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Karpatensuppe for future

Ort der Handlung: deep Romania; etwa 20 km von der Bahnhaltestelle Bologa
(unweit Großwardein) entfernt. Zeitraum der Handlung: traumhafter Hochsommer im Vorfeld
der Wende Und die Handlung selbst? A bisserl lesen, a bisserl latschen, a bisserl klettern,
a bisserl quatschen
. What is there more to say?

Von Vasile V. Poenaru
(28. 02. 2022)

...



Vasile V. Poenaru
bardaspoe [at] rogers.com


geboren 1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Lebt
in
Toronto.

 

 

 

 

 

 

Robert keuchte. Sehen
konnten wir ihn immer
noch nicht. Er war, so
schien mir, ziemlich
übergeschnappt. Draußen
wütete der Sturm unge-
niert weiter.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die herzhafte Gemüse-
suppe, die uns die netten
Herrschaften auf der
Wetterstation (Gipfel:
Vlădeasa – rund 1800
Meter hoch) freundlicher-
weise servierten, mun-
dete ihm offensichtlich.
Mir auch.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich war mir ziemlich
sicher, dass Robert über-
trieb, denn alles, was mal
weg ist, ist ja streng genom-
men nicht ganz, ganz weg,
sondern bloß … anderswo.
Es muss einer nur
danach suchen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich glaube, es waren nur
zwei Brote trocken ge-
blieben. Nicht genug für
zwölf Tage. O mei, o mei!
Klugerweise hatten wir
freilich auch noch was-
serdicht verpacktes Mais-
mehl mit dabei.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mein Zelt. Meine Alpen.
Meine Zukunftsprojekte.
Mein kontinuierlicher Tag-
traum. Über allen Gipfeln.
In allen Wipfeln. Ich war
keine zehn Jahre alt.
Die Karpaten hatte ich
noch nie gesehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wir Kinder mussten köst-
lich lachen, wenn die
Eltern, tja, Regen, Regen,
während der Überschwem-
mung des Camping-Platzes
in den von ihnen gleich
nach der vor ein paar
wenigen Tagen erfolgten
Ankunft selber geschau-
felten Graben strauchelten,
den sie ja nun, da alles
überschwemmt war,
nicht mehr sehen
konnten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In meinem Zelt ließ es
sich bestens schlafen – und
unter Umständen auch
Karten spielen und kochen,
soweit der Regen nicht
mehr aufhören wollte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Und so fing denn auch
eine der zentralen Wan-
derungs-G’schichten mei-
ner Jugend an: die Durch-
querung des Apuseni-Mas-
sivs. Achtzig Kilometer.
Eine Berghütte. Ein paar
wenige Wanderer. Ein
paar Schäfer. Und
viele Höhlen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Heutzutage wird mit
gutem Grund dringlich
davon abgeraten, das Seil
am Karabiner zu befest-
igen. Damals war es
gang und gäbe.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Klettern gehörte
sozusagen zur Hoamat.
Zum heimeligen Gefühl
der Geborgenheit, der Brü-
derlichkeit, des Aufbruchs:
des munteren, rotweißrot
rückblickenden Erwartungs-
horizonts eines jedweden
tirolerischen Gebirglers
im oberösterreichi-
schen Stadtkind.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der bestirnte Himmel
über uns, die frische Luft
und die selbstgekochte
Maggi-Suppe in uns. Das
Allerwichtigste war aller-
dings eins: Wir hielten
zueinander. Unus pro
omnibus, omnes pro
uno.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Ich fotografierte den
jungen Schäfer mit seinem
Hund. Das Foto wurde ein
paar Wochen später von
mir höchstpersönlich im
ureigenen Labor entwick-
elt und dem lieben Cioban
("Schäfer" auf Rumänisch)
in sein entlegenes Dorf
geschickt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nach etwa einer Stunde
entschlossen wir uns,
wieder zur Sennhütte zu-
rückzukehren. Dabei wur-
den wir auch noch von
einer Büffelherde gejagt,
was sich wohl nicht sehr
heldenhaft anhört. Doch
die Büffel sahen, soweit
ich mich besinne, ganz
und gar nicht freundlich
aus.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Am nächsten Tag erreich-
ten wir – mit zweitägiger
Verspätung – endlich das
vorläufige Ziel unserer
Reise: Pades. Vor der
Hütte standen so an die
hundert Zelte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jetzt ist die Zukunft da.
Jetzt jagen wir der Vergan-
genheit hinterher. Die West-
karpaten sind zu einem
Mikropunkt zusammenge-schrumpft, zu einem Nano-
Dingsbums, einem winzigen
Salzkörnchen in der
Hexenküche.

