Besonders
der österreichische Fluss der Sprache. Der große Vorteil des Standortes Linz
ist, dass man von hier aus alles gut hören kann, was sich diesseits wie
jenseits der Grenzen ereignet, die keine mehr sein sollen, dass man von hier
aus überall leicht hinkommt, wo man sein will. Oft verharren die Linzer
allerdings schließlich doch bei ihren eigenen Ansichten, nachdem sie mal
auch den Ansichten anderer wenigstens in etwa auf den Zahn fühlen (i wo, die
san net guat).
Schon die Römer
beschlossen irgendwann einmal im Laufe des ersten Jahrtausends, bei Lentia
ein Kastell zu errichten, um den wichtigsten Verkehrsweg über die Donau
gegen die eher unfein vorstoßenden Scharen der Germanen zu verteidigen.
Später schauten sich dann die globalisierenden Österreicher mit bedachtsamen
Augen um und stellen fest, dass dies ein guter Ort sei: für kulturelle
Interferenzen und großeuropäische Lösungen. Sogar dem Kaiser hat Linz als
Residenz zugesagt.
Wo immer auch einer sich
hinwendet, gibt’s was zu tun (oder doch wenigstens zu planen). Das fördert
unter anderem den Austausch von Gütern
–
und freilich auch den Austausch von Gemütern. Die Wechselhaftigkeit, die
Flexibilität, die Wendefähigkeit der Linzer ist geographisch bedingt.
Lentia: Das Wort stammt aus dem Keltischen und bedeutet so was wie Biegung.
An dieser Stelle macht nämlich die Donau einen Bogen – aber ganz ohne böse
Absichten oder negative Konnotationen. Alles bewegt sich mit mutmaßlich
zielgerichteter Emsigkeit, denn die überaus lukrative Gedankenstätte Linz
will ihre ergiebigen Morgenstunden im Einigungsprozess der Union nicht
verpassen; der Knoten Linz wird ewig halten. Die meisten Einwohner der
Europäischen Kulturstadt (2009) sind schon fast schneller auf den Beinen als
die Wiener, ja manche haben sogar bereits im Handumdrehen gefrühstückt. Denn
ein voller Magen wirkt wie Balsam aufs Gemüt. Ringsherum sieht es allerdings
kaum sehr kulinarisch aus. Und trotzdem: Wenn man sich nur ein klein
bisschen geduldet, öffnen alle Geschäfte.
Die
Bäckereien duften verführerisch, der frische Duft der Zeitungen bringt die
Vorstellung allerneuester Nachrichten an den Tisch, frisch gemahlener Kaffee
lädt die Leute ein, sich gegen den anbrechenden Tag zu wappnen, der wieder
einmal ein Arbeitstag zu werden droht. Die Zeit fließt in Linz bekanntlich
anders. Dadurch wird zum Teil die Biegung der Donau wiedergegeben, die sich
vom Pöstlingberg aus so prächtig anblicken läßt.
Auch die Sprache klingt
anders, wenn sie in ausgeprägt oberösterreichisch veranlagte Redetexte
eingebettet wird, um einen weitläufigen Kommunikationsprozess in die Wege zu
leiten, der irgendwo am Hafen beginnt und nirgendwo in der engen weiten Welt
der Vielvölker-Union aufhört. Wer sich eine Weile in der näheren Umgebung
aufhält, gewinnt nämlich das lokale Zeitgefühl, von dem man allerdings
leicht annehmen würde, es sei das globale Zeitgefühl. Der dichte Nebel
diesseits wie jenseits der Brücke erinnert an den sublimierten Mythos, den
wir alle gewöhnlich hinter uns zu haben meinen und der dabei doch stets vor
uns liegt. Ehre, Liebe und Tapferkeit würde jeder einmal gerne auf diesen
Gassen antreffen. Es wäre so schön, heldenhaft oder gar moralisch zu
handeln! Die ästhetische Urteilskraft der Stunde liegt womöglich gar nicht
so weit entfernt begraben: sozusagen zwischen den sieben Hügeln.
Hofft man.
Niemand spricht die Frage
aus, doch sie wird gedacht: Welche Frau ist schöner, welche Süßigkeit
leckerer, welcher Ort stimmungsvoller, welches Wort aufschlussreicher?
Nirgends
schmeckt der Linzer so gut wie in Linz, denkt sich die junge Frau mit den
langen Beinen (oder mit dem kurzen Rock, wenn man so will). Dann greift sie
unwillkürlich in die Tasche und holt sich einen raus, langt kräftig zu,
freut sich des Augenblicks, versucht an nichts zu denken, denkt aber doch an
etwas. Hier könnte man ein paar Stunden lang verschnaufen. Aber hier tut
sich ja nichts! Oder vielleicht doch? Aussteigen. Verschnaufen. Aneignung
der Kulturgüter im Zentrum. Einbildung. Ausbildung. Abbildung.
