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Angekratzte Zukunft

The Toronto Connection

"There is a crack, a crack in everything.
That's how the light gets in."
(Leonard Cohen)

Von Vasile V. Poenaru
(18. 11. 2022)

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Vasile V. Poenaru
bardaspoe [at] rogers.com


geboren 1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Lebt
in
Toronto.

 

 

 

 

   Macht der Habeck einen Kratzfuß vor Seiner Durchlaucht im fernen Katar, so is des for future. Denn wo Demokratie und Rechtsstaatlichkeit walten, kaufen wir gerne ein.

Und Fracking war schlecht, aber jetzt ist es wieder gut.

Und ich schwenke meinen Hut.

Tiefgründiges Zeug: Ist ein Politiker (oder ein Analyst bzw. Akademiker) recht kratzbürstig, so bietet er seinen Widersachern eine breite Angriffsfläche – und holt sich somit einen Haufen Likes ein. Und kratzt man ein bisschen unter der Oberfläche des Seins herum, etwa im Intranet, im Deep Net oder gar im Dark Net … Bingo! Die Zukunft. Aber nicht morgen. Heute. Ein Blueprint zum Mitnehmen.

Ach! Wie schön!

Die Zukunft – so wie sie hätte sein können.

Billig. Recht und billig. Sie kommt vom Lake Ontario.

   Kultur und Business stecken in der Innenwelt ihrer Einwohner. Die Großstadt verschlingt kollektive Ausprägungen der Einbildungskraft, individuelle Ansprüche auf Traumpotential, die gängige Glaubwürdigkeit von Konstanten und die unwahrscheinliche Ambivalenz bequem verfügbarer Varianten all der vielen Einzelbiographien, die zu diesem Ort führen. Die Vorstellung einer hinreißenden Metropole trägt den Blick manchmal jenseits von glänzenden Sehenswürdigkeiten und einnehmender Unterhaltungskultur. We call it Toronto the Great, meinen lokale Patrioten, und empfinden dabei so etwas wie einen lokalen Patriotismus.

Auf der Straße stolpert man über ausgediente Mythen. In der Luft trifft man auf ein paar angekratzte Wolken, einen hohen Turm und zahlreiche Banken. Deren Namen muten majestätisch an: Royal Bank of Canada; Canadian Imperial Bank of Commerce. Tangerine, früher ING Direct: Save your money! Im wahrsten Sinne des Wortes. Am See gleiten Boote in die unmittelbare Zukunft der bestmöglichen Postmoderne.

Wie sie gestaltet wird? Ich kann’s nicht sagen.

   Im Herzen der Stadt scheint die Sonne, scheinen Wolkenkratzer. Wenn es regnet, bummeln die Leute im Einkaufszentrum. Wenn es wogt, schlafen die Boote im Hafen. Wenn es dunkelt, genießen die Gaumenfreunde am Ontario-See das Abendessen auf einem großen Schiff. Captain John’s ist sein Name (Genitiv, da es Johns Schiff ist). Nicht weit entfernt reißt Westin Harbour den Blick der Touristen an sich. Auch im Royal York ziehen viele Gäste ein. Wir haben nicht die Berge in British Columbia, aber sehr wohl die städtische Kultur, die städtische Multikultur, die städtische Subkultur einer überwältigenden Matrix der Völker. Ontario ist Kanadas Number One. Irgendwo in der divergierenden Mentalität-Gestaltung fängt die Produktivität, fängt die Freiheit an. Irgendwo hört sie auf.

Ein Hut fliegt durch die Luft. Ein Abendmahl wird verschlungen. Ein Krieg gewonnen. Ein Frieden verloren. Der Stau auf der Autobahn wirft globale Fragen auf. Wälder, Wasser, Energie. Bodenschätze liegen verstreut. Es wirbelt in der Luft. Bier ist teuer. Deutschland jenseits des Ozeans. Toronto großartig. We drink for the Great. Wie weit entfernt ist die Welt? Wie weit entfernt sind die anderen? Wie weit entfernt wir selbst?