 

 

   Im Echo meiner inwendigen Zeitmuschel verewigt: das Bergland, die Höhlen, die Suppe. Die Schäferhunde, die Büffel, die Karabiner. Die lieben Winde im brausenden Karpatenbogen: the story, the whole story and nothing but the story.

Apuseni: die Westlichen [Berge]

Right into the action. "Der Sturm hat uns das Zelt weggerissen. Ja, ich bin allein. Bitte? Warum ich allein unterwegs bin? Was heißt denn hier unterwegs! Aber nein doch! Oisa i bin, genauer g’sogt mir san … Wir, ja wir sind … Wie meinen? Ach so! … Bin i ja goa net. I bin net alleene. Ja im Moment scho, ober halt net alleen unterwegs."

Mein Bruder Robert hatte sich aus lauter Aufregung im Flow of Language verfangen. Und den Flow of Language gibt es ganz bestimmt! Sonst hätte er sich ja nicht darin verfangen können.

Und dann wurde es gleich wieder dramatisch weniger dialektal. Easy does it. "Ich meinte, allein im Zelt. Nicht allein am Berg."

Der Donner riss ihm förmlich die Worte aus dem Mund und schleuderte sie mit voller Kraft ins ungeheure Irgendwo des herumlungernden Karpatengeistes. Es hatte kaum eine Sekunde zuvor geblitzt. Uns schauderte.

Donnerwetter nochmal!

"Insgesamt? Zu dritt. Wir sind zu dritt. Die anderen zwei gingen Wasser suchen." Robert keuchte. Sehen konnten wir ihn immer noch nicht. Er war, so schien mir, ziemlich übergeschnappt. Draußen wütete der Sturm ungeniert weiter. "Die zwei anderen sind nun aber schon verdammt lange weg. Ich glaub, sie haben sich verirrt."

   Er lag nicht ganz falsch. Wir hatten nämlich auf dem Rückweg von der Quelle (die wir auch tatsächlich, danke, danke, danke, mir hoam nur unsere grandiose Pfadfinder-Pflicht getan, selfie here, selfie there, in no time gefunden hatten) wegen des Unwetters (heftiger Wind, Sintflut-Regen und dichter Nebel) zunächst das Zelt verfehlt und waren direkt auf die Wetterstation gestoßen, in deren Nähe wir unser Wigwam vor einer halben Stunde aufgeschlagen hatten. Vom Blitz wurden wir Gott sei Dank nicht getroffen, als uns sozusagen das Erhabene im Schillerschen Sinne in the blink of an eye auf dem höchsten Gipfel des Apuseni-Massivs in all seiner Erhabenheit widerfuhr.

Aber "verirrt" ist dabei freilich viel gesagt. Die Meteorologen bestanden nämlich darauf, uns gleich was Leckeres aufzutischen – und diesem Angebot konnte einer logischerweise bei dem Wetter schlecht widerstehen.

