Tinte
ist bitter. Wer schreibt, geht. Papier kann töten. Davon wusste der
Salzburger Historiker, Publizist und Ritter (1) Karl-Markus Gauß, der seit
1991 die Geschicke von Literatur und Kritik leitet, bereits
vor gut zwanzig Jahren (genauer gesagt schon 1988) ein Lied zu singen. In
der Edition Wortlandstreicher des Wieser Verlags erschienen damals seine
Literarischen Porträts aus Barbaropa, ein Denkmal großer Vergessener der
österreichischen Literatur, ein Denkmal großer Weggegangener und
Totgeschwiegener – stets der bittersüßen Wahrheit über das Verhältnis
zwischen einer vielgeliebten Heimat und deren mehr oder weniger geliebten
schreibenden Söhnen auf der Spur.
Und weil
Wortlandstreicher sich so schön anhört, wollen wir auch gleich verraten, wie
es dazu kam: In den lieben alten Achtzigern zogen Lojze Wieser und Ludwig
Hartinger nämlich "durchs Land" (das heißt hier durch Österreich), um "neue
Worte und andere Sprachbilder" aufzuspüren, so Wieser im Klappentext von
Tinte ist bitter. Sie haben offensichtlich viel vorgefunden, und manches
Tintenfass, das andernfalls wohl unversehrt geblieben wäre, wurde dank ihres
Bestrebens auf mancher Wiesn angezapft.
Österreich
ist eine kleine Republik mit einem großen Fragezeichen – ein keimender
Leitgedanke in musikalischer Begleitung hinter einem vielsagenden
Gedankenstrich, der bisweilen gleichsam durch die verblichene Rechnung der
nur noch touristisch maßgebenden Hofburg zuckt; eine längst halbierte
Doppelmonarchie, als mehrfach überholtes europäisches Semikolon getarnt. Das
zusammenschrumpfende Reich schleppender Parallelaktion in seiner
gewaltigsten PR-Gestalt. Und natürlich vor allem auch ein kleines Land mit
ausgedehnten Texten.
Ein Reich der
Anschaulichkeit ist Österreich. Ein mitteleuropäischer Mittler hinter der
abgelegenen Mitte Europas, ein beständiger, wiewohl diskreter regionaler
Klatsch hinter dem überlauten Weltgeschehen, eine anspruchsvolle Fußnote
hinter dem langsam abklingenden transkontinentalen Diskurs der Erweiterung
und Integrierung, ein tänzelndes Wahrzeichen hinter der Wahrheit, ein
rollender Donner hinter dem Blitz. Das Habsburgische hinter den Burgen, das
Hochdeutsche hinter der zweiten Lautverschiebung, das Oberdeutsche hinter
dem Hochdeutschen.
Von
Apfelstudel zu Mozartkugel, von Hundertwasserhaus zu Ars Elektronica, von
Gipfel zu Gipfel, von Dom zu Dom: ein Bezeichnetes hinter dem Bezeichnenden.
Ein Danke sehr hinter dem Bitte sehr. Ein Küss die Hand nach dem Grüß Gott.
Ein Wind nach der Windstille. Eine Eurorepublik nach der zweiten Repulik.
Österreich: Weingärten, Stahlindustrie, Aufmarsch, Abmarsch, Heimat,
Anti-Heimat, Nibelungenstraßen, Getreidegassen und ein manchmal beinahe
unverständliches Vielvölkerverständnis fliegen nur so durcheinander, wenn
sich die Feder seiner vielgerühmten Söhne rebellisch, methodologisch und
zugleich kapriziös-dichterisch rührt. Alles, was man wahrhaben will, hat
sich im zuvorkommend gefälligen oder willkürlichen Akt des Schreibens aus
der jeweils abgesegneten Perspektive der Stunde schnellstens bewahrheitet.
O, du lieber Augustin, alles ist hin! Ess- und Quatschkultur? Schöpferische
Kritzelei? Hin.
