Nacht auf den 13.1.2007
(zuvor noch Lektüre der letzten Schriften
Kierkegaards aus "Der Augenblick")
Irgendwann
in den frühen 70er Jahren. Gerade die Zeit der Mondlandungen. Eine
Kunstaktion findet auf einem großen Platz statt. Mit kleinen Raketen wird
Scheiße, werden Ladungen mit Scheiße – teilweise aus Kanonen – ins All
geschossen. Auch sieht man bunte Drachenschwänze in der Luft segeln, wie im
Herbst. Die Medien sind da: Rundfunk, Fernsehen. Die sich als
avantgardistische Provokateure fühlenden Künstler werden interviewt, während
hinter ihnen gleich wieder Scheiße-Raketen loszischen.
Am Rande des Platzes steht
eine Frau mit ihrer Tochter, die diese immer wieder dazu drängen möchte,
nach vorne zu gehen. Sie haben ein Musikinstrument dabei. Die Frau will ihre
Tochter, die sich dagegen wehrt, nach vorne schubsen. "Geh
doch, frag, ob du spielen kannst!" Die Kleine dürfte nicht älter als acht
Jahre sein, es ist ihr peinlich, sich den Erwachsenen aufdrängen zu sollen.
"Geh doch vor, schnell, frag den gut gekleideten
Herrn da drüben, ob er dich spielen lässt!" Die Alte lässt nicht locker. Die
Kleine tut mir leid; ich sehe wenig Chancen dafür, dass sie sie spielen
werden lassen, unangemeldet, spontan, bei einem solch durchgeplanten
Medien-Event. "Wozu hab ich so viel Geld für dich
ausgegeben, dass du das Instrument erlernst?" Diese rasend ehrgeizige und
ebenso beschränkte Mutter stößt das Kind durch einen sich zufällig
auftuenden Korridor in der andrängenden Menschentraube. Das Kind hat nun
zusätzlich das beklemmende Gefühl, sich vorzudrängen – der befehlende Schubs
der Mutter wird schon nach wenigen Metern in diesem vor sensationslüsternen
Leuten wimmelnden Fremdgebiet als Legitimation nicht mehr reichen.
Schließlich
darf, was mich überrascht, die Kleine doch für ein paar Minuten spielen. Die
Mutter rollt eine recht primitiv aussehende Orgel zur Bühne hin, mit
riesigen Pedalen und ebenso riesigen Tasten, es sind vielleicht nur vier
oder fünf Tasten wie bei jenem für einen Hund angefertigten Klavier, das die
Tochter von Thomas Mann, die Meeresbiologin, aus einem gewissen Spleen, der
der ganzen Mann-Familie eigentümlich war, bauen hatte lassen.
Das Kind nimmt auf einem
Hockerchen Platz und beginnt einfach nicht mit dem Spielen. Unruhe kommt
auf. Die Mutter hetzt sie an: "Spiel doch! Spiel
endlich! Worauf wartest du? Jetzt hast du die einzige Chance deines Lebens,
spiel doch, eine solche Chance wirst du nie wieder bekommen!" Das Kind
spielt aber nicht. Es sitzt vor dieser komischen Orgel und entwickelt keinen
Ton. Die Mutter schnaubt und stampft schon mit den Füßen auf. Inzwischen
sieht das Publikum auch dieses Schauspiel der erzürnten Mutter, deren Kopf
immer mehr sich rötet. Das Kind verharrt weiter in einem nun schon
glanzvollen, charakterstarken Schweigen. Es streikt ganz offenbar. Anstatt
wie anfänglich zu murren, schweigt nun auch das Publikum. Auch Raketen
zischen keine mehr ab. Da und dort schaukelt noch ein bunter Drachen in der
Luft.