Wir sahen Robert nun teilweise. Durch die halb offene Küchentür. Er wirkte ziemlich zermürbt. Claudiu hatte sich gerade schon wieder den Mund vollgestopft. Die herzhafte Gemüsesuppe, die uns die netten Herrschaften auf der Wetterstation (Gipfel: Vlădeasa rund 1800 Meter hoch) freundlicherweise servierten, mundete ihm offensichtlich. Mir auch. Aber ich konnte trotzdem recht schnell eine Pause einlegen, um das Mysterium der "anderen zwei" zu lösen: "Wir sind’s!"

Und fast hätte ich schon weiter gesprochen: "Ich bin’s! Bin Faust! Bin deinesgleichen!" Warum mir das Goethe-Zitat in den Sinn kam, weiß ich nicht mehr. Bestimmt hab ich’s aber damals gewusst, wenn ich mich nicht irre: jedenfalls war es ein dramatischer, ja ein theatralischer, ein prägnanter Moment. Ein Augenblick, dem einer irgendwie hätte sagen wollen, dass …. Ja, dass …

Oder eben auch nicht.

"Ach! …Da seid ihr ja!" Problem gelöst. "Aber das Zelt ist weg. Und unsere Siebensachen hat sich der Sturm auch geschnappt!"

   Mein Zelt? Weg? In die vier Winde getragen? Weit ins Weite verweht? Out of sight? Out of reach? Alles hin? O, du lieber Augustin! … Unmöglich! Ich war mir ziemlich sicher, dass Robert übertrieb, denn alles, was mal weg ist, ist ja streng genommen nicht ganz, ganz weg, sondern bloß … anderswo. Es muss einer nur danach suchen.

Stichwort Aufgehobenheit der Nacht. Cherchez la tente. Dans la nuit. Et la femme tout de suite. Aber bitte nicht die Tante! La tante, das bedeutet Zelt. Englisch: tent.

Und tatsächlich lag, wie wir dann im Laufe des Abends erfreulicherweise feststellen sollten, alles irgendwo in Umfang von dreißig Metern herum. Das Prinzip der Zuhandenheit des Zeugs bestätigte sich hiermit ein weiteres Mal über allen Gipfeln, über allen Wipfeln usw. usf.

Das Gebirgler-Gesetz ach! in der Brust. Welch kategorischer Imperativ! Welch meteorologischer Aperitif! Die G’schichte unserer Lebendigkeit – so wie sie ist und wird.

Unser Zeug war da. Sonnenklar.

In Umfang von dreißig Metern. So ähnlich hatte es schon der vor zweitausend Jahren in Dazien nach dem Rechten schauende Hohepriester Deceneu formuliert, der sich übrigens angeblich auch bestens in Sachen Höhlensysteme auskannte. "Gebt mir eine Höhle, und ich heb euch das Ding an sich aus den Angeln!"

Ich: Schatten meiner selbst. Und zugleich meines Selbst. Ja. Gebt mir ein Ich.

   Nach und nach brachten wir dann so ziemlich alles in die trockene – und gut geheizte – Wetterstation. Das Zelt war eigentlich Gott sei Dank mehr oder weniger heil und intakt, so dass wir bald wieder Mut schöpften. Am nächsten Tag schien die Sonne und wir konnten es recht gut trocknen. Besser gesagt, leidlich. Der Proviant hatte keinen Schaden genommen.

Na ja, abgesehen von den Broten … Ich glaube, es waren ihrer insgesamt zwei trocken geblieben. Nicht genug für zwölf Tage. O mei, o mei! Klugerweise hatten wir freilich auch noch wasserdicht verpacktes Maismehl mit dabei.

Im großen Ganzen sind wir also – vor allem eben auch dank des herzhaften Beistands der drei Meteorologen, die uns angesichts unserer Not auch kostenlos auf der Wetterstation übernachten ließen – glimpflich davongekommen. Und das Allerwichtigste: Am nächsten Tag waren wir wieder guter Dinge und entschlossen (nach einer kurzen Debatte) wie geplant weiter zu machen. Ein paar Zeltstangen mussten freilich zurechtgebogen (dabei aber wohlgemerkt nicht etwa versehentlich gebrochen) werden. Kein Problem für starke Männer. Stichwort Aluminium.