Alles ist da:
Kaiser und König. Idee und These. Text und Kontext. Pferd und Kutsche. Wort
und Klang. Besitz und Bildung. Sinn und Verstand. Jederzeit sozusagen in
Hülle und Fülle vorhanden, des metaliterarischen Seins einer neuen
zentralisierten Eurolust teilhaft, in beliebigen mehr oder weniger politisch
korrekten Kontexten ohne viel Aufhebens integriebar, so durch und durch
präsent, hundertprozentig zum Aussagen bereit, hundertprozentig im
öffentlichen Bewusstsein aufgehoben, der Vaterlandsverschönerung oder –
Verleumdung dienlich, ja auf Anfrage sogar ohne weiteres etwa mit Walzer,
Alpen und Donau serviert. Mit hochverehrten Herren und gnädigen Frauen. Und
mit Spiegelgeschichten und Mundartdichtungen und Festspielen und Rittern und
Tod und Teufeln. Und Burgen und Schlössern und Festungen. Und mit der
Europäischen Kulturstadt Linz, um die sogar die Donau eine Piruette macht.
Da kann man sich in gemütlicher Besessenheit geistig verbarrikadieren und
jahrelang von den sorgfältig aufbewahrten Halbwahrheiten leben, die den
Zusammenbruch der Donaumonarchie wie dem Sichverflüchtigen des Ständestaats
überlebten und weiterhin das wunderliche Identitätsgefühl rund um ein
gleichsam mit unbegrenzt haltbaren Schmetterlingsflügel geflügeltes "Servus
in Austria!" prägen.
Was
ist Österreich? Was ist es nicht? Was darf es sein? Was soll es sein? Und
vor allem: Wie soll es sein? Mit allen Wassern muss man sich waschen, um
zwischen diesen Fragen hindurch zu blicken. Die Ringstraße muss man entlang
spazieren, den Stephansdom erklimmen. Lederhosen anziehen. Ein Gulasch
essen. Man muss sich das ganze Ding als geistige Landschaft vorstellen. Jede
Seite ist die grüne Seite. Jedes Wetter ein Kaiserwetter. Jedes Lied ein
Hohelied. Die Heimat eine Donau-Welle, das Vaterland ein Stammlokal, das
Wort ein vorbehaltlos gefeierter, allgegenwärtiger Ton-Ort. Wo einer
anfangen soll? Herr Ober, noch ein Glas!
Es hat sich noch
nie jemand etwas Österreichisches ausgedacht, ohne gleich in kontrastiver
Anschaulichkeit die spezifischen Charakteristika hervorzuheben, anhand derer
so österreichisch wirkt, was österreichisch ist. Ein Chefkoch würde
natürlich gleich sagen, es sei das Wiener Schnitzel, dass uns zu dem macht,
was wir sind. Einem Musil hingegen würde schon eher dünken, es seien die
Eigenschaften, derer wir entbehren, oder, besser, derer wir uns enthalten,
und ein Wittgenstein würde in altlogisch-altphilosophischer Art und Weise
möglichst darüber schweigen, worüber er nichts zu sagen hätte.
Im
Ernst. Angenommen, dass literarische Werke an sich essbar (oder doch
wenigstens lesbar) seien – im Café, beim Elfmeter, auf dem Campus, am
Bahnhof wie sonstwo: Nach was schmeckt Österreich? Die Antwort fällt schwer,
denn österreichische Tinte, die will erzählt werden. Eine Menge Löschpapier
ist vonnöten, um im schnellen Tempo der Lektüre zu trocknen, was da alles an
der geistigen Wäscheleine zwischen der Schweiz und Ungarn hängt. Unmöglich,
davon zu schmecken, ohne sich zu bekleckern. Unmöglich, Österreichs
schreibender Zunft auf den Zahn zu fühlen, ohne wenigstens zum Teil selber
philosophisch-polemisch zu werden. Unmöglich, sich über strapazierte
Definitionen hinwegzusetzen, wenn es wieder einmal darum geht, auszumachen,
wer "mir" sind.
