Vasile V.
Poenaru
bardaspoe [at]
rogers.com
geboren
1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Lebt
in Toronto.
Bruno Latour.
Wir sind nie
modern gewesen.
Suhrkamp, 2008. 205 S.
ISBN: 351829461X
Es geht darum, endlich
ein für alle Mal die
"Große Trennung" der
Moderne (in etwa dadurch
gekennzeichnet, dass
Natur objektiviert und
als Gegenstand mathe-
matisierbarer empirischer
Forschung definiert wird)
zu überwinden und eine
Kontinuität wahrzuneh-
men, wahrzuhaben, zu
bewahrheiten, die ja
eigentlich schon
immer da war.
Philippe Descola.
Jenseits von
Natur und Kultur.
Suhrkamp, 2011. 638 S.
ISBN: 3518585681
Im Rumänischen wird
das Verb "weiden" selbst
in der Alltagssprache
nicht nur für Pferde, Rind-
vieh und Schafe, sondern
auch für Gedanken ver-
wendet, wodurch die
mutmaßlich ordnende
Dynamik zwischen
Subjekt und Objekt eine
aussagekräftige Umkeh-
rung erfährt. "Mă paște
gândul". Wörtlich: "Der
Gedanke weidet mich".
Linktipp
www.klett-cotta.de
Doch warum das, was
ist, ist, kurz, warum das
Seiende sei, und zwar so
und nicht anders, warum
und wie vor gut vierzehn
Milliarden Jahren die
Explosion eines unendlich
kleinen Energiepunkts mit
unendlich großen Folgen
vonstatten ging bzw.
warum jeder Satz im
Buch des Seins sitzt und
was das Ganze zu bedeu-
ten hat: Ja wenn wir
das begreifen könnten!
Wenn Gedanken nämlich
(transitiv gebraucht, also:
jemanden) weiden
können, dann sind sie –
soweit man es mit Nietzsche
hält – tätig. Das kommt,
sie sind die Tat schlecht-
hin, sie verkörpern das
echte Sein, die wahr-
hafte Lebendigkeit.
Ein Loblied auf die
Lektüre, auf die wunder-
samen Getriebe der
Semantik, auf den Text
an sich und für uns.
|
"Na
wie geht’s so?", wird ein Schäfer irgendwann nach der Zweiten
Lautverschiebung irgendwo im nahrungshaltigen rumänischen Grasland gefragt.
"Nichts wie in Gedanken vertieft dasitzen, was?" Und des Hüters
epistemologisch gewiefte Antwort auf die anmaßende Grasland-Frage? "I wo!
... Bloß dasitzen."
Die Schafe
grasen gedankenlos, der Schäfer beobachtet sie gedankenlos, und wir spüren:
Es gibt eine Lücke im Zaun. Ähnliche Verhältnisse herrschen im
nordamerikanischen Grasland, nur, hier sind es die Cowboys, die gelegentlich
nur so, ohne irgend etwas Bestimmtes im Sinn zu haben, ausschnaufen dürfen,
wenn sie gerade mal nicht das Lasso schwingen oder die Schlinge ziehen (denn
wer das Lasso schwingt, muss danach die Schlinge ziehen, das leuchtet ein,
besonders wenn's mal ausnahmsweise ein Treffer ist). Freilich: Ob sich
hinter dem "bloßen" Dasitzen nicht doch noch ein paar Gedanken verstecken?
Sind wir tatsächlich je völlig gedankenlos – oder besser gesagt:
gedankenfrei? Und wie weit ist es vom bloßen Dasitzen zum vollen Dasein?
Der
österreichische Kanadier im einschlägigen (aber nicht einschneidigen)
Selbstgespräch: Also wenn i mi hinsetz, dann woas i ans: I bin. But then
comes the question: Bin i? Total ontologisch formuliert. Total
epistemologisch, des is – auf gut Cartesianisch – oder eben – auf gut
Deutsch – Klaro! Ohne Deutsch (oder Latein) keinen Zugang zum echten Sein.
Denn wir sagen's am besten mit Heidegger höchstpersönlich. Der versteht sich
nämlich auf das, was ist bzw. auf des, wos mir san.