Auf! Hinaus ins weite Feld! Ein ozeanisches Gefühl im Apuseni-Gebirge.

   Das Zelt hatte ich mir auf einer Messe in Wels gekauft. Von meinem Taschengeld. Einfach so. Der Vater fand das anfangs zwar nicht ganz so geil (die Brüder schon), doch er genehmigte den Ankauf nach einigem Hin und Her. Und puff! … Sieh einer an! Ich war rund tausend Schilling ärmer – und ungemein stolz auf meine prächtige Anschaffung. Blau wie der Himmel. Wie die Freiheit. Wie die Donau.

Okay, nicht wie die Donau. Wie die Veilchen.

Robert und Toni waren auch stolz auf mich. Darauf, dass ich trotz meines sprichwörtlichen Geizes (Onkel-Dagobert-Mentalität oberösterreichischer Art und Weise) aus der sprudelnden Pracht des schönen Augenblicks heraus diesen abenteuerlichen wie kostspieligen Gedanken gefasst hatte und mein Vorhaben auch lobenswert zielstrebig und diplomatisch durchsetzte, indem ich das bei einem derartigen Unterfangen naturgemäß unabdingbar nötige Okay der Elternschaft einzuholen vermochte.

Mein Zelt. Meine Alpen. Meine Zukunftsprojekte. Mein kontinuierlicher Tagtraum. Über allen Gipfeln. In allen Wipfeln. Ich war keine zehn Jahre alt. Die Karpaten hatte ich noch nie gesehen.

Biwakieren for future. Urfahr-Style. What’s not to like? Gezeltet hatten wir dabei schon als Kleinkinder. An der Adria. In Dubrovnik. Von Linz aus gut erreichbar. Sozusagen gleich um die Ecke. Aber natürlich hatten sich damals die Eltern um alles gekümmert. Wir Kinder schauten uns das Ganze als zwar begeisterte, doch passive Zuschauer an – und mussten köstlich lachen, wenn die Eltern, tja, Regen, Regen, Regen, während der Überschwemmung des Camping-Platzes (uns hatten sie bereits vorsorglich im VW-Kombi verstaut) time and again in den von ihnen gleich nach der vor ein paar wenigen Tagen erfolgten Ankunft selber geschaufelten Graben strauchelten, den sie ja nun, da alles überschwemmt war, nicht mehr sehen konnten. Und sie mussten halt das Zelt wieder unter Sintflut-Umständen abbauen. It’s called parenting.

   Wer dem Hochwasser eine Falle stellt, fällt selber hinein. Wobei der Graben natürlich lediglich für normalen Regen konzipiert war, und nicht für das Unwetter des Jahrhunderts. Als wir dann Jahre später, Messer und Schaufel am Gürtel, in eigener Regie durch die "Wildnis" wanderten bzw. im Gebirge zelteten, sollten diese bewegten Bilder aus unserer frühen Kindheit noch oft genug in uns wachgerufen werden. It’s called brotherhood.

Home, sweet home. On the move. Es war ein Dreipersonen-Zelt. Man konnte freilich auch mal ruhig fünf Mann reinquetschen, ohne dass es allzu eng wurde. Die Rucksäcke verstauten wir dann unter der Zeltplane.

Zweimal sollte unsere gesamte Fünfer-Familie jeweils eine Woche lang am Meer bzw. im Gebirge darin übernachten. Ansonsten war es ein echtes "Kinderzelt"– oder sagen wir mal ein "Jugendlichen-Zelt", kam es doch dann vor allem später, in unserer Bergsteiger-Zeit, zum Einsatz.