Das Kind
bestreikt seine ehrgeizige und beschränkte Mutter, die schon ausgelacht
wird, was sie aber nicht bemerkt. "Du wirst
ausgelacht, weil du so feige bist und nicht spielst", sagt sie zum Kind. Das
Kind indessen nutzt seine einzige Chance und blamiert seine Mutter bis auf
die Knochen. Die ehrgeizige Mutter, diese Kleinbürgerin, ist zu einer
einzigen Lachnummer geworden. Sie kapiert nicht. Sie kapiert ganz einfach
nicht. Wie sie auch schon gleich anfangs nicht kapiert hatte, dass hier
nicht der geeignete Ort ist, um ihr Kind vorspielen zu lassen. Sie fühlt
sich vollkommen im Recht, weil sie einen Teil ihres Ersparten –
wahrscheinlich nicht wenig – dafür ausgegeben hatte, das Kind dieses klobige
und lächerliche Instrument, dessen Tasten wie aus Stoff genäht und mit
Holzwolle oder Sägespänen ausgestopft scheinen, erlernen zu lassen. Das Kind
hat seine einzige Chance genutzt, diese Mutter bis in die Knochen zu
blamieren.
Im Muttergesicht weicht
die Zornesröte der Schamröte, allmählich. Langsam erkennt sie, dass sie die
Ausgelachte, die bis in den Grund ihrer Motivationen hinein Lächerliche ist.
Die Tochter hat den Befehl der Mutter ausgeführt, diese einzige Chance zu
nutzen. Stumm und aufrecht sitzt sie vor diesem monströsen Stofftier, das
eine Orgel oder ein Klavier darstellen soll, und streikt. Sie sitzt da, als
hätte sie soeben ein Bachkonzert gegeben. Sie wirkt nun tatsächlich wie eine
große Kindervirtuosin, ein Wunderkind. Statt Bach oder Beethoven war aber
nur ein stummes Stück gegeben worden, das den befremdlichen Titel
"Die blamierte Mutter" hätte tragen können.
Zuvor
anderer Teil des Traums: Meine Mutter hatte eine
beträchtliche Sammlung von Briefen und Tagebüchern von früher, auch mit
vielen Fotos, die ich noch gar nicht kannte. Bilder von Postel dabei, vorne
ein großes (verbitterte Visage, brutale Kinnlade), dahinter ein kleines
(jüngerer Mann mit schwarzem Fleck seitlich der Stirn, melanomhaft). Zwei
verschiedene Menschen; ich denke zunächst, der Mann auf dem großen Foto sei
Postel, aber nein, es ist der auf dem zweiten Bild: ein unreifer, in sich
zerrissener Mensch, der ein wenig wie ein zerfahrener, noch pubertärer
russischer Konzertpianist aussieht, mit Pockennarben, ein unausgeglichenes
moribundes Talent. Es war doch der andere, denke ich, nein, es kann nicht
sein, dass der junge Russe Postel, der Kindesmisshandler als Klavierlehrer,
mein einstiger Misshandler, ist ...
Zu Beginn dieser
Traumreihen eine Frau (vielleicht die Mutter, vielleicht die Großmutter
mütterlicherseits, jedoch als junge Frau mit kastanienfarbenem langen Haar),
auf meine Eingangs-, meine Einschlaf-Frage, warum Hermann sich umgebracht
habe – plötzlich, am Tisch mit mir sitzend, weinend, wie es schien grundlos
weinend ... ("Weil eben das
Leben vergänglich ist, aber das begreifst du noch nicht, Kind
...")
Dann ich
radfahrend, Richtung Pinzgau, ich über eine recht weite Strecke auf
verkehrsreicher Straße radfahrend, berauscht und geschwächt von diesem für
mich ungewöhnlichen Radfahren mitten unter Autos und LKWs. Komme dann in der
Stadt an, die aussieht wie ein verkleinertes Salzburg, mit Festung, mit
einer am Fluss liegenden herausgeputzten Zeile von Bürgerhäusern. Großer
Trubel herrscht dort; ich muss zur Jugendherberge, muss jemanden von den
Leuten fragen, die alle in Hotels untergebracht zu sein scheinen, ich, der
verschwitzte Mann in der Mitte meiner Vierziger, muss diese relaxten, viel
jüngeren Leute fragen, wo es zur Jugendherberge geht. "Zu
was bitte?" – "Zur Jugendherberge." –
"Jugendherberge? Judenherberge? Noch nie gehört. Was für ein
komisches Wort! Wo will der Alte hin?"