Oder am
allerbesten wär‘s vielleicht, wir stellen gleich mal die Gleise für eine
kleine Parallelaktion der österreichischen Sorte. Dann ist die Donau blauer.
Dann hat das Sein mehr Gestalt. Mehr Sitzfleisch. Mehr Sinn. Mehr Würde.
Mehr Erhabenheit. Und natürlich zugleich mehr Zeit.
Dubito, cogito,
sum, sagte einst der Kaiser. I hob's! I hob a Idee. Nur, wo kommt sie her?
Well, it's coming from a crack in the air, antwortet ihm der Kanadier
Leonard Cohen mit einiger Verspätung. Dieses noble Axiom eines Kanadiers und
eines Österreichers (denn der Kaiser hätte ja bestimmt damit vorlieb
genommen, wäre ihm die entsprechende Nachricht von der Existenz des freilich
erst nach seinem Tod verlautbarten Axioms nur rechtzeitig zugestellt worden)
wollen auch wir gerne vertreten. Es gibt folglich, darauf lässt sich
jederzeit auf Österreichisch-Kanadisch schwören, einen Riss in der Luft. Da
kommen Ansichten durch, kommen auf uns zu, bei uns an, zu uns her. Und wenn
der Riss nach unten wandert, darf sich auch das gemeine Volk die Ansichten
zu eigen machen, die ihm von oben nahegelegt werden.
Es bleibe dabei.
It's coming from a crack in the air. Weitere Belege erwünscht? Schauen wir
uns doch mal an, was die g'scheiten Leut' dazu sagen, und zwar auf
gesamteuropäischer Ebene, was heißen will: auf dem gesamteuropäischen
Grasland. "Die Lücke in der Natur: die Lehre der Anthropologie", so
Christoph Menkes Dezember-Kolumne (2014) in der
"Zeitschrift für europäisches Denken" (Merkur, Klett-Cotta Verlag).
Ob der menschliche Geist frei sei: Der Autor stellt diese neue alte Frage
nicht (nur) in eigener Manier bzw. auf eigene Faust (und auch nicht nur aus
freien Stücken – oder geht das jetzt zu weit?), sondern zusammen mit den
französischen Anthropologen Bruno Latour ("Wir
sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen
Anthropologie". Frankfurt: Suhrkamp 2008, Kap. 2) und Philippe Descola
("Jenseits von Natur und Kultur". Berlin: Suhrkamp 2011, Kap. 3; "Die
Ökologie der Anderen". Berlin: Matthes & Seitz 2014).
Der grundlegende
Gedanke hierbei im Vorlesungs-Laufschritt ausgepackter merkurischer
Erörterungen lässt sich leicht in einer Schlinge festhalten. Es geht darum,
endlich ein für alle Mal die "Große Trennung" der Moderne (in etwa dadurch
gekennzeichnet, dass Natur objektiviert und als Gegenstand
mathematisierbarer empirischer Forschung definiert wird) zu überwinden und
eine Kontinuität wahrzunehmen, wahrzuhaben, zu bewahrheiten, die ja
eigentlich schon immer da war. Ein erkenntnistheoretisches Kontinuum.
Gemeint, getan.
Menke bietet ein passendes Rezept zur begrifflichen Urbarmachung der Lücke,
die die Natur in sich selbst gelassen hat, um den Geist zu ermöglichen: ein
bisschen Adorno (er war es ja, der die Problematik der Lücke sozusagen mit
einem kräftigen Ruck seiner Feder in den öffentlichen Raum philosophischer
Erwägungen stellte), ein bisschen
Lévi-Strauss, ein bisschen John McDowell und Victor Turner – und schon haben
wir Fahrwind. Nietzsche meldet sich nicht zu Wort, er lässt die
nachgeborenen Philosophen, die freien Geister des gegenwärtigen europäischen
Denkens, ganz allein in Richtung Freiheit des Geistes segeln und sich an dem
Stückchen Natur weiden, das als das Andere des Geistes im Geiste wirksam ist
(wenn man Adorno Glauben schenkt).
