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In the heart of Kleinmünchen

Die Straßenbahn Nummer Eins hat den intelligentesten Strom Europas über die
gerade mal nur mäßig befahrene Nibelungenbrücke überquert und bahnt sich nun ihren
ungefähren Weg durch die traute Dämmerung. Bald wird es regnen. Das Stadtbild hat
sich verdunkelt. Die Donau fließt weiter nach Wien und Budapest und dann noch weiter bis
Bulgarien und Rumänien. Es dauert nur ein paar Tage bis zu den fröhlichen lieben Pelikanen,
Kormoranen und Mücken im Donaudelta, denn seit Heraklit wissen wir, dass jeder Fluss
seiner Mündung entgegen strömt. Außer dem Fluss der Sprache, versteht sich.
Der fließt in viele Richtungen. Je nachdem.

Von Vasile V. Poenaru
(27. 04. 2023)

...



Vasile V. Poenaru
bardaspoe [at] rogers.com


geboren 1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Lebt
in
Toronto.

 

 

 

 

Die Wechselhaftigkeit, die
Flexibilität, die Wendefähig-keit der Linzer ist geograph-
isch bedingt. Lentia: Das
Wort stammt aus dem Kel-
tischen und bedeutet so was
wie Biegung. An dieser Stel-
le macht nämlich die Do-
nau einen Bogen – aber
ganz ohne böse Absichten
oder negative Konnota-
tionen.

 

 

 

 

 

 

Der dichte Nebel diesseits
wie jenseits der Brücke er-
innert an den sublimierten
Mythos, den wir alle ge-
wöhnlich hinter uns zu haben
meinen und der dabei doch
stets vor uns liegt. Ehre,
Liebe und Tapferkeit würde
jeder einmal gerne auf
diesen Gassen antreffen.

 

 

 

 

 

 

Hier könnte man ein paar
Stunden lang verschnaufen.
Aber hier tut sich ja nichts!
Oder vielleicht doch?

 

 

 

 

 

 

Vom anderen Ufer her
grüßt das Neue Rathaus,
doch die Straßenbahn grüßt
nicht zurück, sondern eilt
gleichsam beflissen einem
Miniature-Konglomerat deut-
schsprachiger Kulturge-
chichte entgegen.

 

 

 

 

 

 

 

Die Kinder rennen zur
Lunzerstraße, dann biegen
sie rechts um. Überquert
man die Straße, so steht
man vor einem hohen Zaun.
Bückt man sich, so schlüpft
man hindurch. Es tut sich
nicht viel auf dem Gelände
der ESG. Ein paar Knirpse
spielen dort, ein paar Hasen
hüpfen herum. Ein paar
Wolken gleiten am Himmel
vorbei. Eintritt verboten.
Versteht sich von selbst.

 

 

 

 

 

 

 

Kleinmünchen ist schon
seit 1923 ein Stadtteil von
Linz. Ein kleiner Stadtteil,
abgelegen und ruhig. Nein,
nicht ruhig. Aber abgele-
gen. Und vor allem echt.

 

 

 

 

 

 

Wenn man fernsieht, be-
kommt man Kleinmün-
chen nie zu Gesicht.

 

 

 

 

 

 

Es ist hier noch nie etwas
Böses geschehen, denn
wer traut sich schon her?
Die Stadt endet ja hier, und
nichts fängt mehr an.

 

 

 

 

 

 

 

Falls es den Durchschnitts-
menschen wirklich gibt, von
dem manchmal in Zeitun-
gen die Rede ist, wohnt er
bestimmt gleich da um die
Ecke. Von seinem Wagen
dürfte man annehmen, dass
er ihn täglich zum Dienst
fährt. Von seinem Dienst
dürfte man annehmen,
dass er mit einem Hocho-
fen zu tun hat.

 

 

 

 

 


 

Langsam löst sich
ein Floß vom Ufer des
Mühlbachs los und treibt
der Traun, der Donau,
dem Schwarzen Meer
entgegen.

   Besonders der österreichische Fluss der Sprache. Der große Vorteil des Standortes Linz ist, dass man von hier aus alles gut hören kann, was sich diesseits wie jenseits der Grenzen ereignet, die keine mehr sein sollen, dass man von hier aus überall leicht hinkommt, wo man sein will. Oft verharren die Linzer allerdings schließlich doch bei ihren eigenen Ansichten, nachdem sie mal auch den Ansichten anderer wenigstens in etwa auf den Zahn fühlen (i wo, die san net guat).

