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Bande meiner Kindheit

Oberösterreichische Niederschläge

Ach! … Freunde! Gebt mir einen Stützpunkt, und ich hebe euch den Pöstlingberg
aus den Angeln. Gebt mir ein Foto, ein Klassenfoto, und ich erzähle euch die
Geschichte einer Kindheit. Lasst mir Luft, dass ich reden kann!

Von Vasile V. Poenaru
(14. 08. 2022)

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Vasile V. Poenaru
bardaspoe [at] rogers.com


geboren 1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Lebt
in
Toronto.

 

 

 

 

   Passt? Denn ohne Luft kann ich nicht reden. Ist ja klar. Hob i vom Dichter – und bin so klug als wie zuvor.

Lasst mir ein Stück Linzer, dass ich meine ureigene Identität mit allen Sinnen wahrnehmen kann! Und einen Doppellutscher. Damit ich euch von der Doppelmonarchie erzählen kann! Den kaufte man sich früher beim Ring. Gemeinsam mit Jolly, Twinni und Cornetto.

Ach! Des worn Zeiten! Und Räume. Und kunterbunte Träume.

Oberösterreich: der Mittelpunkt der Welt. Das haben schon die alten Kelten gemerkt. Und Tacitus, von dem übrigens, das weiß ich von meinem guten Freund Bernd, die erste wissenschaftliche Beschreibung der Linzer Torte stammt, berechnete sowohl die erste als auch die zweite Ableitung der Krümmung, die die Donau bei Linz zeitigt, ganz im Sinne der Leibnizschen Differential- und Integralrechnung der Neuzeit, der Moderne, der Postmoderne.

Oberbreitenstraße: Traun. Lunzerstraße: Linz. Die Schleife der Einser. Da: unmittelbar am Tatort. Mitten drin in der Kindheit. In der Traunau. Auf dem Gelände der ESG. Die Wiener Straße entlang. Oder gar Richtung Sankt Florian?

Ombilico del mondo! That’s for sure.

Lentos. Lentia. Linz. Die beste Torte; die besten Worte.

Oberösterreichisch: Das ist, für diese Binsenwahrheit muss ich mich allerdings schon im Voraus bei der hochverehrten Leserschaft entschuldigen, was oberösterreichisch lebt und leibt. Weit weg: alles, was sich platt anhört.

Oberdeitsch? Goanz oben.

Niederdeusch? A bisserl unten.

Und ganz nah? Die Story. Die echte, ungeschminkte Story des Zeitgeistes. Da liegt das sozusagen in der alten Bande seiner Kindheit (als "the gang") die zeitlosen Bande seiner Kindheit ("the bonds")ausfindig machende auktoriale Ich (des i nu mal bin) vollkommen richtig.

Der bescheidene Ich-Erzähler spannt hierin einen Bogen, dessen Besitzer das kleine Ich ist.

   Den Zauber der Linzer Siebziger kann man nicht einfach nur so mit einem Fischernetz einfangen (wiewohl es ein gewisser Professor Fischer aus dem Ländle angeblich mehrmals, Stichwort "Semantisches Netz", versuchte). Dazu muss einer schon den Zeitgeist bemühen.

Zeitgeist, komm her!

Das Gute dabei ist: Der Zeitgeist hilft gerne. Das wissen wir schon spätestens seit Hegel. Amtlich. Ist ja klar. Und Adalbert Stifters Stilles Gesetz hat’s zusätzlich bekräftigt. Und zufälligerweise befand er, der Zeitgeist, sich damals, in den guten alten Siebzigern, an Ort und Stelle: in good old Kleinmünchen. Made of steel, made of soul, wie mein Ich in seinem Essayband Europe on one Roll of the Dice schreibt.

"Wir waren Österreicher. Sind’s immer noch. Zuallererst. And that’s all I’ve got to say." So hab ich’s mal (in meinem Aurora-Artikel "Unlogisch-philosophisches Traktat") auf den Punkt gebracht." And when I’m right, I’m right. Right?

