Macht der Habeck einen
Kratzfuß vor Seiner Durchlaucht im fernen Katar, so is des for future. Denn
wo Demokratie und Rechtsstaatlichkeit walten, kaufen wir gerne ein.
Und Fracking war schlecht,
aber jetzt ist es wieder gut.
Und ich schwenke meinen
Hut.
Tiefgründiges Zeug: Ist ein Politiker (oder ein Analyst
bzw. Akademiker) recht kratzbürstig, so bietet er seinen Widersachern eine
breite Angriffsfläche – und holt sich somit einen Haufen Likes ein. Und
kratzt man ein bisschen unter der Oberfläche des Seins herum, etwa im
Intranet, im Deep Net oder gar im Dark Net … Bingo! Die Zukunft. Aber nicht
morgen. Heute. Ein Blueprint zum Mitnehmen.
Ach! Wie schön!
Die Zukunft – so wie sie hätte sein können.
Billig. Recht und billig. Sie kommt vom Lake Ontario.
Kultur und Business stecken
in der Innenwelt ihrer Einwohner. Die Großstadt verschlingt kollektive
Ausprägungen der Einbildungskraft, individuelle Ansprüche auf
Traumpotential, die gängige Glaubwürdigkeit von Konstanten und die
unwahrscheinliche Ambivalenz bequem verfügbarer Varianten all der vielen
Einzelbiographien, die zu diesem Ort führen. Die Vorstellung einer
hinreißenden Metropole trägt den Blick manchmal jenseits von glänzenden
Sehenswürdigkeiten und einnehmender Unterhaltungskultur. We call it Toronto
the Great, meinen lokale Patrioten, und empfinden dabei so etwas wie einen
lokalen Patriotismus.
Auf der Straße stolpert man über ausgediente Mythen. In
der Luft trifft man auf ein paar angekratzte Wolken, einen hohen Turm und
zahlreiche Banken. Deren Namen muten majestätisch an: Royal Bank of Canada;
Canadian Imperial Bank of Commerce. Tangerine, früher ING Direct: Save your
money! Im wahrsten Sinne des Wortes. Am See gleiten Boote in die
unmittelbare Zukunft der bestmöglichen Postmoderne.
Wie sie gestaltet wird? Ich kann’s nicht sagen.
Im Herzen der Stadt scheint
die Sonne, scheinen Wolkenkratzer. Wenn es regnet, bummeln die Leute im
Einkaufszentrum. Wenn es wogt, schlafen die Boote im Hafen. Wenn es dunkelt,
genießen die Gaumenfreunde am Ontario-See das Abendessen auf einem großen
Schiff. Captain John’s ist sein Name (Genitiv, da es Johns Schiff ist).
Nicht weit entfernt reißt Westin Harbour den Blick der Touristen an sich.
Auch im Royal York ziehen viele Gäste ein. Wir haben nicht die Berge in
British Columbia, aber sehr wohl die städtische Kultur, die städtische
Multikultur, die städtische Subkultur einer überwältigenden Matrix der
Völker. Ontario ist Kanadas Number One. Irgendwo in der divergierenden
Mentalität-Gestaltung fängt die Produktivität, fängt die Freiheit an.
Irgendwo hört sie auf.
Ein Hut fliegt durch die Luft. Ein Abendmahl wird
verschlungen. Ein Krieg gewonnen. Ein Frieden verloren. Der Stau auf der
Autobahn wirft globale Fragen auf. Wälder, Wasser, Energie. Bodenschätze
liegen verstreut. Es wirbelt in der Luft. Bier ist teuer. Deutschland
jenseits des Ozeans. Toronto großartig. We drink for the Great. Wie weit
entfernt ist die Welt? Wie weit entfernt sind die anderen? Wie weit entfernt
wir selbst?
Bathurst Street, South of Sheppard. North York, Toronto.
Mann in Sicht: ein älterer Herr. Geht wahrscheinlich ins Community Centre,
wo ein paar Tische auf Gesellschaft warten. Ein paar Stühle dazu. Ein paar
Hüte. Ein paar Erinnerungen. Ein Fernseher.