Schon die Römer beschlossen irgendwann einmal im Laufe des ersten Jahrtausends, bei Lentia ein Kastell zu errichten, um den wichtigsten Verkehrsweg über die Donau gegen die eher unfein vorstoßenden Scharen der Germanen zu verteidigen. Später schauten sich dann die globalisierenden Österreicher mit bedachtsamen Augen um und stellen fest, dass dies ein guter Ort sei: für kulturelle Interferenzen und großeuropäische Lösungen. Sogar dem Kaiser hat Linz als Residenz zugesagt.

Wo immer auch einer sich hinwendet, gibt’s was zu tun (oder doch wenigstens zu planen). Das fördert unter anderem den Austausch von Gütern und freilich auch den Austausch von Gemütern. Die Wechselhaftigkeit, die Flexibilität, die Wendefähigkeit der Linzer ist geographisch bedingt. Lentia: Das Wort stammt aus dem Keltischen und bedeutet so was wie Biegung. An dieser Stelle macht nämlich die Donau einen Bogen – aber ganz ohne böse Absichten oder negative Konnotationen. Alles bewegt sich mit mutmaßlich zielgerichteter Emsigkeit, denn die überaus lukrative Gedankenstätte Linz will ihre ergiebigen Morgenstunden im Einigungsprozess der Union nicht verpassen; der Knoten Linz wird ewig halten. Die meisten Einwohner der Europäischen Kulturstadt (2009) sind schon fast schneller auf den Beinen als die Wiener, ja manche haben sogar bereits im Handumdrehen gefrühstückt. Denn ein voller Magen wirkt wie Balsam aufs Gemüt. Ringsherum sieht es allerdings kaum sehr kulinarisch aus. Und trotzdem: Wenn man sich nur ein klein bisschen geduldet, öffnen alle Geschäfte.

   Die Bäckereien duften verführerisch, der frische Duft der Zeitungen bringt die Vorstellung allerneuester Nachrichten an den Tisch, frisch gemahlener Kaffee lädt die Leute ein, sich gegen den anbrechenden Tag zu wappnen, der wieder einmal ein Arbeitstag zu werden droht. Die Zeit fließt in Linz bekanntlich anders. Dadurch wird zum Teil die Biegung der Donau wiedergegeben, die sich vom Pöstlingberg aus so prächtig anblicken läßt.

Auch die Sprache klingt anders, wenn sie in ausgeprägt oberösterreichisch veranlagte Redetexte eingebettet wird, um einen weitläufigen Kommunikationsprozess in die Wege zu leiten, der irgendwo am Hafen beginnt und nirgendwo in der engen weiten Welt der Vielvölker-Union aufhört. Wer sich eine Weile in der näheren Umgebung aufhält, gewinnt nämlich das lokale Zeitgefühl, von dem man allerdings leicht annehmen würde, es sei das globale Zeitgefühl. Der dichte Nebel diesseits wie jenseits der Brücke erinnert an den sublimierten Mythos, den wir alle gewöhnlich hinter uns zu haben meinen und der dabei doch stets vor uns liegt. Ehre, Liebe und Tapferkeit würde jeder einmal gerne auf diesen Gassen antreffen. Es wäre so schön, heldenhaft oder gar moralisch zu handeln! Die ästhetische Urteilskraft der Stunde liegt womöglich gar nicht so weit entfernt begraben: sozusagen zwischen den sieben Hügeln.

Hofft man.

Niemand spricht die Frage aus, doch sie wird gedacht: Welche Frau ist schöner, welche Süßigkeit leckerer, welcher Ort stimmungsvoller, welches Wort aufschlussreicher?

   Nirgends schmeckt der Linzer so gut wie in Linz, denkt sich die junge Frau mit den langen Beinen (oder mit dem kurzen Rock, wenn man so will). Dann greift sie unwillkürlich in die Tasche und holt sich einen raus, langt kräftig zu, freut sich des Augenblicks, versucht an nichts zu denken, denkt aber doch an etwas. Hier könnte man ein paar Stunden lang verschnaufen. Aber hier tut sich ja nichts! Oder vielleicht doch? Aussteigen. Verschnaufen. Aneignung der Kulturgüter im Zentrum. Einbildung. Ausbildung. Abbildung.

Ob Linz wirklich global sei, möchte man wissen. Und was sich so tut, wenn etwas größer wird. Falls sich was tut. Die Donau fließt am Brucknerhaus vorbei. Elektronische Kunst ist mehr als die Kunst der Elektronen. Erbaulicher Müßiggang oder bildende Gemütlichkeit? Zeitvertreib. Einsteigen. Weiterfahren.