Es geht um ein Erbe, ein Vermächtnis, ein Sinnbild: um ein Bild. Es geht um ein Bekenntnis. Zur Sprache. Und zur Familie. Zur Hoamat. Zur Bande der Kindheit. Zu den Banden der Kindheit. Zu allem, was der Fall ist.

And that’s all there is to say.

Vorwort des kleinen Ich

   Das sogenannte "Ich über mir" hab ich bereits ziemlich ausführlich in meiner Erzählung Die Ermordung von Manfred Schnitzel. Eine Campus-Geschichte in deep Toronto und im Sammelband Das Erbe von Bayview Village aus mehreren Richtungen her behandelt. Jetzt ist es an der Zeit, ausnahmsweise mal dem kleinen Ich auf die Schliche zu kommen.

  • Kleines Ich, bist du da? Hat es dich je gegeben? Wurdest du aufgehoben? Ist dein Narrativ echt? Gibt es dich auch wirklich noch voll und ganz? Wieviel Bestand hast du?

  • Natürlich bin ich da. Man muss nur hinschauen. Ich bin in deiner Kindheit. Fest in demjenigen eingebunden, was du, großes Ich, geworden bist, was du immer noch wirst.

Die Bande des kleinen Ich, ja die Bande meiner Kindheit haben ein Netz um mich herum gewoben, weben, ohne dass ich mir dessen so richtig bewusst werde, immer noch ein Netz um mich herum, machen eine Geschichte aus, die nicht erst mit meiner Kindheit anfängt und nicht mit ihr aufhört. Und in diesen quasi durchsichtigen Banden, den Banden meiner Kindheit, steckt selbstverständlich auch sie mit drin: die Bande meiner Kindheit. The gang, wie wir es im Nachhinein global pauschal berichtigend adäquat auf dem Begriff bringen wollen.

Singular, Plural

das Band, die Bande

die Bande, die Banden

   Die Bande meiner Kindheit schließen also auch die Bande meiner Kindheit ein, mit der ich einst das heimische Revier up and down the Lunzerstraße unsicher machte. Im guten alten Kleinmünchen lief alles bestens. Die weit über die Wiener Straße hinweg berüchtigten Brüder Krauss (tja, heutzutage würde man wohl the Krauss Brothers sagen; aber bitte nicht mit the Krauts verwechseln; die hausen nördlich des Limes) gehörten selbstverständlich dazu: Robert, Toni und Albert; manchmal radelten die drei bis zur Dreifaltigkeit-Säule. Und Bernd, ein mächtiger Indianerhäuptling, der die Schulbank mit Albert drückte und sein Zelt im Tunnerweg aufgeschlagen hatte. Und Jürgen. Und Peter. Und Paul.

Das kleine Ich hat viele Freunde. Und ich, der Autor, will es sein, der in die große Rolle des kleinen Ich (wollen wir es "das niedliche Ich" nennen?) schlüpft.

Ich, so wie ich die Gewachsenheit der vielen kleinen Dinge erlebte, die meine glückliche Kindheit in Oberösterreich in den Fluss des Seins, in den Fluss der Sprache rettete, ja so wie ich sie immer noch erlebe. Drei Flüsse wohnen, ach! in meiner Kindheit: Der Mühlbach, die Traun und unsere schöne blaue Donau. Und ich gehe zum Ring, den es nicht mehr gibt; und ich kaufe mir einen Doppellutscher, der mittlerweile freilich längst geschmolzen ist. Aber nur halb.

Und das ist es denn auch, was mir das kleine Ich beibringt, das kleine Ich, das sozusagen back in the day in meiner Brust weilte und mich eigentlich nie voll und ganz verlassen hat, wenn’s man recht bedenkt.

Halbwegs war schon damals alles vollbracht, was noch mal kommen sollte. Und nichts ist hundertprozentig weg. Und alles ist aufgehoben. Irgendwo.

Denn der Doppellutscher ist nur halb geschmolzen, was ja auf der Hand liegt; deswegen heißt er auch Doppellutscher und nicht etwa Einfacher Lutscher bzw. Single Lutscher. Aber die Philosophie an sich und für uns? Ein weites Feld in orbe ultima.