Um es mal kurz
mit dem Autor der Kolumne zu halten: "Erscheint
also dem Geist, wenn er die Natur als
seinen Anfang denkt, die Natur immer
nur als 'gute' Natur – zwar nicht gut
zu essen, aber 'gut zu denken' (wie
Descola Claude Lévi-Strauss zitiert) –, die
Natur in denkbarer Gestalt, dem Denken
entgegenkommend, freundlich und ihm entsprechend? Löst sich im 'Eingedenken
der Natur' ihre Fremdheit auf?"
Spätestens zu
diesem Zeitpunkt kommt freilich bis zuletzt doch noch (so mag es dem
österreichisch-rumänisch-kanadischen Durchschnittskonsumenten des
"Lücken-Essays"
scheinen, der sich ja auch recht gut zum Entstauben älterer Lektüren
und einschlägiger Reflexionen eignet) Nietzsche her geritten
– und weidet seine Kühe und wertet seine Werte um und kaut an seinen
Gedanken. "Begabten Manns Natur- und Geisteskraft!",
hat freilich einmal ein schalkhafter Philosoph von der nicht ganz so lichten
Seite gesagt. Keine Blöße. Keine Lücke. Alles schön kontinuierlich. Ein Teil
von jener Kraft.
Die "Willkür"
der modernen Freiheit (Descola) bzw. die bloße "Fähigkeit, soziotechnische
Gemenge zu sortieren und neu zu kombinieren" (Latour) könnte in der Tat in
diesem in natürlicher Art und Weise geisteskräftigen Wort des Geistes, der
stets verneint, ihr Aufgehobensein finden. Und wenn der begabte Mensch (in
dem wohl stets der Funke der Freiheit zu vermuten sei – das ist jetzt aber
nur eine Spekulation) allein mit seinen Gedanken ist, kann er ja in aller
Muße daran kauen und bei Gelegenheit mal auch den Weg ins Freie einschlagen.
Und wer im
Rumänischen zu Hause ist, darf gleich zweimal kauen. Zum Wiederkauen des
Gelesenen, zum Wiederkauen des Gedachten, so könnte man diesen kurzen
erkenntnistheoretischen Bummel im lückenhaften epistemologischen Grasland
betiteln, das dem Geist seinen Ursprung, seine Heimat, sein Zuhause geben
will. Wer wen treibt, wer wen hütet, an wem es liegt, die Richtung
anzugeben, in die das freie Ich gehen will: eine kontinuierliche
Fragestellung.
Ja dann lassen
wir eben – meint der Text, der sich jetzt irgendwie gleichsam in einer
lückenlosen Transhumanz der philosophischen Sorte aus sich selbst heraus auf
unserer neuen reflektionstüchtigen Weide einer durchgehenden Postmoderne zu
Ende schreiben will – einfach die Gedanken weiden. Im Rumänischen wird das
Verb "weiden" ja sowieso bezeichnenderweise selbst in der Alltagssprache
nicht nur für Pferde, Rindvieh und Schafe, sondern auch für Gedanken
verwendet, wodurch die mutmaßlich ordnende Dynamik zwischen Subjekt und
Objekt eine aussagekräftige Umkehrung erfährt. "Mă paște
gândul". Wörtlich: "Der Gedanke weidet mich".
Freier Wille
heute: Ein Gedanke wird gehegt, genauer gesagt, der Mensch hegt ihn. Dass
man aber ganz in Schopenhauerschem Sinne auf dem (sagen wir mal: nicht
eingehegten) Weideland menschlicher Bedingtheit zwar offenbar tun kann, was
man will, jedoch nicht wollen kann, was man will, diese grundlegende
Intuition der Uneigentlichkeit des Verhältnisses zwischen Denkendem und
Gedachtem scheint dem rumänischen Ausdruck gleichsam als sinnverzehrendes
Bedenken der Gedankenzugehörigkeit innezuwohnen.