Ob Linz wirklich global
sei, möchte man wissen. Und was sich so tut, wenn etwas größer wird. Falls
sich was tut. Die Donau fließt am Brucknerhaus vorbei. Elektronische Kunst
ist mehr als die Kunst der Elektronen. Erbaulicher Müßiggang oder bildende
Gemütlichkeit? Zeitvertreib. Einsteigen. Weiterfahren.
Ein neuer Kulturgang ist
erledigt, seine Bedeutung versinnbildlicht. Veranschaulicht. Verschönert.
Aufgeräumt. Die Dinge sind weg, die gerade noch da waren. Vom anderen Ufer
her grüßt das Neue Rathaus, doch die Straßenbahn grüßt nicht zurück, sondern
eilt gleichsam beflissen einem Miniature-Konglomerat deutschsprachiger
Kulturgeschichte entgegen.
Der
leichte Regen verrät nur dann und wann die Umrisse eines Hauses, die
Bedeutung eines Wortes, das Antlitz eines Menschen, der freilich ebensogut
ein Standbild sein könnte. Das Standbild bewegt sich. Also doch ein Mensch!
Möglicherweise sogar ein Mitmensch. Es geht weiter. Die Linie liest sich
schon fast wie ein vorbildliches Schulbuch. Rüdiger-Straße, Bismarck-Straße,
Schiller-Straße, Goethe-Straße. Bald hat sie auch die Mühlkreisautobahn
hinter sich. Es geht nun die Wienerstraße entlang
–
an der linken Seite andauernd die VÖEST.
Irgendwo muss ja
schließlich all der Stahl herkommen, deswegen braucht man Stahlwerke. Die
Vögelein flattern durch die rauchende Stadt, ihre Lebendigkeit ist nicht
vorgetäuscht. Gleich nach der Zeppelinstraße endete die Strecke früher. Bei
der Schleife fuhr die Straßenbahn wieder zurück ins Zentrum. Jetzt fährt sie
weiter. Wir nicht. Aussteigen. Die Kinder rennen zur Lunzerstraße, dann
biegen sie rechts um. Überquert man die Straße, so steht man vor einem hohen
Zaun. Bückt man sich, so schlüpft man hindurch. Es tut sich nicht viel auf
dem Gelände der ESG. Ein paar Knirpse spielen dort, ein paar Hasen hüpfen
herum. Ein paar Wolken gleiten am Himmel vorbei. Eintritt verboten.
Versteht sich von selbst. Die Kinder haben da eine Baumhütte
–
die darf man streng genommen nicht haben. Sie jagen einander quer und krumm
durch das Gelände oder laufen allesamt davon, wenn der Haberer kommt.
Die
Umwelt ist hier verschmutzt. Aber trotzdem scheinen die Kleinen irgendwie
glücklich zu sein. Die Lunzerstraße führt zwar nirgendwo hin, oder besser
gesagt sie führt zur VÖEST, dem berühmten lokalen und sogar globalen
Umweltverschmutzer: dem Werk, das in aller Welt bekannt ist, da alle Welt
Stahl braucht: dem Werk, dass sogar die Amerikaner mögen. Aber in Linz
führen ja sowieso alle Wege zur VÖEST.
Das heißt, wenn sie nicht
zur Dreifaltigkeitssäule führen. Oder nach Urfahr. Oder zum Pöstlingberg.
Oder irgendwo anders hin. Was sie ja nie tun. Die Definition der
Lunzerstraße liegt in den Bedeutungen begraben, die ihr die Leute beimessen,
und im Fluss der Rede: in mutmaßlichen Wörterwendungen. Auf Anhieb könnte
man etwa meinen, es sei die Straße aller Linzer. Die Straße aller Linzer ist
jedoch die Wienerstraße, von der man freilich auf Anhieb annehmen würde, sie
sei die Straße aller Wiener –
oder sogar aller Österreicher.
Die Straße aller
Österreicher aber ist gar keine Straße, sondern eine Gasse. Und sie liegt
weder in Wien noch in Linz, sondern in Salzburg. Doch von Linz kommt man ja
ganz schnell nach Salzburg. Kleinmünchen ist schon seit 1923 ein Stadtteil
von Linz. Ein kleiner Stadtteil, abgelegen und ruhig. Nein, nicht ruhig.
Aber abgelegen. Und vor allem echt. Einfach echt. Für manche ist das genug,
hat man ja wenigstens die Freiheit, etwas Besonderes daraus zu machen, etwa
ein rührendes Bild zum Herzeigen. Nur ein klein bisschen Einbildungskraft
würde man dazu brauchen.
Und
die Muße, im Kleinen zu verschnaufen, um die Wendung zu vollbringen, die zu
den Dingen führt: mit dem Tempo der Natur einhergehen, und mit allen
Biegungen, die halt dazu gehören. Natur sei schön, Industrie hässlich.