Die restliche Ausstattung, die jeweiligen Bahnkarten und den Proviant stellten uns die Eltern jedes Mal gerne zur Verfügung. In meinem Zelt ließ es sich bestens schlafen – und unter Umständen auch Karten spielen und kochen, soweit der Regen nicht mehr aufhören wollte. Was ja mal dann und wann der Fall war. This is the way the world works.

Ja, einen kleinen Kocher schleppten wir auch mit. Und Brenngas. Just in case.

   In zeltos veritas, hatte schon Tacitus postuliert. Oder: Tents don’t lie. Das Zelt war hoch genug zum Sitzen, bot dem Wind dafür jedoch auch eine ziemlich große Angriffsfläche, was uns damals, auf dem eingangs bereits erwähnten höchsten Gipfel der Apuseni, ziemlich zu schaffen machte.

Und so fing denn auch eine der zentralen Wanderungs-G’schichten meiner Jugend an: die Durchquerung des Apuseni-Massivs. Achtzig Kilometer. Eine Berghütte. Ein paar wenige Wanderer. Ein paar Schäfer. Hundi Eins, Hundi Zwei, Hundi Drei. Gassi all over. Gutes Gebiss.

Viele Höhlen. Die sogenannten Apuseni-Höhlen. Und wir? Drei Höhlenmenschen, die Taschenlampe stets zur Hand. How about it?

Ich war siebzehn. Don Claudiu (guter Junge, redlich und zäh, leidlicher Bergsteiger), der mit mir auf dem Gymnasium die Bank drückte und sich dann zehn Jahre später noch als Pate meines Sohnes Theo einen Namen machen sollte, war wieder mal mit von der Partie. Und Robert auch. Toni durfte arbeiten. Das ist eben nunmal die Härte des Lebens. Und für uns "freie Bergsteiger"? Die grüne Seite.

Wir wanderten den ganzen Tag und schwenkten unseren Hut. Der Vater hatte uns zur Stärkung Bergsteiger-Blutwurst auf den Weg mitgegeben, die Mutter ihren Super-Karpaten-Zwieback gebacken und den restlichen Proviant zusammengezaubert. Dreizehn Stunden im Zug und dann gleich zwanzig Kilometer den Berg rauf. Direkt ins Gewitter. Ende gut, alles gut.

   So richtig korrekt geklettert sind wir dabei eigentlich eher selten. Und nur zweimal mit echter Bergsteiger-Ausrüstung. Einmal in den Alpen und einmal in den Karpaten. Aber jeweils lediglich einen kleineren Fels. Unter Anleitung. Und natürlich von einem zertifizierten Alpinisten irgendwelchen Grades gesichert.

Ob’s der Messner war? Ja vielleicht auch nicht.

Immerhin hatten wir aber stets ein etwa zehn Meter langes Gurtband und ein paar Karabiner dabei. Damit sicherten wir einander über jeweils kleinere Strecken, wenn wir mal wieder – was oft vorkam – von der markierten Route abwichen bzw. leichtere Bergsteiger-Routen in Angriff nahmen. Um zu sehen, was sich rundherum noch so alles tat und ob das Gesetz der Schwerkraft denn auch immer noch voll und ganz zur Geltung komme. Heutzutage wird mit gutem Grund dringlich davon abgeraten, das Seil am Karabiner zu befestigen. Damals war es gang und gäbe.

"Lesen statt klettern", forderte bekanntlich der Schweizer Schriftsteller Hugo Loetscher, mit dem ich mich dann Jahre später selbstredend in einem stimmungsvollen Wirtshaus in good old Toronto gemütlich über dieses und jenes – "Wie kommt einer wo an, wenn er wo ankommt?" – unterhalten durfte. Und die Schweiz ist von Tunneln durchlöchert. Und Rumänien von Höhlen. Und wer seinen Mann stehen will, trinkt Palinka.

Palinka linka linka.