How are you doing? sage ich. Der Mann antwortet entweder
in einem sehr gebrochenen Englisch oder aber in einer anderen Sprache,
jedenfalls vermag ich nichts zu verstehen.
Alles klar! Gehn ma!
Bathurst Street, nach Lord
Bathurst benannt, der sich vor 200 Jahren als Secretary for War and
Colonies hervorgetan hat, führt über muntere Hügelchen diskret hinunter
zum Ontario-See. Krieg und Kolonien: Das will was heißen. An der
Bloor kann man links umbiegen und sich die Beine im Herzen der Stadt
zertreten. Jede Straße in Toronto war früher einmal ein Lord oder wenigstens
ein unternehmungslustiger nobler Mann. Mr. Simcoe hat einst die Stadt
gegründet. Bloor besaß eine Brauerei (Oans, zwoa, b’suffa!), weswegen diese
Straße naturgemäß ganz besonders lang ist. Jarvis hat bestimmt auch viel
geleistet, jedenfalls bieten die Farmer heutzutage dort ihre Ware an (Unser
Fleisch stammt von heimischen Kühen!). Zusammen mit zahlreichen adligen
Kollegen in Sachen Städtische Namengebung stolzieren diese Herren heutzutage
auf dem Stadtplan herum.
Es gab Zeiten, da die Königin sagen konnte: "Mein Royal
York ist der absolute Gipfel!"
Und es gab Zeiten, da ich, wiewohl selber jedenfalls im
traditionellen Sinne des Wortes streng genommen gar
kein König per se, sagen konnte: "Die Royal York Street führt zum Kanada
Kurier (Royal York Plaza, 1500 Royal York St., Toronto). Und was im Kanada
Kurier klassisches Latein ist, entscheide ich!"
Auf gut Deutsch: Als ich noch als Editorial King (naja,
eigentlich Vizekönig) über die Geschicke der Ontario-Ausgabe und
gelegentlich über die der nationalen Ausgabe der Zeitung waltete, wurde da
jeder Artikel, jedes Interview, jede Übersetzung der Finanzberichte, die ich
zu verantworten hatte und – last but not least – jede meiner bei der
g’schätzten Leserschaft ungemein beliebten Kolumnen zum Thema Tagesgeschäft
"Rund um den CN-Turm" tatsächlich eigenständig nach dem Kantischen
Reinheitsgebot konzipiert und verfasst: "Du sollst nichts [was der
Bekanntmachung wahrhafter Begebungen dienlich sein könnte] verhehlen (und,
wenn’s recht ist, auch nicht stehlen), du sollst [die Meinungsfreiheit bzw.
den gesunden Menschenverstand] nicht töten, du sollst nicht begehren deines
Nächsten News [also die Fake News des nächstbesten obrigkeitshörigen
Fake-News-Multiplikators] noch die gleichschaltende Propaganda weit und
breit". To be taken with a grain of salt: cum grano salis.
Es stand noch nicht
endgültig fest, ob die Zukunft, links, zwo, drei, vier, null, eins, null
eins, unabdingbar auf uns zu rückt oder ob wir ihr vielmehr –
fast and furious – aus freien Stücken entgegen sausen. Dabei ging es
wie seit eh und je um die eine Frage: Spieglein, Spieglein an der Wand, wem
gebührt die Deutungshoheit im Land?
Das Copy-and-Paste-Zeitalter hatte die Newspaper World
noch nicht voll und ganz im Griff. Es war – noch – nicht verboten, während
der Arbeit zu denken bzw. sich seines Verstandes auch mal ohne die Leitung
eines jeweiligen Ober-Drahtziehers zu bedienen – denn damals hieß "Sapere
aude!" noch "Habe den Mut, zu denken" bzw. ein
waschechter "sapiens sapiens" zu sein, und nicht "Super! Ein Audi!"