Auf einen
Versuch jedoch soll es ankommen, das volle Herz im gebrechlichen Brustkasten
mit begrenzter Haftung, die gängigen Vorurteile und Illusionen des jüngsten
Österreich-Bilds trotz besserer Einsichten vorsichtshalber parat, den
scharfen Blick auf die eifrig betriebenen und manchmal auch einigermaßen
ernst genommenen Literaturhäuser und Forschungsinstitute gerichtet, die
Traditionen breit angelegter Standortbestimmung im Sack, die Tage der
deutschsprachigen Literatur auf CD; alles gemütlich-verführerisch, ja
geradezu schmackhaft-behaglich verpackt: der Skandal eine Inszenierung, die
Vergangenheit eine k. und k. Variable, der Weg in die Zukunft bereits wie
beiläufig im Rahmen zahlreicher Konferenzen sozusagen auf hypothetischer
Ebene eingeschlagen.
Vienna
calling? Austria, here we come! Der alte habsburgische Magnet funktioniert
immer noch. Aus aller Welt sausen die Musikfreunde auf die Musikstadt, die
Literaturfreunde auf die Literaturstadt, die Kongressfreunde auf die
Kongressstadt zu. Seit geraumer Zeit herrscht allerdings Windstille auf dem
in der Regel so selbstverständlich dünkenden Gebiet österreichischer
Selbstverständlichkeit. Die rotweißrote Flagge des pensionierten Adlers
flattert kaum mehr über seine mittlerweile entmythisierte, doch immerhin
großzügig-malerische Kulturlandschaft, die einst von Wien und Prag über
Budapest und Temeswar bis nach Galizien und in die Bukowina reichte.
Der prächtige
Vogel ist längst seiner selbst müde und doch so stolz auf die guten alten
Zeiten. Seine Klauen wollten schon mehrere Parteien klauen, seine Erbschaft
mehrere Kultureinrichtungen antreten. Ein Ei hat der Adler leider nicht
gelegt, aber viele Hühner, die alle zwei Tage selbstbewusst und
wichtigtuerisch angeben, auf nichts weniger als dem Gott sei Dank wundersam
überlieferten, wahrhaften Ei des Adlers zu sitzen, gackern durchaus fröhlich
und lebendig, ja tadellos patriotisch in manch friedlich anmutendem
Bauernhof des Vaterlandes, während auf der Hofburg in Wien drei weiße Tauben
das ihre tun.
Franz Innerhofer
hat eines der Hühnereier aus der staatlich beglaubigten Idylle der
Nachkriegszeit herausgeschmuggelt und der Öffentlichkeit zugeworfen. Dafür
wurde er berühmt. Dafür wurde er aber auch wieder vergessen.
Peter
Handke machte sich aus Rache prompt daran, das Publikum zu beschimpfen. Die
Eier, die man ihm zuwarf, waren jedoch, wie sich später herausstellte,
erstaunlicherweise die Sprößlinge des verschollenen kaiserlichen Adlers, der
insgeheim eigentlich doch ein paar Eier gelegt hatte. Leider sind sie wegen
der allgemeinen Erhitzung nun lediglich eine große überregionale
Palatschinke. Und dazu ein freilich etwas angebranntes Spiegelei, das bald
aus irgendwelchen Gründen auf die offizielle Seite "Linz 2009
Kulturhauptstadt Europas" gestellt wurde. Da kann man sich in Anlehnung an
Ilse Aichingers Spiegelgeschichte gleich mal eine Spiegeleigeschichte
hinzudenken und nebenbei die österreichische Nachkriegsliteratur im
nachhinein neu anfangen lassen. Jetzt ist ja sowieso alles anders. Denn
"Linz verändert", so das Kulturhauptstadt-Motto. Mit einem riesigen, von
Abertausenden beklatschtem "Raketensinfonie"-Feuerwerk beleuchtete übrigens
am 1. 1. das neue Ars Electronica Center die Zukunft unserer erweiterten
Tintenwelt: mit einer Fackel im Ohr. Das Nest hingegen blieb
unbeschmutzt. Heimat bist du großer Söhne – und weiträumiger Tintenfässer.