Uns jedoch war damals, in deep Western Romania, beides gleichermaßen wichtig. Und das Latschen. Und das Quatschen. Denn so wird eine gute Karpatensuppe gemacht. Now am I right or am I right?

Sorry. Das war der Wichtigtuer im Autor. Der ist nämlich, Hand aufs Herz, auch immer mit dabei. Wie ein Marktschreier. Mir geht es aber, mir ging es schon damals um nichts als die Story, um ein in sich stimmiges Erlebnis mit Kopf und Fuß: um die Sagkraft der Karpaten.

   Das Gurtband hielt unser Gewicht. Freilich spürte man, wie es gedehnt wurde, wenn sich einer abseilen ließ. Und dass es durch das Reiben am Fels zu Schaden kommen könnte, war auch eine Überlegung. Aber echte Seile ließen sich außerhalb des Bergsteigervereins eben nicht auftreiben, wiewohl wir, diese Vorstellung hatte man nun eben mal im Hinterkopf, total echte Bergsteiger waren. Und der Berg war unser Freund.

Und das Klettern hatten wir uns in den Alpen angewöhnt. Es gehörte sozusagen zur Hoamat. Zum heimeligen Gefühl der Geborgenheit, der Brüderlichkeit, des Aufbruchs: des munteren, rotweißrot rückblickenden Erwartungshorizonts eines jedweden tirolerischen Gebirglers im oberösterreichischen Stadtkind, das, wie unsereiner, die famosen Bergsteiger aus dem Linzer Becken, den tirolerischen Gebirgler in sich trug und somit beides war: Bergmensch und Stadtkind. Ach ja, und Höhlenmensch. Und Höhenmensch. Die Bande meiner Kindheit. Gurt-Bande in orbe ultima. Hoamat zum Mitnehmen.

Helme hatten wir übrigens auch nicht.

Those were the days, my friend. Jedermannsrecht, was das Zeug hält – soweit man sich nicht erwischen ließ. Wir waren Experten im Feuer-Machen und Wasser-Finden – wie es die fernen Urfahren in ihrer Zeit, der Vorgeschichte, gewesen sein mochten. Den Kocher verwendeten wir normalerweise nur, wenn es regnete und wir im Zelt kochen mussten. Morgens gab’s frischen Tee, abends gutbürgerliche Suppe im grünen Wald. Ein lustiges Leben.

   Unser Aufenthalt? Stets vergänglich. Stets ein Gleichnis. Stets ein Ereignis. Nicht einmal die steifen Insel-Lords mit ihrem famosen union jack and the five o’clock stiff upper lip hatten’s in ihrer britischen Chamber of Lords fürstlicher als wir, the self-made time catchers im ewig-geilen österreichisch-rumänischen Sherwood, das uns da, um es schon wieder mit dem Dichter in mir zu sagen, irgendwie wunderlich hinan zog.

Freilich waren wir dabei immer noch verhältnismäßig verwöhnte Stadtkinder, die die Kälte nicht so gut aushielten. Wir zelteten naturgemäß nur im Sommer. Im Frühling, im Herbst und im Winter suchten wir uns zum Übernachten möglichst geheizte (bzw. heizbare) Schutzhütten oder bemannte Berghütten aus.

Die Bande der Karpaten. Aber der eiskalten Winde raues Gesicht war uns sozusagen doch a bisserl zu rau. Ergo: Cum grano salis.

Immerhin empfanden wir uns in den Bergen sozusagen stets als Reinhold Messner, Robin Hood, Wildtöter, Winnetou und Old Shatterhand in einem. Als Abenteurer, Pfadfinder und Entdecker. Der bestirnte Himmel über uns, die frische Luft und die selbstgekochte Maggi-Suppe in uns. Das Allerwichtigste war allerdings eins: Wir hielten zueinander. Unus pro omnibus, omnes pro uno.