Freilich empfand sich einer schon damals bereits oft
genug als Don Quijote, soweit ihm wirklich daran lag, die Prinzipien des
Journalismus, Kundschaft hin und her (denn Werbung wird immer groß
geschrieben, was, Hand aufs Herz – ohne Gut und Geld keine Ehr und
Herrlichkeit der Welt – auch seine Richtigkeit hat), aufrechtzuerhalten.
Jetzt spielen die
Südamerikaner ihre hinreißende Andenmusik am Fuße der Wolkenkratzer. Die
Polen verkaufen Würstchen an der Roncesvalles, die Chinesen chinesisches
Zeug an der Spadina. Boote segelten her. Aus den Inseln kam das
Selbstverständnis des Einzelnen als Mit-Bezugsystem der Welt: der ersten,
der zweiten, der dritten Welt. Die Inder haben auch den Weg zum neuen Babel
gefunden. Arabische Taxi-Karavanen ziehen durch die wüste Metropole. An den
Straßenecken das übliche Getue.
Es geht wie auf einem Marktplatz für Gemüter-Fracht zu.
Die sprachbegabten Aktanten der kollektiven Durcheinander-Theorien leiten
den körperlichen und geistigen Verkehr mit ihrem reichhaltigen Wortschatz
und ihren paar wohlinstrumentalisierten Instinkten. Der Mensch ist ein
Konsument, der Mitmensch ein Mit-Konsument. Wer aber nicht mitkonsumiert,
ist kein Mit-Konsument. Was braucht der Mensch?
Westende und Ostende seien im Toronto genannten
Ballungsraum spät abends zu meiden, rät der vernünftige Menschenverstand.
Die Wirtschaftlichkeit neuerer Gemeinschaftsdefinitionen wird anhand
pragmatischer Vorurteile ergründet. Those people. Downstairs people. You
guys. Customer. Sir. Gängige Titel, von denen letztere anständig dünken.
Potentiell ist jeder jedem Kunde. Millionen üben das Kundensein. Als Kunde
besitzt einer mehr ontische Würde.
Einkaufen im koreanischen
Viertel: Sauber gedruckte Aufkleber. Alles auf Koreanisch. Rundherum
Koreaner. Eine Dame lächelt uns zu: Onion Rings. Höchst empfehlenswert.
Ganz berühmt bei uns in Asien. Ich bin keine Koreanerin, ich komme aus
Japan. Immer nur zugreifen. Die schmecken. Wir greifen zu. In der Tat:
Sie schmecken.
Die Griechen halten es wie auf ihren Inseln. Der Strand
liegt nah, all die Kir, deren Namen in -opoulos enden, haben ihr Viertel
strategisch müßig angesiedelt. Es ist zwar nicht so heiß in Toronto, doch
der Hochsommer kann recht lauwarm-feucht-erhitzend müde stimmen. Nachmittags
ruht man sich aus. Die Männer hocken in großzügig zahlreichen Kneipen,
wahrend ihre Frauen irgendwas tun. Tzatziki mit
Souvlaki. Loukoumades. Bier.
Der späte Nachmittag neigt sich dem frühen Abend zu. Die
Amerikaner haben ihre Würfel geworfen. Menschen werden getötet, um zu
verhindern, dass Menschen getötet werden. Die
unheimliche Situation südlich der Grenze wird in langatmigen Sätzen
analysiert. Gott sei Dank sind wir nicht in den Staaten. Leider sind wir
nicht in den Staaten. Tzatziki mit Souvlaki. Loukoumades. Bier. Es dunkelt.
Ein Sprung hinunter zum See: An der Queen Street spazieren Leute östlich bis
Woodbine, um dann am Ufer des Ontario-Sees wieder nach Westen
zurückzulaufen: immer dem Turm nach. Lion on the Beach ist ein
berühmter Versammlungsort der Künstlerwelt. Auch ein paar Motorräder sind da
stets geparkt. Manchmal sind es sogar ein paar mehr. Die Biker sausen
gerne mit Maximallärm durch die ansonsten ruhige Straße, die man hier im
Osten der Metropole angesichts ihrer eher geringen Breite und der
ausgesprochenen Gemächlichkeit rundherum auch Gasse nennen könnte. Künstler
schauen sich die Welt an. Nicht-Künstler auch. Drogenhändler sind nirgends
zu erblicken. Recht gemütlich eigentlich.