Kleinmünchen hat ein großes Werk und grüne Wiesen. Und Bäume. Und
Baumhütten. Wenige können sich freilich dazu entschließen, diesen Ort
wirtlich zu finden. Noch wenigere können sich dazu entschließen, zuzugeben,
dass sie ihn trotzdem lieb haben. Wenn man fernsieht, bekommt man
Kleinmünchen nie zu Gesicht.
Was der Mensch braucht,
kann er dabei hier immerhin schon suchen. Vor allem braucht der Mensch
Geborgenheit. Nicht Aufgeräumtheit, sondern bloß Geborgenheit.
Der Mühlbach mündet in die
Traun, die Traun in die Donau. Es ist hier noch nie etwas Böses geschehen,
denn wer traut sich schon her? Die Stadt endet ja hier, und nichts fängt
mehr an. Nein, eigentlich hat hier die Stadt schon längst geendet. Freilich,
ein aus Brettern und Reifen Zusammengebasteltes ist unter der Brücke mit
einem rostigen Kabel am Ufer befestigt, wer will, kann darauf bis zur
anderen Seite des Mühlbachs gelangen, soweit er die Brücke scheut, vor
allem, weil da ja auch der Zug entlangfährt. Aber der Zug fährt ja gar nicht
so oft. Die Kinder rupfen das Gras. Der Hausmeister will nicht, dass die
Kinder das Gras rupfen. Er muss es ihnen sagen.
Dadurch wird sein Amt
hässlich. Sonst wird der Rasen hässlich. Die Rosen duften, wenn der Tag
anbricht. Die Kläranlage stinkt, denn wo etwas sauber gemacht wird, da wird
immer auch etwas schmutzig gemacht. Noch mehr stinken allerdings die Abgase
und dazu noch all das, was die Leute nicht gerne in ihren Wohnungen haben
und demzufolge lieber hierher abtransportieren lassen, um dadurch zum
allgemeinen Zustand der Donau beizutragen.
Aber
darüber wollen wir schweigen. Außerdem ist das Wasserschutzgebiet nicht weit
entfernt. Falls es den Durchschnittsmenschen wirklich gibt, von dem manchmal
in Zeitungen die Rede ist, wohnt er bestimmt gleich da um die Ecke. Von
seinem Wagen dürfte man annehmen, dass er ihn täglich zum Dienst fährt. Von
seinem Dienst dürfte man annehmen, dass er mit einem Hochofen zu tun hat. An
der Lunzerstraße fehlt den Wohnhäusern die Farbe, was jedoch kaum Wunder
nimmt, beginnt ja bald ohnehin das ganze Viertel zu altern.
In der Bäckerei am
Tunnerweg konnte man früher einmal Semmeln kaufen, als die Bäckerei noch
eine Bäckerei war. Jetzt kann man da Gartenzwerge kaufen. Die schmecken aber
nicht. Ein Blick auf Kleinmünchen ist natürlich auch ein Blick auf seine
Menschen. Und auf den Bahnhof, wo kein Zug hält. Und auf die alte Gaststätte
am Bahnhof, wo man gelegentlich eine Kleinigkeit zu sich nimmt. Und auf die
Gartenhäuser.
Frische rot-weiß-rote
Karotten kann man da aus der Erde heraus graben: aus österreichischem Grund
und Boden. Denn manchmal ist Kleinmünchen schön. Wenn zum Beispiel die Sonne
scheint. Oder wenn das Fahrrad einen wo hin führt, etwa nach St. Florian
oder eben auch nur die Schleife hin und zurück, die man sich irgendwo denkt.
Wenn ein Ort mehr wird als die Sagkraft seiner Bauten. Wenn das Mühlviertel
einen heranzieht. Wenn die Leute einander anblicken und dann plötzlich zu
wissen meinen, dass sie dieses kleine Stück Vorstadt ihr eigen nennen
dürfen, ein häuslich anmutendes Ganzes, zu dem sie gehören. Wird die Au im
Frühjahr überschwemmt, so erzählen sich die Fischer ihre Geschichten.
Verfängt
sich was? Der Zug fährt von hier tunlichst zum Pichlingersee, dem tiefsten
Ort weit und breit. Es sind nur zwei Haltestellen. Auf dem See schwimmen
alle meine Enten. Bevor die jetzige Traunbrücke gebaut wurde, gab es die
alte Traunbrücke. Langsam löst sich ein Floß vom Ufer des Mühlbachs los und
treibt der Traun, der Donau, dem Schwarzen Meer entgegen. Aber das ist ja
alles nur ein Bild. Mit der Zeit wird es gelber.
NICHTSDESTOWENIGER: MIT
DER DISTANZ NIMMT DIE PRÄGNANZ ZU.
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