Die Wölfe heulten im Walde. Warte nur, balde …

   Die erste Apuseni-Nacht hatten wir also (auf der Wetterstation – welch Gefühl der Geborgenheit!) gut überstanden. Am zweiten Tag ging’s bis zu einer gemütlich aussehenden Lichtung im grünen Wald – welch lustiges Wanderer-Leben! Das Zelt war, obwohl es tagsüber stundenlang in der Sonne hatte trocknen dürfen, noch immer einigermaßen nass. Ausgeschlafen wurde trotzdem. Alles paletti. Westrumänien? The place to be.

Offensichtlich hatten wir – um es schon wieder mal metaphorisch auszudrücken – mitten drin in der Transhumanz gezeltet, denn wir wurden irgendwann, die Sonne war schon längst aufgegangen, Amsel, Drossel, Fink und Star zwitscherten ungeniert im Walde, von einer fleißig einher weidenden Schafherde geweckt.

"Bäh! … Bäh! … Bäh! …" Die Schafe stolperten über die Pflocken, der Hund lächelte freundlich (er hatte sich offensichtlich die Zähne geputzt), der Schäfer wollte ein Foto und in uns machte sich schon wieder mal das ozeanische Gefühl der Berge breit. Ich fotografierte den jungen Schäfer mit seinem Hund. Das Foto wurde ein paar Wochen später von mir höchstpersönlich im ureigenen Labor entwickelt und dem lieben Cioban ("Schäfer" auf Rumänisch) in sein entlegenes Dorf geschickt. Ob er’s alsdann auch entsprechend an bedeutender Stelle im Schlafgemach aufbewahrte, ist uns nicht bekannt.

Nachdem der Karpaten-Bursch mit seiner vorzüglich ernährten Herde (Bio-Gras und frische Luft) weg war, frühstückten wir kurz – und machten uns dann bald wieder auf den Weg Richtung Pades. So heißt die gemütliche, mit einem passablen Restaurant und einer Reihe von Gästezimmern ausgestattete Berghütte, von der aus so gut wie alle "Expeditionen" zu den Höhlen der Apuseni starteten. Die Hunde, auf die wir ein paar wenige Stunden später stießen, waren allerdings nicht so freundlich wie der von mir vormittags gemeinsam mit seinem Herrchen fotografierte Herr Wuffi. Wir flüchteten uns Gott sei Dank gerade noch rechtzeitig auf einen Fels, wo wir (Stichwort: Auszeit bzw. Hunde-Zeit) ausnahmsweise mal ganz besonders ergiebig zu Mittag aßen, und zwar so lange, bis die bissigen Vierbeiner sich eine andere Beute aussuchten und wir wieder vom Fels runter konnten.

   Gegen Abend erreichten wir eine Sennhütte, die an einem kleinen Fluss lag. Die Schäfer herrschten ihre Hunde an ("Marsch zurück! Nicht beißen! Gute Menschen. Keine Diebe. Apropos, ihr seid doch keine Diebe, oder? …") und unterbreiteten uns in knappen Worten den lukrativen Vorschlag, abends gegen Frischkäse und Milch beim Eintreiben der Schafe zu helfen. Wir schlugen das Zelt am anderen Ufer des Flusses auf. Danach … na ja: Frischkäse und Milch.

Am nächsten Tag hätten wir dann eigentlich laut (revidiertem) Plan Pades erreichen sollen. Doch unterwegs regnete es schon wieder so heftig, dass wir uns nach etwa einer Stunde entschlossen, zur Sennhütte zurückzukehren. Dabei wurden wir auch noch von einer Büffelherde gejagt, was sich wohl nicht sehr heldenhaft anhört. Doch die Büffel sahen, soweit ich mich besinne, ganz und gar nicht freundlich aus. Ob es sich wohl wirklich, aber auch wirklich um Vegetarier handelte? …

Wir latschten in aller Eile über den Fluss (die Büffel blieben auf der anderen Seite) und erreichten wieder die Sennhütte – allerdings nicht ohne zuvor intensiv von den zähneknirschenden Schäferhunden angebellt zu werden, die inzwischen total vergessen zu haben schienen, dass wir doch Freunde, ja mehr noch, die lieben Arbeitskollegen vom Vortag waren.