Ein neuer Kulturgang ist erledigt, seine Bedeutung versinnbildlicht. Veranschaulicht. Verschönert. Aufgeräumt. Die Dinge sind weg, die gerade noch da waren. Vom anderen Ufer her grüßt das Neue Rathaus, doch die Straßenbahn grüßt nicht zurück, sondern eilt gleichsam beflissen einem Miniature-Konglomerat deutschsprachiger Kulturgeschichte entgegen.

   Der leichte Regen verrät nur dann und wann die Umrisse eines Hauses, die Bedeutung eines Wortes, das Antlitz eines Menschen, der freilich ebensogut ein Standbild sein könnte. Das Standbild bewegt sich. Also doch ein Mensch! Möglicherweise sogar ein Mitmensch. Es geht weiter. Die Linie liest sich schon fast wie ein vorbildliches Schulbuch. Rüdiger-Straße, Bismarck-Straße, Schiller-Straße, Goethe-Straße. Bald hat sie auch die Mühlkreisautobahn hinter sich. Es geht nun die Wienerstraße entlang an der linken Seite andauernd die VÖEST.

Irgendwo muss ja schließlich all der Stahl herkommen, deswegen braucht man Stahlwerke. Die Vögelein flattern durch die rauchende Stadt, ihre Lebendigkeit ist nicht vorgetäuscht. Gleich nach der Zeppelinstraße endete die Strecke früher. Bei der Schleife fuhr die Straßenbahn wieder zurück ins Zentrum. Jetzt fährt sie weiter. Wir nicht. Aussteigen. Die Kinder rennen zur Lunzerstraße, dann biegen sie rechts um. Überquert man die Straße, so steht man vor einem hohen Zaun. Bückt man sich, so schlüpft man hindurch. Es tut sich nicht viel auf dem Gelände der ESG. Ein paar Knirpse spielen dort, ein paar Hasen hüpfen herum. Ein paar Wolken gleiten am Himmel vorbei. Eintritt verboten. Versteht sich von selbst. Die Kinder haben da eine Baumhütte die darf man streng genommen nicht haben. Sie jagen einander quer und krumm durch das Gelände oder laufen allesamt davon, wenn der Haberer kommt.

   Die Umwelt ist hier verschmutzt. Aber trotzdem scheinen die Kleinen irgendwie glücklich zu sein. Die Lunzerstraße führt zwar nirgendwo hin, oder besser gesagt sie führt zur VÖEST, dem berühmten lokalen und sogar globalen Umweltverschmutzer: dem Werk, das in aller Welt bekannt ist, da alle Welt Stahl braucht: dem Werk, dass sogar die Amerikaner mögen. Aber in Linz führen ja sowieso alle Wege zur VÖEST.

Das heißt, wenn sie nicht zur Dreifaltigkeitssäule führen. Oder nach Urfahr. Oder zum Pöstlingberg. Oder irgendwo anders hin. Was sie ja nie tun. Die Definition der Lunzerstraße liegt in den Bedeutungen begraben, die ihr die Leute beimessen, und im Fluss der Rede: in mutmaßlichen Wörterwendungen. Auf Anhieb könnte man etwa meinen, es sei die Straße aller Linzer. Die Straße aller Linzer ist jedoch die Wienerstraße, von der man freilich auf Anhieb annehmen würde, sie sei die Straße aller Wiener oder sogar aller Österreicher.

Die Straße aller Österreicher aber ist gar keine Straße, sondern eine Gasse. Und sie liegt weder in Wien noch in Linz, sondern in Salzburg. Doch von Linz kommt man ja ganz schnell nach Salzburg. Kleinmünchen ist schon seit 1923 ein Stadtteil von Linz. Ein kleiner Stadtteil, abgelegen und ruhig. Nein, nicht ruhig. Aber abgelegen. Und vor allem echt. Einfach echt. Für manche ist das genug, hat man ja wenigstens die Freiheit, etwas Besonderes daraus zu machen, etwa ein rührendes Bild zum Herzeigen. Nur ein klein bisschen Einbildungskraft würde man dazu brauchen.

   Und die Muße, im Kleinen zu verschnaufen, um die Wendung zu vollbringen, die zu den Dingen führt: mit dem Tempo der Natur einhergehen, und mit allen Biegungen, die halt dazu gehören. Natur sei schön, Industrie hässlich. Kleinmünchen hat ein großes Werk und grüne Wiesen. Und Bäume. Und Baumhütten. Wenige können sich freilich dazu entschließen, diesen Ort wirtlich zu finden. Noch wenigere können sich dazu entschließen, zuzugeben, dass sie ihn trotzdem lieb haben. Wenn man fernsieht, bekommt man Kleinmünchen nie zu Gesicht.

