Eigentlich
hätte es ja Kartonstich heißen sollen – nur, wer führt schon Karton mit
sich, wenn er auf Reisen geht? Papier hingegen? Jederzeit! Im Wiener Café
Griensteidl mangelt es nämlich keineswegs an Zeitungen, Zeitschriften und
Illustrierten, die der Weltbürger ungeniert benutzen kann, um sich ein Bild
von seiner näheren Umgebung (oder eben ein Bild von dieser Welt) zu machen.
Und das Griensteidl ist – mit dem "obligaten" Kleinen Braunen, seinen
gepriesenen Mehlspeisen und anderen ewig-wienerischen Kulturkonstanten –
sozusagen das höchste der Gefühle. An einem sonnigen Nachmittag am
Michaelerplatz in Wien die Weiten der verschollenen k. und k. Schreibweise,
der guten alten demolierten Literatur erkunden: ein bisschen Karl Kraus, ein
bisschen Hermann Bahr, ein bisschen Arthur Schnitzler und Hugo von
Hofmannsthal, ein bisschen Hofburg, ein bisschen Burgtheater, a bisserl
Oberösterreich, a bisserl Schifoan, a Hond voll Paradeiser (die kuman direkt
vom Kaisa), a bisserl ... jo wos? Und ... derf's a
no a bisserl mehr sein? So beginnt unser Porträt, das Porträt eines
Germanisten österreichischen Schlages.
Tatsache: Im
Café Griensteidl wimmelt es nur so von bekannten Persönlichkeiten aus der
literarischen Welt, das weiß jeder in der Vergangenheit lebende Bücherwurm.
Als ich mich aber anno 2012 kurz nach den Iden des März da mal ein bisschen
umschaute, sah ich eine einzige mir bekannte Person: Dr. Günter Schopf of
Schärding, einen gewiegten Germanisten und Deutschlehrer mit Rumänien-Erfahrung,
der sich vor geraumer Zeit in Wien breitgemacht hatte. Groß. Schlank.
Zielsicher. Freundlich. Strenger Blick. Dabei doch sehr offen, muss man
schon sagen.
Servus.
Mein Wiener Germanist war pünktlich – stimmt, eine überflüssige Angabe, denn
dieser Germanist, der nun schon seit gut zehn Jahren als Lehrbeauftragter
der Universität Wien u.a. vor allem auch in Sachen Translationswissenschaft
durch den neuen multi-wie-auch-immer Raum, durch
den resonanzstarken Sprachraum, ja durch einen gesamteuropäischen Traum
ungehemmter Kommunikationsprozesse spaziert, wandelt, geistert, ist immer
pünktlich. Habe
die Ehre. Ich saß dem Mann entgegen, der in den frühen Neunzigern als
Inhaber des Amtes eines österreichischen Gastlektors vom Kaiser und König
höchstpersönlich mit der nagelneuen Austria-Bibliothek in Bukarest belehnt
worden war.
Jetzt, da ich in
Kanada lebe, komme ich ihm andauernd zu spät.
Seine Stimme ertönt mir noch wie ein sanfter,
gewissermaßen gutmütig verösterreicherter, aufblitzender Donner im Ohr:
"Du musst bedenken, ich bin dir immer ein paar Stunden voraus. Du kannst
laufen, rennen, stürmen und sogar dahinfegen, das ist nicht aufzuholen." Na
ja, sechs Stunden Vorspung. Stimmt, nicht einmal Wildtöter
(oder wollen wir ihn gleich Falkenauge
nennen?) könnte das
wettmachen. Unsereiner, das Rudel der kanadischen Übersetzer, schläft noch,
wenn in Wien nach all der vorzüglichen Translationswissenschaft des
Vormittags bereits eine zweite üppige Mahlzeit auf ihre Kosten kommt.
Und
ich mach mal schnell a Buckerl, teils nur so, zum Spaß, und teils, oh well,
teils halt vorsichtshalber, man kann ja nie wissen, sagen wir mal zum
Abschied, just in case, denn jedes Ankommen, jedes Willkommen ist, wie uns
der Dichter lehrt, zugleich ein Abschied, und mein aus dem Geiste der
Translation wundersam erkorener Freund, der mit allen Wassern der
Donauländer gewaschene Wiener Germanist oberösterreichischen Schlages, ist
eben mal selbst unter Heranziehung modernster Translationsmaschinen bei
bestem Willen nicht einzuholen – und zu Fuß schon gar nicht. Bevor ich
richtig Gulasch sagen kann, ist er schon in Budapest und isst mir den
Gulasch weg. So beweglich darf ein Übersetzer-Guru sein.
Dieser
donaukundige Sprachwissenschaftler saust gerne auch mal dem Ursprung der
Sprache nach, fast noch besonnener als Herder, und hackt dabei ungeniert und
ohne mit der Wimper zu zucken (wie der berühmte Grieche Alex) das Teil vom
Urteil ab, wenn's mal zu philosophisch wird. Der Nibelungendichter könnte
seine Uhr nach ihm stellen (wenn er denn bloß eine hätte) – und erst recht
der postmoderne Uhrenmacher Salvador Dalí, bei dem nicht nur die Zeit
verfließt, sondern auch die Zeiger. Außerdem sind
Wiener von alters her große Frühaufsteher – und berüchtigte
Frühstückspersonen. Ach ja, und Kaffeetrinker. Und Raucher? Das war früher.
Das ist heute aber gar nicht mehr so gesund.
Also sagen wir mal: Nichtraucher.