"Fish are friends, not food." Im übertragenen Sinne: "Nicht beißen! Gute Menschen. Keine Diebe."

   Wir durften in einer kleineren Hütte (ungefähr 100 Meter von der Sennhütte entfernt) übernachten, die wir uns mit ein paar Mäusen und zwei Pilgern aus deutschen Landen teilten, die ebenfalls in der Sennhütte vor dem Unwetter Zuflucht gesucht hatten. Ein Matratzenlager oder etwa gar Betten gab’s da natürlich nicht. Dafür aber immerhin Tannengeäst. Darauf ließ es sich trefflich schlafen. Und wir richteten eine prächtige Feuerstätte ein. Und als wir merkten, dass es ins Feuer regnete, richteten wir eine andere, noch prächtigere Feuerstätte ein.

Unter dem Geäst: Mutter Erde. In urtümlicher ums karpatenmäßig lodernde Lagerfeuer unsere zunehmend trockeneren Klamotten. Die furchteinflößenden Büffel jenseits des Flusses, Wuffi I, Wuffi II und Wuffi III? In die Marschhöfe zurückgejagt. Nicht schlecht.

Am nächsten Tag erreichten wir – mit zweitägiger Verspätung – endlich das vorläufige Ziel unserer Reise: Pades. Vor der Hütte standen so an die hundert Zelte. Und mit unserem waren’s dann sozusagen geschätzte hunderteins.

Die meisten Zelte gehörten allerdings keinen "echten Wanderern", sondern faulen Autotouristen. Denn zu Pades führte eine Schotterstraße. Wanderer, die – so wie wir – über den Berg kamen, waren eher selten. Wir hatten unterwegs außer den beiden Deutschen ja auch nur noch vier Tschechen getroffen. Ahoi! …

Im Restaurant bestellten wir – in der Hoffnung auf Brot, denn unsere Brote waren wie gesagt durch das Gewitter der ersten Nacht fast alle durchnässt und somit ungenießbar geworden – je eine Portion Würstchen. Sauerkraut gab's nicht. Dafür aber Bier.

"Würstchen mit Brot? No problem! Hamma in Hülle und Fülle." Und dann keine fünf Minuten später: "Bitte schön! Würstchen mit Senf. Wie bestellt." Das Brot war alle. That’s life.

   Eine Woche lang haben wir die Höhlen der Westkarpaten sozusagen inbrünstig erforscht – im unbeständigen Schatten einer wundersam rückkoppelnden Sennhütten-Sehnsucht, die wir in uns trugen, die wir bis auf den heutigen Tag in uns tragen, einer Sehnsucht, die nie ganz erlosch und zugleich doch nie ganz wirklich war. Die Zukunft ließ sich da recht gut erhaschen. Und das Licht der Taschenlampen ging uns während all der unterirdischen Erkundungen keineswegs aus. Und tief unten in der underworld sahen wir bisweilen das Ding an sich in trauter Erhabenheit herumlungern. Und wenn wir ihm gesagt hätten: "Verweile doch! Du bist so schön! …"

Ach!

Jetzt ist die Zukunft da. Jetzt jagen wir der Vergangenheit hinterher. Die Westkarpaten sind zu einem Mikropunkt zusammengeschrumpft, zu einem Nano-Dingsbums, einem winzigen Salzkörnchen in der Hexenküche. "Du musst verstehn!"

Dann und wann lodert das Feuer auf, das die Suppe zum Kochen bringt.

What’s cooking? Dies dürfte denn auch die eigentliche Frage deep inside the story sein. Denn eine gute Karpatensuppe ist immer noch eine gute Karpatensuppe.

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