Was der Mensch braucht, kann er dabei hier immerhin schon suchen. Vor allem braucht der Mensch Geborgenheit. Nicht Aufgeräumtheit, sondern bloß Geborgenheit.

Der Mühlbach mündet in die Traun, die Traun in die Donau. Es ist hier noch nie etwas Böses geschehen, denn wer traut sich schon her? Die Stadt endet ja hier, und nichts fängt mehr an. Nein, eigentlich hat hier die Stadt schon längst geendet. Freilich, ein aus Brettern und Reifen Zusammengebasteltes ist unter der Brücke mit einem rostigen Kabel am Ufer befestigt, wer will, kann darauf bis zur anderen Seite des Mühlbachs gelangen, soweit er die Brücke scheut, vor allem, weil da ja auch der Zug entlangfährt. Aber der Zug fährt ja gar nicht so oft. Die Kinder rupfen das Gras. Der Hausmeister will nicht, dass die Kinder das Gras rupfen. Er muss es ihnen sagen.

Dadurch wird sein Amt hässlich. Sonst wird der Rasen hässlich. Die Rosen duften, wenn der Tag anbricht. Die Kläranlage stinkt, denn wo etwas sauber gemacht wird, da wird immer auch etwas schmutzig gemacht. Noch mehr stinken allerdings die Abgase und dazu noch all das, was die Leute nicht gerne in ihren Wohnungen haben und demzufolge lieber hierher abtransportieren lassen, um dadurch zum allgemeinen Zustand der Donau beizutragen.

   Aber darüber wollen wir schweigen. Außerdem ist das Wasserschutzgebiet nicht weit entfernt. Falls es den Durchschnittsmenschen wirklich gibt, von dem manchmal in Zeitungen die Rede ist, wohnt er bestimmt gleich da um die Ecke. Von seinem Wagen dürfte man annehmen, dass er ihn täglich zum Dienst fährt. Von seinem Dienst dürfte man annehmen, dass er mit einem Hochofen zu tun hat. An der Lunzerstraße fehlt den Wohnhäusern die Farbe, was jedoch kaum Wunder nimmt, beginnt ja bald ohnehin das ganze Viertel zu altern.

In der Bäckerei am Tunnerweg konnte man früher einmal Semmeln kaufen, als die Bäckerei noch eine Bäckerei war. Jetzt kann man da Gartenzwerge kaufen. Die schmecken aber nicht. Ein Blick auf Kleinmünchen ist natürlich auch ein Blick auf seine Menschen. Und auf den Bahnhof, wo kein Zug hält. Und auf die alte Gaststätte am Bahnhof, wo man gelegentlich eine Kleinigkeit zu sich nimmt. Und auf die Gartenhäuser.

Frische rot-weiß-rote Karotten kann man da aus der Erde heraus graben: aus österreichischem Grund und Boden. Denn manchmal ist Kleinmünchen schön. Wenn zum Beispiel die Sonne scheint. Oder wenn das Fahrrad einen wo hin führt, etwa nach St. Florian oder eben auch nur die Schleife hin und zurück, die man sich irgendwo denkt. Wenn ein Ort mehr wird als die Sagkraft seiner Bauten. Wenn das Mühlviertel einen heranzieht. Wenn die Leute einander anblicken und dann plötzlich zu wissen meinen, dass sie dieses kleine Stück Vorstadt ihr eigen nennen dürfen, ein häuslich anmutendes Ganzes, zu dem sie gehören. Wird die Au im Frühjahr überschwemmt, so erzählen sich die Fischer ihre Geschichten.

   Verfängt sich was? Der Zug fährt von hier tunlichst zum Pichlingersee, dem tiefsten Ort weit und breit. Es sind nur zwei Haltestellen. Auf dem See schwimmen alle meine Enten. Bevor die jetzige Traunbrücke gebaut wurde, gab es die alte Traunbrücke. Langsam löst sich ein Floß vom Ufer des Mühlbachs los und treibt der Traun, der Donau, dem Schwarzen Meer entgegen. Aber das ist ja alles nur ein Bild. Mit der Zeit wird es gelber.

NICHTSDESTOWENIGER: MIT DER DISTANZ NIMMT DIE PRÄGNANZ ZU.
 

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