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Die blamierte Mutter
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"Das Kind nimmt auf einem Hockerchen Platz und beginnt einfach nicht mit dem
Spielen. Unruhe kommt auf. Die Mutter hetzt sie an: "Spiel doch! Spiel endlich! Worauf
wartest du? Jetzt hast du die einzige Chance deines Lebens, spiel doch, eine solche
Chance wirst du nie wieder bekommen!" Das Kind spielt aber nicht. Es sitzt
vor dieser komischen Orgel und entwickelt keinen Ton."
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on Peter Hodina
(01. 04. 2007)

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Peter Hodina
peterhodina@hotmail.com

geboren 1963 in Salzburg. Studium der Theologie, Philosophie, Politikwissenschaft und Publizistik in Salzburg. Lebt und arbeitet als freier Autor in Gallneukirchen (Österreich) und Berlin.

Preise

Harder Literaturpreis
(2000). Förderpreis der Rauriser Literaturtage (2004).

Veröffentlichungen

Die Meuterei der Lemminge, Essay (Hecht-Druck, 2001).

Aurora-Homepage
Peter Hodina


 


 

 

 

 


 

Nacht auf den 13.1.2007
(zuvor noch Lektüre der letzten Schriften
Kierkegaards aus "Der Augenblick")

   Irgendwann in den frühen 70er Jahren. Gerade die Zeit der Mondlandungen. Eine Kunstaktion findet auf einem großen Platz statt. Mit kleinen Raketen wird Scheiße, werden Ladungen mit Scheiße – teilweise aus Kanonen – ins All geschossen. Auch sieht man bunte Drachenschwänze in der Luft segeln, wie im Herbst. Die Medien sind da: Rundfunk, Fernsehen. Die sich als avantgardistische Provokateure fühlenden Künstler werden interviewt, während hinter ihnen gleich wieder Scheiße-Raketen loszischen.

Am Rande des Platzes steht eine Frau mit ihrer Tochter, die diese immer wieder dazu drängen möchte, nach vorne zu gehen. Sie haben ein Musikinstrument dabei. Die Frau will ihre Tochter, die sich dagegen wehrt, nach vorne schubsen. "Geh doch, frag, ob du spielen kannst!" Die Kleine dürfte nicht älter als acht Jahre sein, es ist ihr peinlich, sich den Erwachsenen aufdrängen zu sollen. "Geh doch vor, schnell, frag den gut gekleideten Herrn da drüben, ob er dich spielen lässt!" Die Alte lässt nicht locker. Die Kleine tut mir leid; ich sehe wenig Chancen dafür, dass sie sie spielen werden lassen, unangemeldet, spontan, bei einem solch durchgeplanten Medien-Event. "Wozu hab ich so viel Geld für dich ausgegeben, dass du das Instrument erlernst?" Diese rasend ehrgeizige und ebenso beschränkte Mutter stößt das Kind durch einen sich zufällig auftuenden Korridor in der andrängenden Menschentraube. Das Kind hat nun zusätzlich das beklemmende Gefühl, sich vorzudrängen – der befehlende Schubs der Mutter wird schon nach wenigen Metern in diesem vor sensationslüsternen Leuten wimmelnden Fremdgebiet als Legitimation nicht mehr reichen.

   Schließlich darf, was mich überrascht, die Kleine doch für ein paar Minuten spielen. Die Mutter rollt eine recht primitiv aussehende Orgel zur Bühne hin, mit riesigen Pedalen und ebenso riesigen Tasten, es sind vielleicht nur vier oder fünf Tasten wie bei jenem für einen Hund angefertigten Klavier, das die Tochter von Thomas Mann, die Meeresbiologin, aus einem gewissen Spleen, der der ganzen Mann-Familie eigentümlich war, bauen hatte lassen.

Das Kind nimmt auf einem Hockerchen Platz und beginnt einfach nicht mit dem Spielen. Unruhe kommt auf. Die Mutter hetzt sie an: "Spiel doch! Spiel endlich! Worauf wartest du? Jetzt hast du die einzige Chance deines Lebens, spiel doch, eine solche Chance wirst du nie wieder bekommen!" Das Kind spielt aber nicht. Es sitzt vor dieser komischen Orgel und entwickelt keinen Ton. Die Mutter schnaubt und stampft schon mit den Füßen auf. Inzwischen sieht das Publikum auch dieses Schauspiel der erzürnten Mutter, deren Kopf immer mehr sich rötet. Das Kind verharrt weiter in einem nun schon glanzvollen, charakterstarken Schweigen. Es streikt ganz offenbar. Anstatt wie anfänglich zu murren, schweigt nun auch das Publikum. Auch Raketen zischen keine mehr ab. Da und dort schaukelt noch ein bunter Drachen in der Luft.