Bathurst Street, South of Sheppard. North York, Toronto. Mann in Sicht: ein älterer Herr. Geht wahrscheinlich ins Community Centre, wo ein paar Tische auf Gesellschaft warten. Ein paar Stühle dazu. Ein paar Hüte. Ein paar Erinnerungen. Ein Fernseher.

How are you doing? sage ich. Der Mann antwortet entweder in einem sehr gebrochenen Englisch oder aber in einer anderen Sprache, jedenfalls vermag ich nichts zu verstehen.

Alles klar! Gehn ma!

   Bathurst Street, nach Lord Bathurst benannt, der sich vor 200 Jahren als Secretary for War and Colonies hervorgetan hat, führt über muntere Hügelchen diskret hinunter zum Ontario-See. Krieg und Kolonien: Das will was heißen. An der Bloor kann man links umbiegen und sich die Beine im Herzen der Stadt zertreten. Jede Straße in Toronto war früher einmal ein Lord oder wenigstens ein unternehmungslustiger nobler Mann. Mr. Simcoe hat einst die Stadt gegründet. Bloor besaß eine Brauerei (Oans, zwoa, b’suffa!), weswegen diese Straße naturgemäß ganz besonders lang ist. Jarvis hat bestimmt auch viel geleistet, jedenfalls bieten die Farmer heutzutage dort ihre Ware an (Unser Fleisch stammt von heimischen Kühen!). Zusammen mit zahlreichen adligen Kollegen in Sachen Städtische Namengebung stolzieren diese Herren heutzutage auf dem Stadtplan herum.

Es gab Zeiten, da die Königin sagen konnte: "Mein Royal York ist der absolute Gipfel!"

Und es gab Zeiten, da ich, wiewohl selber jedenfalls im traditionellen Sinne des Wortes streng genommen gar kein König per se, sagen konnte: "Die Royal York Street führt zum Kanada Kurier (Royal York Plaza, 1500 Royal York St., Toronto). Und was im Kanada Kurier klassisches Latein ist, entscheide ich!"

Auf gut Deutsch: Als ich noch als Editorial King (naja, eigentlich Vizekönig) über die Geschicke der Ontario-Ausgabe und gelegentlich über die der nationalen Ausgabe der Zeitung waltete, wurde da jeder Artikel, jedes Interview, jede Übersetzung der Finanzberichte, die ich zu verantworten hatte und – last but not least – jede meiner bei der g’schätzten Leserschaft ungemein beliebten Kolumnen zum Thema Tagesgeschäft "Rund um den CN-Turm" tatsächlich eigenständig nach dem Kantischen Reinheitsgebot konzipiert und verfasst: "Du sollst nichts [was der Bekanntmachung wahrhafter Begebungen dienlich sein könnte] verhehlen (und, wenn’s recht ist, auch nicht stehlen), du sollst [die Meinungsfreiheit bzw. den gesunden Menschenverstand] nicht töten, du sollst nicht begehren deines Nächsten News [also die Fake News des nächstbesten obrigkeitshörigen Fake-News-Multiplikators] noch die gleichschaltende Propaganda weit und breit". To be taken with a grain of salt: cum grano salis.

   Es stand noch nicht endgültig fest, ob die Zukunft, links, zwo, drei, vier, null, eins, null eins, unabdingbar auf uns zu rückt oder ob wir ihr vielmehr – fast and furious – aus freien Stücken entgegen sausen. Dabei ging es wie seit eh und je um die eine Frage: Spieglein, Spieglein an der Wand, wem gebührt die Deutungshoheit im Land?

Das Copy-and-Paste-Zeitalter hatte die Newspaper World noch nicht voll und ganz im Griff. Es war – noch – nicht verboten, während der Arbeit zu denken bzw. sich seines Verstandes auch mal ohne die Leitung eines jeweiligen Ober-Drahtziehers zu bedienen – denn damals hieß "Sapere aude!" noch "Habe den Mut, zu denken" bzw. ein waschechter "sapiens sapiens" zu sein, und nicht "Super! Ein Audi!"

