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Europäisches Denken und rumänisches Weiden

Marginalien zu einer lückenhaften Erkenntnistheorie.

Von Vasile V. Poenaru
(15. 08. 2015)

...



Vasile V. Poenaru
bardaspoe [at] rogers.com

geboren 1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Lebt
in
Toronto.

 

 

 

 

 

Bruno Latour.
Wir sind nie
modern gewesen.

Suhrkamp, 2008. 205 S.
ISBN:
351829461X

 

 

 

 

 

Es geht darum, endlich
ein für alle Mal die
"Große Trennung" der
Moderne (in etwa dadurch
gekennzeichnet, dass
Natur objektiviert und
als Gegenstand mathe-
matisierbarer empirischer
Forschung definiert wird)
zu überwinden und eine
Kontinuität wahrzuneh-
men, wahrzuhaben, zu
bewahrheiten, die ja
eigentlich schon
immer da war.

 

 

 

 

 

 

Philippe Descola.
Jenseits von
Natur und Kultur.

Suhrkamp, 2011. 638 S.
ISBN:
3518585681

 

 

 

 

 

 

Im Rumänischen wird
das Verb "weiden" selbst
in der Alltagssprache
nicht nur für Pferde, Rind-
vieh und Schafe, sondern
auch für Gedanken ver-
wendet, wodurch die
mutmaßlich ordnende
Dynamik zwischen
Subjekt und Objekt eine
aussagekräftige Umkeh-
rung erfährt. "Mă pa
ște
gândul". Wörtlich: "Der
Gedanke weidet mich".

 

 

 

 

 

 

Linktipp
www.klett-cotta.de

 

 

 

 

 

 

Doch warum das, was
ist, ist, kurz, warum das
Seiende sei, und zwar so
und nicht anders, warum
und wie vor gut vierzehn
Milliarden Jahren die
Explosion eines unendlich
kleinen Energiepunkts mit
unendlich großen Folgen
vonstatten ging bzw.
warum jeder Satz im
Buch des Seins sitzt und
was das Ganze zu bedeu-
ten hat: Ja wenn wir
das begreifen könnten!

 

 

 

 

 

 

 

Wenn Gedanken nämlich
(transitiv gebraucht, also:
jemanden) weiden
können, dann sind sie –
soweit man es mit Nietzsche
hält – tätig. Das kommt,
sie sind die Tat schlecht-
hin, sie verkörpern das
echte Sein, die wahr-
hafte Lebendigkeit.

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein Loblied auf die
Lektüre, auf die wunder-
samen Getriebe der
Semantik, auf den Text
an sich und für uns.

   "Na wie geht’s so?", wird ein Schäfer irgendwann nach der Zweiten Lautverschiebung irgendwo im nahrungshaltigen rumänischen Grasland gefragt. "Nichts wie in Gedanken vertieft dasitzen, was?" Und des Hüters epistemologisch gewiefte Antwort auf die anmaßende Grasland-Frage? "I wo! ... Bloß dasitzen."

Die Schafe grasen gedankenlos, der Schäfer beobachtet sie gedankenlos, und wir spüren: Es gibt eine Lücke im Zaun. Ähnliche Verhältnisse herrschen im nordamerikanischen Grasland, nur, hier sind es die Cowboys, die gelegentlich nur so, ohne irgend etwas Bestimmtes im Sinn zu haben, ausschnaufen dürfen, wenn sie gerade mal nicht das Lasso schwingen oder die Schlinge ziehen (denn wer das Lasso schwingt, muss danach die Schlinge ziehen, das leuchtet ein, besonders wenn's mal ausnahmsweise ein Treffer ist). Freilich: Ob sich hinter dem "bloßen" Dasitzen nicht doch noch ein paar Gedanken verstecken? Sind wir tatsächlich je völlig gedankenlos – oder besser gesagt: gedankenfrei? Und wie weit ist es vom bloßen Dasitzen zum vollen Dasein?