Wiewohl freilich nicht ganz so weit wie meine Kindheit im guten alten Oberösterreich. Nicht so weit wie die Bande meiner Kindheit.

And that’s only half the story.

Gangs of Urfahr

   Eines Tags, es war noch Sommer, ging ich ganz bewusst an meinem schmucken Dreirad vorbei und stieg aufs Fahrrad eines meiner Brüder. Und sieh einer an! Es klappte schon beim ersten Versuch. Glücklich radelte ich davon. Meine Bande konnte stolz auf mich sein. Ich war nun ein großer Junge. Ein Abenteurer. Ja, mehr, ein waschechter Indianer. Auf mich warteten offensichtlich kolossale Heldentaten. And big boys don’t cry.

Außer beim Zahnarzt und so. Als mir dann später nämlich einmal die Zahnarzthelferin während einer Untersuchung in der Schule auf den Zahn fühlte bzw. stocherte und ich ein diskretes "Au! …" von mir gab, herrschte mich die strenge Dame unwirsch an:

"Scham di!"

Nur, dass ich mich hätte schämen sollen, das wollte mir partout nicht einleuchten. Aber das ist eine philosophische Frage. Existentialismus und Scham. Oder: dialektale Scham in Oberösterreich. So muss das Leben wohl sein. Es holt alle Verlierer mal ein.

And so on.

Unsinn. Das ist jetzt Andy Borg. Ich will aber mein eigenes Zeug zusammenreimen. Zum Besten geben. Als leidliches Gestell einer Welt aufrichten. Inbrünstig dichten.

Und dies ist ja die Wahrheit, die volle Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

   Und eines Tags, im schönen Monat August, wurde unser Vater im Ferienlager vorstellig. Er kam allein. Ohne unsere Mutter. Das war ungewöhnlich. Meine Brüder waren schon im Vorjahr im Ferienlager in Sandl gewesen; für mich war’s das erste Mal. "Okay, Jungs! Neuer Plan. Auf geht’s! Was würdet ihr sagen, wenn wir schon heute nach Italien fahren könnten?"

Und er fuhr uns nach Hause. Unterwegs lagen entwurzelte Bäume am Straßenrand. Ein heftiges Gewitter wütete weit und breit. Aber wir ließen uns keine Angst einflößen.

Unsere Mutter hatte bereits die Koffer gepackt. Es konnte losgehen. Frau Dorner kam raus und winkte uns zu. "Ich wollte euch noch mal alle sehen, bevor ihr in Urlaub fahrt. Es geht wohl schon wieder mal nach Italien. Oder?"

Genau. Forza Italia! Italien ist ein schönes Land. Doch wir wollen die Feste feiern, wie sie fallen.

   Wahrhafte Geschichten, die wir, meine zwei Brüder und ich, uns an Ort und Stelle haben einfallen lassen. In der Mitte des Seins. Im Kern unserer Kindheit. Am Stadtrand. Alles war super. Wir hatten was zu sagen. Und uns fehlte auch nicht der Mut, das zu sagen, was wir zu sagen hatten.

Im Sommer die Italienreisen. Im Winter das Schifoan. Mal hier, mal da, aber in der Regel natürlich in Kirchschlag. Am Wochenende fuhren wir oft in die Berge. Mein Vater war ein Wandersmann, und ich habs auch im Blut … Und meine Mutter war ebenfalls eine gute Wanderin.

Oder einfach mal hin zum Mostbauer. Na ja, frische Eier. Frische Luft. Schlichte Hausmannskost. Gegacker im Hof. Oberösterreichische Hühner. Und ein oberösterreichischer Hahn. So war das früher.

Mit dem Fahrrad sind wir (das waren dann also nur wir Kinder und unser Vater, denn fürs Radfahren hatte die Mutter gar nicht so viel übrig) auch gerne herumgefahren, etwa bis St. Florian oder so. An einem Sonntag schafften wir, darauf war die ganze Familie besonders stolz, volle vierzig Kilometer.

  • Und ich war damals noch recht klein. Right, kleines Ich?
     
  • Jawohl. Aber immerhin schon umfangreich genug, um dann bald das Große Ich rausschlüpfen zu lassen.

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