Freilich empfand sich einer schon damals bereits oft genug als Don Quijote, soweit ihm wirklich daran lag, die Prinzipien des Journalismus, Kundschaft hin und her (denn Werbung wird immer groß geschrieben, was, Hand aufs Herz – ohne Gut und Geld keine Ehr und Herrlichkeit der Welt – auch seine Richtigkeit hat), aufrechtzuerhalten.

   Jetzt spielen die Südamerikaner ihre hinreißende Andenmusik am Fuße der Wolkenkratzer. Die Polen verkaufen Würstchen an der Roncesvalles, die Chinesen chinesisches Zeug an der Spadina. Boote segelten her. Aus den Inseln kam das Selbstverständnis des Einzelnen als Mit-Bezugsystem der Welt: der ersten, der zweiten, der dritten Welt. Die Inder haben auch den Weg zum neuen Babel gefunden. Arabische Taxi-Karavanen ziehen durch die wüste Metropole. An den Straßenecken das übliche Getue.

Es geht wie auf einem Marktplatz für Gemüter-Fracht zu. Die sprachbegabten Aktanten der kollektiven Durcheinander-Theorien leiten den körperlichen und geistigen Verkehr mit ihrem reichhaltigen Wortschatz und ihren paar wohlinstrumentalisierten Instinkten. Der Mensch ist ein Konsument, der Mitmensch ein Mit-Konsument. Wer aber nicht mitkonsumiert, ist kein Mit-Konsument. Was braucht der Mensch?

Westende und Ostende seien im Toronto genannten Ballungsraum spät abends zu meiden, rät der vernünftige Menschenverstand. Die Wirtschaftlichkeit neuerer Gemeinschaftsdefinitionen wird anhand pragmatischer Vorurteile ergründet. Those people. Downstairs people. You guys. Customer. Sir. Gängige Titel, von denen letztere anständig dünken. Potentiell ist jeder jedem Kunde. Millionen üben das Kundensein. Als Kunde besitzt einer mehr ontische Würde.

   Einkaufen im koreanischen Viertel: Sauber gedruckte Aufkleber. Alles auf Koreanisch. Rundherum Koreaner. Eine Dame lächelt uns zu: Onion Rings. Höchst empfehlenswert. Ganz berühmt bei uns in Asien. Ich bin keine Koreanerin, ich komme aus Japan. Immer nur zugreifen. Die schmecken. Wir greifen zu. In der Tat: Sie schmecken.

Die Griechen halten es wie auf ihren Inseln. Der Strand liegt nah, all die Kir, deren Namen in -opoulos enden, haben ihr Viertel strategisch müßig angesiedelt. Es ist zwar nicht so heiß in Toronto, doch der Hochsommer kann recht lauwarm-feucht-erhitzend müde stimmen. Nachmittags ruht man sich aus. Die Männer hocken in großzügig zahlreichen Kneipen, wahrend ihre Frauen irgendwas tun. Tzatziki mit Souvlaki. Loukoumades. Bier.

Der späte Nachmittag neigt sich dem frühen Abend zu. Die Amerikaner haben ihre Würfel geworfen. Menschen werden getötet, um zu verhindern, dass Menschen getötet werden. Die unheimliche Situation südlich der Grenze wird in langatmigen Sätzen analysiert. Gott sei Dank sind wir nicht in den Staaten. Leider sind wir nicht in den Staaten. Tzatziki mit Souvlaki. Loukoumades. Bier. Es dunkelt. Ein Sprung hinunter zum See: An der Queen Street spazieren Leute östlich bis Woodbine, um dann am Ufer des Ontario-Sees wieder nach Westen zurückzulaufen: immer dem Turm nach. Lion on the Beach ist ein berühmter Versammlungsort der Künstlerwelt. Auch ein paar Motorräder sind da stets geparkt. Manchmal sind es sogar ein paar mehr. Die Biker sausen gerne mit Maximallärm durch die ansonsten ruhige Straße, die man hier im Osten der Metropole angesichts ihrer eher geringen Breite und der ausgesprochenen Gemächlichkeit rundherum auch Gasse nennen könnte. Künstler schauen sich die Welt an. Nicht-Künstler auch. Drogenhändler sind nirgends zu erblicken. Recht gemütlich eigentlich.