   Der österreichische Kanadier im einschlägigen (aber nicht einschneidigen) Selbstgespräch: Also wenn i mi hinsetz, dann woas i ans: I bin. But then comes the question: Bin i? Total ontologisch formuliert. Total epistemologisch, des is – auf gut Cartesianisch – oder eben – auf gut Deutsch – Klaro! Ohne Deutsch (oder Latein) keinen Zugang zum echten Sein. Denn wir sagen's am besten mit Heidegger höchstpersönlich. Der versteht sich nämlich auf das, was ist bzw. auf des, wos mir san.

Oder am allerbesten wär‘s vielleicht, wir stellen gleich mal die Gleise für eine kleine Parallelaktion der österreichischen Sorte. Dann ist die Donau blauer. Dann hat das Sein mehr Gestalt. Mehr Sitzfleisch. Mehr Sinn. Mehr Würde. Mehr Erhabenheit. Und natürlich zugleich mehr Zeit.

Dubito, cogito, sum, sagte einst der Kaiser. I hob's! I hob a Idee. Nur, wo kommt sie her? Well, it's coming from a crack in the air, antwortet ihm der Kanadier Leonard Cohen mit einiger Verspätung. Dieses noble Axiom eines Kanadiers und eines Österreichers (denn der Kaiser hätte ja bestimmt damit vorlieb genommen, wäre ihm die entsprechende Nachricht von der Existenz des freilich erst nach seinem Tod verlautbarten Axioms nur rechtzeitig zugestellt worden) wollen auch wir gerne vertreten. Es gibt folglich, darauf lässt sich jederzeit auf Österreichisch-Kanadisch schwören, einen Riss in der Luft. Da kommen Ansichten durch, kommen auf uns zu, bei uns an, zu uns her. Und wenn der Riss nach unten wandert, darf sich auch das gemeine Volk die Ansichten zu eigen machen, die ihm von oben nahegelegt werden.

   Es bleibe dabei. It's coming from a crack in the air. Weitere Belege erwünscht? Schauen wir uns doch mal an, was die g'scheiten Leut' dazu sagen, und zwar auf gesamteuropäischer Ebene, was heißen will: auf dem gesamteuropäischen Grasland. "Die Lücke in der Natur: die Lehre der Anthropologie", so Christoph Menkes Dezember-Kolumne (2014) in der "Zeitschrift für europäisches Denken" (Merkur, Klett-Cotta Verlag). Ob der menschliche Geist frei sei: Der Autor stellt diese neue alte Frage nicht (nur) in eigener Manier bzw. auf eigene Faust (und auch nicht nur aus freien Stücken – oder geht das jetzt zu weit?), sondern zusammen mit den französischen Anthropologen Bruno Latour ("Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie". Frankfurt: Suhrkamp 2008, Kap. 2) und Philippe Descola ("Jenseits von Natur und Kultur". Berlin: Suhrkamp 2011, Kap. 3; "Die Ökologie der Anderen". Berlin: Matthes & Seitz 2014).

Der grundlegende Gedanke hierbei im Vorlesungs-Laufschritt ausgepackter merkurischer Erörterungen lässt sich leicht in einer Schlinge festhalten. Es geht darum, endlich ein für alle Mal die "Große Trennung" der Moderne (in etwa dadurch gekennzeichnet, dass Natur objektiviert und als Gegenstand mathematisierbarer empirischer Forschung definiert wird) zu überwinden und eine Kontinuität wahrzunehmen, wahrzuhaben, zu bewahrheiten, die ja eigentlich schon immer da war. Ein erkenntnistheoretisches Kontinuum.

   Gemeint, getan. Menke bietet ein passendes Rezept zur begrifflichen Urbarmachung der Lücke, die die Natur in sich selbst gelassen hat, um den Geist zu ermöglichen: ein bisschen Adorno (er war es ja, der die Problematik der Lücke sozusagen mit einem kräftigen Ruck seiner Feder in den öffentlichen Raum philosophischer Erwägungen stellte), ein bisschen Lévi-Strauss, ein bisschen John McDowell und Victor Turner – und schon haben wir Fahrwind. Nietzsche meldet sich nicht zu Wort, er lässt die nachgeborenen Philosophen, die freien Geister des gegenwärtigen europäischen Denkens, ganz allein in Richtung Freiheit des Geistes segeln und sich an dem Stückchen Natur weiden, das als das Andere des Geistes im Geiste wirksam ist (wenn man Adorno Glauben schenkt).