Die
Kanus auf dem See muten irgendwie indianisch an. Sie
sind nicht indianisch, der rote Bruder ist weg. Jetzt sind andere Brüder da.
Jeder begegnet jedem freundlich, soweit die Jagdgründe reichen. (Bevor die
Stadt gegründet wurde, hat die schlaue Regierung im Jahre 1805 den ganzen
Boden weit und breit für lumpige zehn Schillinge von den Indianern
"gekauft"; das war damals der Tagelohn eines
einfachen Söldners).
Es gibt in Toronto mehr als hundert Begriffe für Essen.
Die an sich deutlicher als zugestanden verankerten Grenzen zwischen Sprach-
und Esskulturen werden manchmal mit großzügiger Unbekümmertheit
überschritten, wenn sich die Nachbarschaften treffen: kein zwingend
paradiesischer Zustand, wohl aber ein entspannend erbaulicher.
Es kommt wie andernorts auch in Toronto vor, dass
sich der Mensch mitunter wenigstens auf stückweise emotioneller Ebene
kurzfristig zum Mitmenschen entwickelt. (Oder vielleicht wäre
Kollateral-Mensch ein besseres Wort.) Dann entsteht so etwas wie ein Gefühl,
dass man dazugehört, wo man nicht zugehört. Pfoten
Weg von meinen Kreisen! Hätte der Satz unter Umständen irgendwann in der
Zeitmuschel des kanadischen Griechentums an der Danforth ertönen können?
Wahrscheinlich nicht. Mascalzone! Io sono Italiano!
Das schon eher. Ja, das klingt vertraut. Das klingt
zeitgenössisch. Aber freilich ist das italienische Viertel anderswo. Da müsste
man mit der Straßenbahn die St. Clair runter fahren. Und wir sind jetzt nun
einmal in der Nähe des griechischen Viertels.
Griechische Zitate liegen bestimmt irgendwo herum.
Auf individuelle Gesundheit
ist jeder bedacht. Achtung Achtung! Smog Alert! (Schon wieder.) Die
Umwelt(Mit)VerschmutzerInnen geben Gas und fluchen über die schlechte Luft.
Der Sand ist weich. Barfuß. Vorsichtig. Geistesgegenwärtig muss
einer sein. Gerne folgt der Blick am Horizont dem milden Sonnenuntergang.
Die Stadt kann man hier aus der Ferne sehen. Ihre Menschen kann man hier aus
der Nähe sehen. Sie laufen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit.
Einen Handschlag. Ein freundliches Gesicht. Einen offenen
Blick würde jeder gern erleben. Wir sind zivilisiert, verbergen unsere
Gefühle. Wir sprechen verschiedene Sprachen, verwenden stets die eine. Wir
lieben uns nicht. Wir hassen uns nicht. Wir fahren auseinander.
Wir gehen ineinander. Immer wieder. Um die Neudefinition eines
erschließbaren Reiches zu ergründen, das wir uns aneignen: das uns aneignet.
Oft sprach früher unsereiner mit gespaltener Zunge. Damit sei Schluss. Wir
glauben sehr stark daran. Wir haben keine Angst mehr vor dem Weinen. Es gibt
uns. Es gibt uns aus Fleisch und Geist, aus Stahl und Glas, aus Geld, Beton,
Microchips und Stammzellen. Wir sind da. Wirklich da.
Unsere Himmel sind hoch, die Bauten tragbar, der Wettbewerb zwingend, das
Wachstum beständig. Vor uns liegt die spontane Zusammenfassung einer
gewagten Deutung der weltoffenen Gesinnung, die den Begriff Großstadt ziert.
Darüber hinaus gibt es wenig zu sagen. Ein letzter Satz? Toronto. |