   Das Kind bestreikt seine ehrgeizige und beschränkte Mutter, die schon ausgelacht wird, was sie aber nicht bemerkt. "Du wirst ausgelacht, weil du so feige bist und nicht spielst", sagt sie zum Kind. Das Kind indessen nutzt seine einzige Chance und blamiert seine Mutter bis auf die Knochen. Die ehrgeizige Mutter, diese Kleinbürgerin, ist zu einer einzigen Lachnummer geworden. Sie kapiert nicht. Sie kapiert ganz einfach nicht. Wie sie auch schon gleich anfangs nicht kapiert hatte, dass hier nicht der geeignete Ort ist, um ihr Kind vorspielen zu lassen. Sie fühlt sich vollkommen im Recht, weil sie einen Teil ihres Ersparten – wahrscheinlich nicht wenig – dafür ausgegeben hatte, das Kind dieses klobige und lächerliche Instrument, dessen Tasten wie aus Stoff genäht und mit Holzwolle oder Sägespänen ausgestopft scheinen, erlernen zu lassen. Das Kind hat seine einzige Chance genutzt, diese Mutter bis in die Knochen zu blamieren.

Im Muttergesicht weicht die Zornesröte der Schamröte, allmählich. Langsam erkennt sie, dass sie die Ausgelachte, die bis in den Grund ihrer Motivationen hinein Lächerliche ist. Die Tochter hat den Befehl der Mutter ausgeführt, diese einzige Chance zu nutzen. Stumm und aufrecht sitzt sie vor diesem monströsen Stofftier, das eine Orgel oder ein Klavier darstellen soll, und streikt. Sie sitzt da, als hätte sie soeben ein Bachkonzert gegeben. Sie wirkt nun tatsächlich wie eine große Kindervirtuosin, ein Wunderkind. Statt Bach oder Beethoven war aber nur ein stummes Stück gegeben worden, das den befremdlichen Titel "Die blamierte Mutter" hätte tragen können.

   Zuvor anderer Teil des Traums: Meine Mutter hatte eine beträchtliche Sammlung von Briefen und Tagebüchern von früher, auch mit vielen Fotos, die ich noch gar nicht kannte. Bilder von Postel dabei, vorne ein großes (verbitterte Visage, brutale Kinnlade), dahinter ein kleines (jüngerer Mann mit schwarzem Fleck seitlich der Stirn, melanomhaft). Zwei verschiedene Menschen; ich denke zunächst, der Mann auf dem großen Foto sei Postel, aber nein, es ist der auf dem zweiten Bild: ein unreifer, in sich zerrissener Mensch, der ein wenig wie ein zerfahrener, noch pubertärer russischer Konzertpianist aussieht, mit Pockennarben, ein unausgeglichenes moribundes Talent. Es war doch der andere, denke ich, nein, es kann nicht sein, dass der junge Russe Postel, der Kindesmisshandler als Klavierlehrer, mein einstiger Misshandler, ist ...

Zu Beginn dieser Traumreihen eine Frau (vielleicht die Mutter, vielleicht die Großmutter mütterlicherseits, jedoch als junge Frau mit kastanienfarbenem langen Haar), auf meine Eingangs-, meine Einschlaf-Frage, warum Hermann sich umgebracht habe – plötzlich, am Tisch mit mir sitzend, weinend, wie es schien grundlos weinend ... ("Weil eben das Leben vergänglich ist, aber das begreifst du noch nicht, Kind ...")