Um es mal kurz mit dem Autor der Kolumne zu halten: "Erscheint also dem Geist, wenn er die Natur als seinen Anfang denkt, die Natur immer nur als 'gute' Natur – zwar nicht gut zu essen, aber 'gut zu denken' (wie Descola Claude Lévi-Strauss zitiert) –, die Natur in denkbarer Gestalt, dem Denken entgegenkommend, freundlich und ihm entsprechend? Löst sich im 'Eingedenken der Natur' ihre Fremdheit auf?"

   Spätestens zu diesem Zeitpunkt kommt freilich bis zuletzt doch noch (so mag es dem österreichisch-rumänisch-kanadischen Durchschnittskonsumenten des "Lücken-Essays" scheinen, der sich ja auch recht gut zum Entstauben älterer Lektüren und einschlägiger Reflexionen eignet) Nietzsche her geritten – und weidet seine Kühe und wertet seine Werte um und kaut an seinen Gedanken. "Begabten Manns Natur- und Geisteskraft!", hat freilich einmal ein schalkhafter Philosoph von der nicht ganz so lichten Seite gesagt. Keine Blöße. Keine Lücke. Alles schön kontinuierlich. Ein Teil von jener Kraft.

Die "Willkür" der modernen Freiheit (Descola) bzw. die bloße "Fähigkeit, soziotechnische Gemenge zu sortieren und neu zu kombinieren" (Latour) könnte in der Tat in diesem in natürlicher Art und Weise geisteskräftigen Wort des Geistes, der stets verneint, ihr Aufgehobensein finden. Und wenn der begabte Mensch (in dem wohl stets der Funke der Freiheit zu vermuten sei – das ist jetzt aber nur eine Spekulation) allein mit seinen Gedanken ist, kann er ja in aller Muße daran kauen und bei Gelegenheit mal auch den Weg ins Freie einschlagen.

   Und wer im Rumänischen zu Hause ist, darf gleich zweimal kauen. Zum Wiederkauen des Gelesenen, zum Wiederkauen des Gedachten, so könnte man diesen kurzen erkenntnistheoretischen Bummel im lückenhaften epistemologischen Grasland betiteln, das dem Geist seinen Ursprung, seine Heimat, sein Zuhause geben will. Wer wen treibt, wer wen hütet, an wem es liegt, die Richtung anzugeben, in die das freie Ich gehen will: eine kontinuierliche Fragestellung.

Ja dann lassen wir eben – meint der Text, der sich jetzt irgendwie gleichsam in einer lückenlosen Transhumanz der philosophischen Sorte aus sich selbst heraus auf unserer neuen reflektionstüchtigen Weide einer durchgehenden Postmoderne zu Ende schreiben will – einfach die Gedanken weiden. Im Rumänischen wird das Verb "weiden" ja sowieso bezeichnenderweise selbst in der Alltagssprache nicht nur für Pferde, Rindvieh und Schafe, sondern auch für Gedanken verwendet, wodurch die mutmaßlich ordnende Dynamik zwischen Subjekt und Objekt eine aussagekräftige Umkehrung erfährt. "Mă paște gândul". Wörtlich: "Der Gedanke weidet mich".

   Freier Wille heute: Ein Gedanke wird gehegt, genauer gesagt, der Mensch hegt ihn. Dass man aber ganz in Schopenhauerschem Sinne auf dem (sagen wir mal: nicht eingehegten) Weideland menschlicher Bedingtheit zwar offenbar tun kann, was man will, jedoch nicht wollen kann, was man will, diese grundlegende Intuition der Uneigentlichkeit des Verhältnisses zwischen Denkendem und Gedachtem scheint dem rumänischen Ausdruck gleichsam als sinnverzehrendes Bedenken der Gedankenzugehörigkeit innezuwohnen.