Die Kanus auf dem See muten irgendwie indianisch an. Sie sind nicht indianisch, der rote Bruder ist weg. Jetzt sind andere Brüder da. Jeder begegnet jedem freundlich, soweit die Jagdgründe reichen. (Bevor die Stadt gegründet wurde, hat die schlaue Regierung im Jahre 1805 den ganzen Boden weit und breit für lumpige zehn Schillinge von den Indianern "gekauft"; das war damals der Tagelohn eines einfachen Söldners).

Es gibt in Toronto mehr als hundert Begriffe für Essen. Die an sich deutlicher als zugestanden verankerten Grenzen zwischen Sprach- und Esskulturen werden manchmal mit großzügiger Unbekümmertheit überschritten, wenn sich die Nachbarschaften treffen: kein zwingend paradiesischer Zustand, wohl aber ein entspannend erbaulicher.

Es kommt wie andernorts auch in Toronto vor, dass sich der Mensch mitunter wenigstens auf stückweise emotioneller Ebene kurzfristig zum Mitmenschen entwickelt. (Oder vielleicht wäre Kollateral-Mensch ein besseres Wort.) Dann entsteht so etwas wie ein Gefühl, dass man dazugehört, wo man nicht zugehört. Pfoten Weg von meinen Kreisen! Hätte der Satz unter Umständen irgendwann in der Zeitmuschel des kanadischen Griechentums an der Danforth ertönen können? Wahrscheinlich nicht. Mascalzone! Io sono Italiano! Das schon eher. Ja, das klingt vertraut. Das klingt zeitgenössisch. Aber freilich ist das italienische Viertel anderswo. Da müsste man mit der Straßenbahn die St. Clair runter fahren. Und wir sind jetzt nun einmal in der Nähe des griechischen Viertels. Griechische Zitate liegen bestimmt irgendwo herum.

   Auf individuelle Gesundheit ist jeder bedacht. Achtung Achtung! Smog Alert! (Schon wieder.) Die Umwelt(Mit)VerschmutzerInnen geben Gas und fluchen über die schlechte Luft. Der Sand ist weich. Barfuß. Vorsichtig. Geistesgegenwärtig muss einer sein. Gerne folgt der Blick am Horizont dem milden Sonnenuntergang. Die Stadt kann man hier aus der Ferne sehen. Ihre Menschen kann man hier aus der Nähe sehen. Sie laufen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit.

Einen Handschlag. Ein freundliches Gesicht. Einen offenen Blick würde jeder gern erleben. Wir sind zivilisiert, verbergen unsere Gefühle. Wir sprechen verschiedene Sprachen, verwenden stets die eine. Wir lieben uns nicht. Wir hassen uns nicht. Wir fahren auseinander. Wir gehen ineinander. Immer wieder. Um die Neudefinition eines erschließbaren Reiches zu ergründen, das wir uns aneignen: das uns aneignet. Oft sprach früher unsereiner mit gespaltener Zunge. Damit sei Schluss. Wir glauben sehr stark daran. Wir haben keine Angst mehr vor dem Weinen. Es gibt uns. Es gibt uns aus Fleisch und Geist, aus Stahl und Glas, aus Geld, Beton, Microchips und Stammzellen. Wir sind da. Wirklich da. Unsere Himmel sind hoch, die Bauten tragbar, der Wettbewerb zwingend, das Wachstum beständig. Vor uns liegt die spontane Zusammenfassung einer gewagten Deutung der weltoffenen Gesinnung, die den Begriff Großstadt ziert. Darüber hinaus gibt es wenig zu sagen. Ein letzter Satz? Toronto.

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