntnis tat uns
gut. Das bedeutet, dass die Notwendigkeit besteht, Neues anzubieten,
unabhängig von der Qualität der Aufführung. Nachträglich können sich die
Zuschauer äußern, ob die Vorstellung gut oder schlecht war, sie
verstehen aber, dass auch eine andere Art der Kommunikation, der
Theaterformen, existiert. Derjenige, der eine Theateraufführung mit
einer bestimmten Vorstellung besucht, und von der Neuheit unseres
Vorschlages überrascht wird, der ist für mich ein idealer Zuschauer. So
kommen wir zurück auf unseren Diskurs, dass wir ständig nach einem
anderen Blickwinkel Ausschau halten, uns nicht in Schemata verstricken
lassen sollten. Wir setzen dies um. Wenn auch das Publikum offen für
etwas Neues ist, dann spüren wir, dass wir die passende Richtung gewählt
haben.
Irina Wolf:
War das euer erster Auftritt im Mailänder Piccolo?
Stefano Ricci:
Ja, wir waren die ersten. Keine experimentelle Theatergruppe hat jemals
dort gespielt. Es sind bisher nur die großen Namen der klassischen
Theaterszene, traditionelle Gruppen, dort aufgetreten.
Gianni Forte:
Und wir waren erfolgreich. Wir haben schon die Einladung erhalten,
heuer wieder dort zu spielen. Es war eine unglaubliche Woche,
alle Vorstellungen ausverkauft. Das Theaterhaus ist ähnlich dem
elisabethanischen Shakespeare-Globe-Theatre gebaut.
Irina Wolf:
Eure Vorstellungen sind voll von
Metaphern. Was ist zum Beispiel die Bedeutung der Stöckelschuhe?
Ricci/Forte:
Schuhe mit sehr hohen Absätzen werden von uns sowohl bei Frauen als auch
bei Männern eingesetzt. Diese Schuhe sind nicht da, um zu verführen
oder sich über die weibliche Sinnlichkeit lustig zu machen. Sie stellen
eine Identitätsmigration, eine Untersuchung der Heuchelei, Vorurteile
und Grenzen unserer Gesellschaft dar. Insbesondere stehen sie aber als
Metapher für unsere Unsicherheit, unser kontinuierliches Herumtasten, um
das Gleichgewicht im täglichen Leben zu finden.
Daniela Magiaru:
Ihr habt früher erwähnt, dass die
"Warum-Fragen" dem Kind zuzuordnen sind. In welchem Verhältnis steht ihr
zum Spiel?
Stefano Ricci:
Ich glaube, dass das Spiel lebensnotwendig ist. In unserer Kindheit
bringen uns unsere Familien bei, dass die Welt perfekt ist, dass wir in
ihr den Sinn des Lebens und unsere Zufriedenheit finden werden. Mit
dieser Erkenntnis wachsen wir auf. Als Erwachsene wird uns jedoch
bewusst, dass das, was uns die Familien versprochen haben, ihre eigene
Lebensvorstellung ist, die Vorstellung der Menschen, die ihre Kinder
lieben und ihnen alles schenken möchten. Wir merken aber, dass die
Wahrheit eine ganz andere ist. Und dann versuchen wir, die
Spieldimension wiederzufinden, weil diese eigentlich eine
Kommunikationsform darstellt. Denn vor allem die Kommunikation mit den
anderen fehlt uns ganz besonders. Jeder von uns lebt isoliert, versucht
alleine einen Sinn des Lebens zu finden, während die anderen ihr eigenes
Leben mit den jeweiligen Problemen führen. Jeder "reist" also alleine.
Wir versuchen, diesem Zustand einen Gegenpol entgegenzusetzen, zu
zeigen, dass eben, weil wir alle unsere Enttäuschungen und
Frustrationen, unsere nicht erreichten Ziele haben, wir trotzdem, wenn
wir auch nicht siegen, dann zumindest eine Art und Weise finden, um
zusammen das auszuhalten, was jeden beschäftigt. Das Spiel ist eine
unentbehrliche Kommunikationsform, um Gemeinsamkeiten zu teilen und
lächeln zu können trotz vieler unangenehmer Erlebnisse. Durch unsere
Arbeit "brechen" wir manchmal während der Inszenierung den Rhythmus
eines Gefühls. Wenn es sich um eine spielerische Szene handelt,
"brechen" wir diese auf unerwartete Art auf. So wird daraus eine
tragische Szene, oder umgekehrt, etwas sehr Schmerzhaftes wird gestoppt
und lächelnd überwunden. Das erlaubt uns, das von den Herausforderungen
des Lebens hervorgerufene menschliche Verhalten besser zu verstehen.
Jeden Tag gibt es Überraschungen, die unseren inneren Zustand verändern.
Genau das versuchen wir mitzuteilen: sich selbst nicht zu ernst zu
nehmen, im Guten oder Schlechten, eben weil wir wissen, dass sich das
Leben dauernd ändert, und uns zwingt, uns selbst zu verändern. Ist das
nicht ein Spiel?