In der leeren Kaiserloge spukt nun ein armer Spielmann, während die voll
aufgeblasenen Stände des Ständestaates aus der überwindungsreifen
Vergangenheit ihren gemischten Reigen antreten. Alle meine Adler / Fliegen
in der Höh’. Oder besser: Mir sein mir / Noi siamo noi. Österreich ist
gleichzeitig überall, nur eben nicht ganz zur gleichen Zeit. Und von Bozen
bis Bolzano dauert es ja gar nicht so lange.
Also nach was
schmeckt Österreich: nach Kaffee und Apfelstrudel und Mozartkugeln und
Alpenmilch und Jodeln? Nach dem Brenner Sattel, dem Staller Sattel, dem
Salzkammergut und dem Wiener Telefonbuch? Nach Menasse und Hackl? Nach
Handke, Turrini, Bernhard und Jandl? Von Gott erhaltenes, schönes,
vielgeliebtes, nein, leidlich geliebtes Land am Strome: nach Äckern und
Domen? Nach Kaiserlichkeit, Reitschulen und Oberdeutsch? Nach Schweigen und
Sagen? Nach ewigem Klagen?
Wenn
der Großglockner einen kräftigen Glockenton von sich gibt, wackeln die
kleineren Gipfel. So ist es auch im Literaturbetrieb. Es gibt nichts Neues
in Österreich, und wenn es etwas gäbe, so würde es schnell altern. Doch wir
wollen uns jetzt nicht allzusehr darüber ärgern, sondern die Feiertage so
feiern, wie sie im Kalender stehen. Denn heutzutage kommt das Schreiben an
und für sich ja ohnehin keineswegs mehr so gut an wie früher. Man muss
immerfort den Abgöttern der sogenannten wissenschaftlichen Forschung frönen,
wenn man sich zum Wort melden will. Und man muss sich sozialpolitisch
engagieren und entsprechend poetologisch und ästhetisch definieren. Als
Frühaufsteher in der Kultur muss einer durch diese Szene geistern, um
überhaupt erst einmal da zu sein.
Österreich: Wie
macht man das? Über die Seitentür deutscher Dichtung? Über das Gespenst des
Multikulturalismus? Über ein Dutzend Zechlieder? Übers Wochenende? Über die
Presse? Über den Kurier? Über das Gesetz der großen Zahl? Oder gar über das
Gesetz einer großen Erzählung? Wenn sich einer so durch die moderne
österreichische Literatur umtut, trifft er jedenfalls einen Haufen
Schriftsteller an, die sich mehr oder weniger zweckmäßig wie bunte
Schwarmfische (nein, wie graue Nörgler-Fische) über alles ausschweigen, was
sich je diesseits und jenseits der Wässer getan hat.
Ransmayr
sieht fast grimmig aus, der Mund lässt jedenfalls darauf schließen, dass er
es sei, die Augen auch, besser gesagt die Brauen, weil die Augen an sich ja
eigentlich gar nicht so grimmig aussehen, sondern eher ein bisschen
uneigentlich trüb.
Handke lächelt
gutmütig. Es scheint ihn zu freuen, dass in seinen Adern die Stunde der
wahren Empfindung schlägt. Noch mehr aber scheint ihn zu freuen, dass ihm
Don Juan höchtspersönlich von sich selbst erzählt. Wenn Handke ein Torhüter
wäre, dann wäre die Sprache sein Tor. Dann hätte niemand mehr Angst davor,
den Mund aufzumachen. Aber Handke ist kein Torhüter.
Gstreins leerer
Blick greift tief hinein in das Handwerk des Tötens – und natürlich auch in
das Handwerk des Schreibens. Er hat was gesehen. Er hat es aber nicht selbst
gesehen, sondern durch die Augen eines erschossenen Stern-Reporters. Das
Sterben, über das man nicht schreiben darf: Darüber hat er geschrieben.
Gauß
wirkt ein bisschen verstimmt. Ihn hat ein Tintenfisch gebissen. Ein
richtiger Biss war es freilich kaum, und auch kein richtiger Tintenfisch.