   Dann ich radfahrend, Richtung Pinzgau, ich über eine recht weite Strecke auf verkehrsreicher Straße radfahrend, berauscht und geschwächt von diesem für mich ungewöhnlichen Radfahren mitten unter Autos und LKWs. Komme dann in der Stadt an, die aussieht wie ein verkleinertes Salzburg, mit Festung, mit einer am Fluss liegenden herausgeputzten Zeile von Bürgerhäusern. Großer Trubel herrscht dort; ich muss zur Jugendherberge, muss jemanden von den Leuten fragen, die alle in Hotels untergebracht zu sein scheinen, ich, der verschwitzte Mann in der Mitte meiner Vierziger, muss diese relaxten, viel jüngeren Leute fragen, wo es zur Jugendherberge geht. "Zu was bitte?" – "Zur Jugendherberge." – "Jugendherberge? Judenherberge? Noch nie gehört. Was für ein komisches Wort! Wo will der Alte hin?"

Ich möchte so schnell wie möglich weg von diesen Urlaubern. Nirgendwo hängt ein Plan. (Ich denke, es sollte gleich nach jeder Ortseinfahrt ein Plan angebracht werden, dass man sich dieses lästige Herumfragen ersparen kann, dass man unter Umständen auch vermeiden kann, ins Ortszentrum fahren zu müssen, in der Hoffnung, dass dort ein Plan hängt, wo gleich die aufdringlichen und neugierigen Leute kommen, die einen verdächtigen, um einen auszufragen, was man wolle, wohin man wolle, wo man vielleicht noch gar nicht weiß, ob man hier denn überhaupt etwas wolle. Es wäre also nett und zweckmäßig, gleich nach jeder Ortstafel einen ausführlichen Plan aufgestellt zu finden, ohne dass man sich durchfragen müsste.)

   Ich soll mich in diesem Ort an einem Literaturwettbewerb, an einem Wettlesen beteiligen, aber ich muss zuerst zu dieser Jugendherberge finden. Ich vermute plötzlich, dass sie in der Burg sein könnte. Was rechtfertigt diese Annahme? Ich fahre jedenfalls in Richtung Burg los. Im Fluss tummeln sich hunderte Badende, wie im Ganges. Ich gehe auch kurz, um mich zu erfrischen, in den Fluss, der aber stinkt und ganz salzig schmeckt. Das Salzwasser schwappt zu meinem Mund herein, über mir die Zeile stolzer, unnahbarer Bürgerhäuser, die in einer einzigen Fluchtlinie stehen, sich zu mauern scheinen gegen jede Näherung. – Man hatte mir übrigens Zettel zugeschickt, in altmodischem Druck, Bleisatz, mit dem Text, den ich eingereicht hatte und den ich in diesem Wettlesen hätte vortragen sollen. Fühle mich erbärmlich, möchte mich verkriechen, abrauschen in den Wald, nur fort von diesen relaxten, durcheinandertanzenden jungen athletischen Körpern. Ich höre, dass Radiogeräte und CD-Player inzwischen spottbillig geworden sind, das Essen aber am teuersten geworden ist. Sogar Autos bekommt man um ein Trinkgeld, aber ein Glas reines Wasser ist schier unbezahlbar.

Dann mit Hermann auf einer Erntemaschine sitzend. Diese Erntemaschinen sind mit Düsen ausgestattet und landen auf den Äckern wie Kampfflugzeuge. (Überhaupt erst mein zweiter Traum seit Hermanns Tod; ich bat vor dem Einschlafen sogar ganz intensiv um einen Traum, der sich auf Hermann bezieht.) Die Maschine besorgt die Ernte vollautomatisch. Quadratmeterweise arbeitet sie sich ganz rasch voran. Es hört sich bei jedem einzelnen Arbeitsschritt an wie das Durchladen eines Gewehrs. Die Präzision, mit der abgeerntet und zugleich die Spreu vom Weizen getrennt und abgepackt wird, besticht durch ihre Ästhetik. Ich sage zu Hermann, dass diese maschinelle Ernte etwas ästhetisch Beeindruckendes habe. Unter Weizen und Spreu befinden sich aber auch abgeschnittene Menschenköpfe, die noch sprechen können. Einen heben wir zu uns herauf, sein Hirn ist unten schon herausgequollen, hängt zur Hälfte heraus. "Versuche, das Hirn wieder zurückzudrücken", sagt der Schädel zu mir. Der gleiche salzig-säuerliche Geschmack wie vorher im Fluss, als ich zufällig über meine Finger lecke. Neben Hermann und mir landen und starten unaufhörlich diese Agrar-Jets. "Wie kann sich der Bauer demgegenüber noch behaupten?", müssen wir uns gemeinsam in den Lärm hinein fragen.

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