Freier Wille, wo
bist du? Und bist du wirklich frei? Ist das, was ich zu denken meine, mein
Gedanke, ist das, was ich zu wollen meine, meine Absicht? Oder steckt noch
was dahinter? Diese halblauten Hilfeschreie kann man immer noch recht gut
durch die Lücke vernehmen, die Adorno vor gar nicht so langer Zeit ja
strenggenommen gar nicht so dicht gemacht hatte.
Wo das herkommt,
was wir zu wollen meinen, mit dieser Frage haben sich schon viele kluge
Köpfe abgeplagt. "Hirnforschung", was kannst du?, fragt etwa Peter Thier am
21.12.2014 in der Frankfurter Allgemeinen zum Anlass der
Nobelpreisverleihung an May-Britt und Edvard Moser. Freilich: Schon bevor er
sich dessen bewusst wurde, dass er die Frage stellen wird, schon bevor er
sich dessen bewusst wurde, dass er den Artikel schreiben wird, ja dass er
ihn überhaupt schreiben will, war bereits alles in Gang gesetzt
– und die Finger tippten alle Buchstaben auf eigene Faust, ohne erst die
entsprechenden Anweisungen vom Hirn abzuwarten. Fatalität: Verdammt,
wo kommt das denn bloß her?
"Der freie Wille
ist eine Illusion", meint Wolf Singer, Senior Research Fellow am Ernst
Strüngmann Institut für Neurowissenschaften in Frankfurt und Leiter einer
Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Hirnforschung. Zahlreiche
Philosophen und Meinungsforscher, darunter eine Reihe g'schätzter
Aurora-Autoren, hatten freilich längst die Frage
beantwortet, die in diesem strengen (doch gerechten?) Urteil versteckt,
gehortet, geborgen liegt, ehe sich der schneidige Hirnforscher überhaupt
dessen bewusst werden konnte, dass eine Frage in dem eingebettet liegt, was
er bald sagen wollte, ohne freilich strenggenommen so richtig wollen zu
können, dass er es will.
Das ist so, weil
das muss so, meint es der Leumund zu wissen. Und der Schäfer, der Cowboy und
der Philosoph wissen's auch. Doch warum das, was ist, ist, kurz, warum das
Seiende sei, und zwar so und nicht anders, warum und wie vor gut vierzehn
Milliarden Jahren die Explosion eines unendlich kleinen Energiepunkts mit
unendlich großen Folgen vonstatten ging bzw. warum jeder Satz im Buch des
Seins sitzt und was das Ganze zu bedeuten hat: Ja wenn wir das begreifen
könnten!, denkt sich der Schäfer, denkt sich der Cowboy, denkt sich der
Philosoph, wenn er wieder mal nur so – ohne zwingenden Anlass – unter seinem
bestirnten Himmel sitzt und eventuell etwas zählt.
Die Dialektik
Denkender-Gedachtes steckt da ganz gewaltig mit drin – und ein Haufen
Dialogik. Als munterer Aktant springt unter einer derartigen
Anschauungsweise der Denkprozesse bemerkenswerterweise gerade das Erdachte
ein. Wenn Gedanken nämlich (transitiv gebraucht, also: jemanden) weiden
können, dann sind sie – soweit man es mit Nietzsche hält – tätig. Das kommt,
sie sind die Tat schlechthin, sie verkörpern das echte Sein, die wahrhafte
Lebendigkeit.
Aus dem
lückenlos grasigen Rumänien und aus den abenteuerlichen nordamerikanischen
Prärien gesellt sich somit zur aktuellen Lücken-Diskussion
erkenntnistheoretischer Art und Weise der Verdacht hinzu, dass das
Individuum (das freie Ich) von Gedanken geweidet werden kann. Das
Wiederkauen steht somit folgerichtig keineswegs dem bloßen Substrat, sondern
vielmehr dem ontologisch gerechtfertigten Gelesenen zu. Ein Loblied auf die
Lektüre, auf die wundersamen Getriebe der Semantik, auf den Text an sich und
für uns. Der Gedanke ist es, der den Menschen weidet, der ihn treibt und
leitet, der ihn "überkommt", wie es so schön im Deutschen heißt – in einem
sehr anschaulichen Akt interkultureller epistemologischer Transhumanz. |
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