Doch durch die Verletzung hat sich der Salzburger Buchstabenexperte eine
Erbitterung zugefügt, für deren Stillung fünfzehn Bücher nötig waren,
darunter seine Journale, die er nicht wie die meisten Menschen, die ein
Tagebuch führen, angemessen privat hielt, sondern kurzerhand veröffentlichte
–
und dabei sogar Erfolg erntete. Ob man sowas darf?
Menasse scheint
sich sehr zu wundern. Aber er scheint nicht sagen zu wollen, worüber genau
er sich wundert. Wegen seiner verhältnismäßigen Berühmtheit reißt ihm die
Kanonisierungsindustrie buchtäblich jedes Wort aus dem Mund: Buchstabe um
Buchstabe. Stirnrunze um Stirnrunze. Bevor sich jedoch der allfällig
wissenslüstern-feuertrunken herumtaumelnde Literaturfreund ewas von ihm
erklären lassen kann, wird er aus der Hölle der Interpretation vertrieben
und in das Paradies des wieder hergestellten Mythos versetzt. War das
Österreich?
Ein
Rundgang durch die Vergangenheit hat wenig Sinn. Ein Rundgang durch die
Gegenwart ist kein Rundgang, sondern ein Stillstand. Ein Rundgang durch die
Zukunft erweist sich als schlecht möglich. Manuskripte zeigen, was morgen
gedruckt wird. Und Graz war übrigens schon mal Europäische Kulturstadt. Was
sonst? Im Stadtpark ein Forum einrichten, das wäre schon was – nur eben
leider nichts Neues.
Immerhin könnte
man im Park Schmetterlingen nachjagen. Und sich in vollen Zügen der
Freundschaft hingeben. So wie Andrea Grill, deren Text "Freunde" 2007
während der Tage der deutschsprachigen Literatur allerdings von der
unbarmherzigen Jury zerfetzt wurde – vor allem weil nicht hinreichend klar
war, worum es darin ging. "Ein endloses Therapiegeschwätz zwischen zwei
Leuten, die sich gegenseitig psychologisieren", so etwa Jurymitglied Iris
Radisch. Man möchte da gleich in Anlehnung an Thomas Bernhards Große
Meister weiter schießen –
solange nur genug Munition vorliegt. Ein endloses Geschwätz. Ist das
Österreich? Oder: Wird es das sein?
Am
besten, man folgt einfach den konsequent fragenden, durchdringend
ernsthaften, ja fast gewissenhaften Blicken, mit denen Wolfgang Hermann um
sich schmeißt. Sie liegen freilich ein paar tausend Kilometer weit
zerstreut. Von Bregenz über Paris Berlin New York bis nach
Tokyo reichen seine Fährten. Hermann verreist nämlich gerne. Und er sieht
oft, was man nicht sieht, etwa die schöne Arbeit des Windes. Oder dass das
Leben anderswo ist. Wenn es um das Sichausschreiben der inwendigen Kleinwelt
geht, ist dieser "japanische" Österreicher wie ein Fisch im Wasser. Und er
schläft in einem Bett aus Papier. Sowas verträgt viel Tinte.
Jetzt einmal
wieder zurück nach Österreich. Und das heißt wohl hier in erster Linie
weiter nach Japan. Leopold Federmair ist wie ein Fisch, der an Land geht. In
Hiroshima nimmt er den Puls seiner eigenen Schrift wie den Puls derjenigen,
die vor ihm da waren; einfach so, auf einmal da, wie unsichtbare Gäste in
einem durchsichtigen Aquarium, den Mund geschlossen, die Hände in den
Hosentaschen seines Mantels gesteckt. Er will sich gelassen geben, scheint
sich aber doch über irgendetwas Sorgen zu machen. Ob ihm womöglich die
Heimat davonsegelt? Ob vielleicht ein bisschen Zucker am Platz sei? Er hat
es auf kleinste Größen abgesehen. Keineswegs etwa als Bemängler aller Kunst,
sondern als Hüter des Je-ne-sais-quoi und des Presque-rien. Als
Verräter des Unbestimmbaren und des Beinahe-Nichts. So Federmair über sich
selbst.