Ich möchte so schnell wie
möglich weg von diesen Urlaubern. Nirgendwo hängt ein Plan. (Ich denke, es
sollte gleich nach jeder Ortseinfahrt ein Plan angebracht werden, dass man
sich dieses lästige Herumfragen ersparen kann, dass man unter Umständen auch
vermeiden kann, ins Ortszentrum fahren zu müssen, in der Hoffnung, dass dort
ein Plan hängt, wo gleich die aufdringlichen und neugierigen Leute kommen,
die einen verdächtigen, um einen auszufragen, was man wolle, wohin man
wolle, wo man vielleicht noch gar nicht weiß, ob man hier denn überhaupt
etwas wolle. Es wäre also nett und zweckmäßig, gleich nach jeder Ortstafel
einen ausführlichen Plan aufgestellt zu finden, ohne dass man sich
durchfragen müsste.)
Ich soll
mich in diesem Ort an einem Literaturwettbewerb, an einem Wettlesen
beteiligen, aber ich muss zuerst zu dieser Jugendherberge finden. Ich
vermute plötzlich, dass sie in der Burg sein könnte. Was rechtfertigt diese
Annahme? Ich fahre jedenfalls in Richtung Burg los. Im Fluss tummeln sich
hunderte Badende, wie im Ganges. Ich gehe auch kurz, um mich zu erfrischen,
in den Fluss, der aber stinkt und ganz salzig schmeckt. Das Salzwasser
schwappt zu meinem Mund herein, über mir die Zeile stolzer, unnahbarer
Bürgerhäuser, die in einer einzigen Fluchtlinie stehen, sich zu mauern
scheinen gegen jede Näherung. – Man hatte mir übrigens Zettel zugeschickt,
in altmodischem Druck, Bleisatz, mit dem Text, den ich eingereicht hatte und
den ich in diesem Wettlesen hätte vortragen sollen. Fühle mich erbärmlich,
möchte mich verkriechen, abrauschen in den Wald, nur fort von diesen
relaxten, durcheinandertanzenden jungen athletischen Körpern. Ich höre, dass
Radiogeräte und CD-Player inzwischen spottbillig geworden sind, das Essen
aber am teuersten geworden ist. Sogar Autos bekommt man um ein Trinkgeld,
aber ein Glas reines Wasser ist schier unbezahlbar.
Dann mit Hermann auf einer
Erntemaschine sitzend. Diese Erntemaschinen sind mit Düsen ausgestattet und
landen auf den Äckern wie Kampfflugzeuge. (Überhaupt erst mein zweiter Traum
seit Hermanns Tod; ich bat vor dem Einschlafen sogar ganz intensiv um einen
Traum, der sich auf Hermann bezieht.) Die Maschine besorgt die Ernte
vollautomatisch. Quadratmeterweise arbeitet sie sich ganz rasch voran. Es
hört sich bei jedem einzelnen Arbeitsschritt an wie das Durchladen eines
Gewehrs. Die Präzision, mit der abgeerntet und zugleich die Spreu vom Weizen
getrennt und abgepackt wird, besticht durch ihre Ästhetik. Ich sage zu
Hermann, dass diese maschinelle Ernte etwas ästhetisch Beeindruckendes habe.
Unter Weizen und Spreu befinden sich aber auch abgeschnittene Menschenköpfe,
die noch sprechen können. Einen heben wir zu uns herauf, sein Hirn ist unten
schon herausgequollen, hängt zur Hälfte heraus. "Versuche,
das Hirn wieder zurückzudrücken", sagt der Schädel zu mir. Der gleiche
salzig-säuerliche Geschmack wie vorher im Fluss, als ich zufällig über meine
Finger lecke. Neben Hermann und mir landen und starten unaufhörlich diese
Agrar-Jets. "Wie kann sich der Bauer demgegenüber
noch behaupten?", müssen wir uns gemeinsam in den Lärm hinein fragen. |