Freier Wille, wo bist du? Und bist du wirklich frei? Ist das, was ich zu denken meine, mein Gedanke, ist das, was ich zu wollen meine, meine Absicht? Oder steckt noch was dahinter? Diese halblauten Hilfeschreie kann man immer noch recht gut durch die Lücke vernehmen, die Adorno vor gar nicht so langer Zeit ja strenggenommen gar nicht so dicht gemacht hatte.

   Wo das herkommt, was wir zu wollen meinen, mit dieser Frage haben sich schon viele kluge Köpfe abgeplagt. "Hirnforschung", was kannst du?, fragt etwa Peter Thier am 21.12.2014 in der Frankfurter Allgemeinen zum Anlass der Nobelpreisverleihung an May-Britt und Edvard Moser. Freilich: Schon bevor er sich dessen bewusst wurde, dass er die Frage stellen wird, schon bevor er sich dessen bewusst wurde, dass er den Artikel schreiben wird, ja dass er ihn überhaupt schreiben will, war bereits alles in Gang gesetzt – und die Finger tippten alle Buchstaben auf eigene Faust, ohne erst die entsprechenden Anweisungen vom Hirn abzuwarten. Fatalität: Verdammt, wo kommt das denn bloß her?

"Der freie Wille ist eine Illusion", meint Wolf Singer, Senior Research Fellow am Ernst Strüngmann Institut für Neurowissenschaften in Frankfurt und Leiter einer Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Hirnforschung. Zahlreiche Philosophen und Meinungsforscher, darunter eine Reihe g'schätzter Aurora-Autoren, hatten freilich längst die Frage beantwortet, die in diesem strengen (doch gerechten?) Urteil versteckt, gehortet, geborgen liegt, ehe sich der schneidige Hirnforscher überhaupt dessen bewusst werden konnte, dass eine Frage in dem eingebettet liegt, was er bald sagen wollte, ohne freilich strenggenommen so richtig wollen zu können, dass er es will.

   Das ist so, weil das muss so, meint es der Leumund zu wissen. Und der Schäfer, der Cowboy und der Philosoph wissen's auch. Doch warum das, was ist, ist, kurz, warum das Seiende sei, und zwar so und nicht anders, warum und wie vor gut vierzehn Milliarden Jahren die Explosion eines unendlich kleinen Energiepunkts mit unendlich großen Folgen vonstatten ging bzw. warum jeder Satz im Buch des Seins sitzt und was das Ganze zu bedeuten hat: Ja wenn wir das begreifen könnten!, denkt sich der Schäfer, denkt sich der Cowboy, denkt sich der Philosoph, wenn er wieder mal nur so – ohne zwingenden Anlass – unter seinem bestirnten Himmel sitzt und eventuell etwas zählt.

Die Dialektik Denkender-Gedachtes steckt da ganz gewaltig mit drin – und ein Haufen Dialogik. Als munterer Aktant springt unter einer derartigen Anschauungsweise der Denkprozesse bemerkenswerterweise gerade das Erdachte ein. Wenn Gedanken nämlich (transitiv gebraucht, also: jemanden) weiden können, dann sind sie – soweit man es mit Nietzsche hält – tätig. Das kommt, sie sind die Tat schlechthin, sie verkörpern das echte Sein, die wahrhafte Lebendigkeit.

   Aus dem lückenlos grasigen Rumänien und aus den abenteuerlichen nordamerikanischen Prärien gesellt sich somit zur aktuellen Lücken-Diskussion erkenntnistheoretischer Art und Weise der Verdacht hinzu, dass das Individuum (das freie Ich) von Gedanken geweidet werden kann. Das Wiederkauen steht somit folgerichtig keineswegs dem bloßen Substrat, sondern vielmehr dem ontologisch gerechtfertigten Gelesenen zu. Ein Loblied auf die Lektüre, auf die wundersamen Getriebe der Semantik, auf den Text an sich und für uns. Der Gedanke ist es, der den Menschen weidet, der ihn treibt und leitet, der ihn "überkommt", wie es so schön im Deutschen heißt – in einem sehr anschaulichen Akt interkultureller epistemologischer Transhumanz.

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