Österreich. Im Land der untergehenden
Tinte gilt die Urteilskraft nach wie vor als Geschmackssache. Es streicht
sich ein jeder aufs Brot, was er will: von Musils Richtbildern, den ewigen
Wahrheiten, die weder ewig noch wahr sind, bis zu Ludwig Lahers x-beliebigen
Wahr-Zeichen. Ließe sich dieses Land in seiner schreibenden Form als
Wirtshausobjekt vorstellen, so würde einem das Wasser im Munde
zusammenlaufen, ohne dass man genau wissen würde, warum.
Eigentlich
sollte es ja nun mit der Parade schmackhafter Bleistift-Österreicher
weitergehen, aber Erwin Riess steht im aufgeknöpften Hemd mit verschränkten
Armen vor der Kamera und hält den Gedankenzug an, der sich gerade auf dem
Salzburger Hauptbahnhof unweit der Literatur und Kritik genannten
Werkstätte für Aufzeichnungen gebildet hat; blickt voller Groll aus Seite 86
der Septemberausgabe (427/428) hervor, über die niedergerutschte Brille
hinweg, direkt auf Elisabeth Reicharts Unsichtbare Fotografin, die
zufälligerweise in unmittelbarerer Nähe (d.h. auf Seite 87) von Helmut
Gollner rezensiert wird, schreibt weiter, hinter ihm das Regal, vor ihm eine
unsichtbare Zukunft, die ihn von ihrem rückblickenden Erwartungshorizont her
fotografiert. Deshalb das Foto auf Seite 86.
"Unglaublich,
was Riess alles weiß". So macht Karl-Markus Gauß auf dessen Neuerscheinung
Herr Groll auf Reisen scharf. Was Riess weiß, ist, dass der Voralberger
Wolfgang Hermann schon 2006 einen Roman mit dem Titel Herr Faustini
verreist publizierte. Im Jahre 2008 folgte dann Herr Faustini und der
Mann im Hund, ein Roman, den Cornelius Hell freilich wohl aus
Versehen in seiner Buchkritik auf Seite 99 (linke Spalte unten)
Herr Faustini und der Mann im Mond
nennt. Und im Inhaltsverzeichnis des 43. Jahrgangs (2008) von Literatur
und Kritik heißt es kurzum Herr Faustini und der Hund im Mann. Wenn
sich Fehler an Fehler reiht, fallen Hund, Mann und Mond
verhängnisvollerweise ineinander. Freud hätte sowas bestimmt nicht liegen
lassen.
Ebenfalls voller
Groll blickt Riess aus Seite 40 der Novemberausgabe (429/430) von Literatur
und Kritik hervor, dieses Mal auf das Dossier Orte der Literatur, in
dem es sich unter anderem natürlich um die Alpen dreht, denn die sind sehr
hoch: bei Albrecht von Haller, der allerdings nicht einmal Österreicher war,
wie etwa beim waschechten Dachstein-Dichter Julian Schutting. Solche Orte
bringen Worte. Anders gesagt, das österreichische Alphabet fängt eben im
Gebirge an. Da gibt es noch (abgesehen von Sylt) die allerbeste Luft des
deutschen Sprachraums und umweltfreundlich frische, schmackhafte Kräuter für
Peterles Ziegen. Klassische wie moderne Mythen stehen auf allen Gipfeln zur
Verfügung. Ein Stereotyp wird geschmiedet, ein Bild aufgenommen, ein
ästhetisches Urteil verabschiedet. Kann man da was machen? Von Anfang an
klar: Österreich schmeckt nach Eigenschaften, die es noch gibt, und nach
solchen, die es noch nicht gibt. Mancher Biss ist es wert.
Anmerkung
(1) "Es gibt
nur wenige unerschrockene Ritter, die sich darin, so wie er, wider
verschiedene Anfechtungen und Verführungen im Denken als gewapnet
erweisen". (Wendelin Schmidt-Dengler. "Die Macht und die Mittel", in:
Die Presse, 24.12.1994)