Ich
merke schon, dieser Kartonstich beflügelt mich, ich will das Großartige auf
Papier bringen, im Netz festhalten, in höheren Gefilden verwalten, um wie
zufällig auch mal das Artige von österreichischer, von deutscher Art und
Kunst zu entfalten. Unsere Germanistik spielt sich dabei wohlgemerkt hier
und jetzt ab, nicht im schönen schwäbischen Stuttgart des Sturm und Drang
und auch nicht im alten, 1897 abgerissenen Griensteidl, das übrigens auch
Café Größenwahn genannt wurde. Und unser Germanist ist ein entsprechend
wackerer Zeitgenosse, der die Zeit, unsere Zeit, aus vollen Touren genießt,
einer, der sich gerne auch an die stilleren, an die sanfteren Gesetze hält
und den Krug demzufolge am liebsten in zeitgenössischen Zügen
entleert. Deswegen das neue Griensteidl (und das alte gleichsam im Ohr,
damit es uns Licht spendet).
Günter Schopf
heute. Zentrum für Translationswissenschaft. Universität Wien. "Da' sigur că
da." Ergo: Er kann immer noch wenigstens ein bisschen Rumänisch. Aber
natürlich. Rumänien ist er nie so richtig losgeworden.
Mal näher
hinschauen: Ist das der Mann, der damals nur mit
seinen siebentausend Büchern und seinem österreichischen Akzent bewaffnet
auf seinem mittelalterlichen Streitross und mit seinem mittelhochdeutschen
Wortschatz im Handumdrehen Bukarest, die famose Stadt im Zentrum der
Walachischen Tiefebene, stürmte? Ein bisschen vergilbt wirken sie schon,
meine ersten Schopf-Erinnerungen. Ich kann mich aber noch gut darauf
besinnen, wie ich in den frühen Neunzigern in meiner doppelten Eigenschaft
als Hungerleider und Student oft in der Bukarester Österreich-Bibliothek
herumlungerte (dabei auch mal an den frischen Büchern schnupperte) und
intensiv darüber grübelte, wie wohl Besitz und Bildung an den Mann kommen
mögen, an den Menschen, den Textmenschen. Der "amtierende" österreichische
Gastlektor (heute auch als "der Mann im Griensteidl" bekannt) legte mir ein
Buch von Alfred Kolleritsch in die Hand. Die grüne Seite. Hier mein
komprimierter Bericht dazu: alles brav gelesen und dann später einen Auszug
daraus für die rumänische Kulturzeitschrift Secolul XX übersetzt. So
funktioniert ein Austauschdienst – auch im Winter, wenn es schneit.
Kartonstich
in der Nähe des Heldenplatzes: Wie macht man das? In kurzen Zügen mal
schnell die Umrisse eines Menschen wiedergeben, das braucht freilich einen
tüchtigen Anlauf, einen scharfen Blick, eine sichere Hand und – warum nicht?
– einen kräftigen Handschlag. Wollen wir also lieber beim Schloss Belvedere
anfangen, wo sich naturgemäß (ja, jetzt schleicht sich
schon wieder a bisserl Thomas Bernhard ein) der Laufsteg des
Germanisten Günter Schopf befindet; oder jedenfalls wird das behauptet.
Klatsch? Das Rückgrat der Germanistik. Dort beginnt unser Porträt.
Ein Meister der
zweiten Lautverschiebung, mehr, einer, der im Oberdeutschen so sehr zu Hause
ist, dass er das Griensteidl schon allein deswegen braucht, weil er kein
richtiges grün hinkriegt ("Stimmt net, natürlich krieg i a richt'ges grien
hin", meine ich ihn schon sagen zu hören – doch es ist nur der Wind). Einer,
der stets gerne mit dabei ist, wenn die deutsche, wenn die deutschsprachige
Literatur die Donau runterfließt, einer, der auch immer hundertprozentig
hilfreich gleich einen Vierzeiler zur Hand hat, wenn der Student, der
Kontrahent, der vriunt (aus dem sich dann später noch der Freund entwickelt)
mal nicht so recht weiß, "waz sider da geschach".
Dass Günter Schopf irgendwann in den guten Neunzigern über das Thema Fest
und Geschenk in mittelhochdeutscher Epik promovierte, versteht sich von
selbst. Als österreichischer Buchstabenwärter in rumänischen Gefilden hat er
jedenfalls so durch und durch im Nahkampf mit der mittelhochdeutschen
Vergangenheit seinen Mann gestanden.
Zufälligerweise
sollte im Juli 2012, ein paar Monate nach dem historischen
Griensteidl-Treff, ein – selbstverständlich in angemessener weiblicher
Begleitung auftretender – grüngefärbter Mann im Garten des Schlosses
Belvedere, in unmittelbarer Nähe des Laufstegs, auf dem wir beide, der
ehemalige Student und der ehemalige Gastlektor, wenige Monate vorher einen
gemeinsamen "Einblick in den österreichischen Zusammenhang" gewagt hatten,
rund um den Begriff "bewegte Skulptur" tanzen (mehr dazu auf
derstandard.at). Na wenn des net grien
genuag is!
Um es auf den Punkt zu bringen: Der Mann im Griensteidl hat 1897 wegen
seiner "Abrechnung mit der demolirten Literatur der Caféhausliteraten des
Jung-Wien" von dem österreichisch-ungarischen Schriftsteller Felix Salten
eine stattliche Ohrfeige verabreicht bekommen. Jener hieß Karl Kraus.
Hundertfünfzehn Jahre später? Dem Mann im Griensteidl werden von seinem
ehemaligen Studenten die Leviten gelesen (dieser heißt nicht Kraus) – oder
ist das umgekehrt? Nur die Zeit kann diese Frage beantworten, die Zeit und
die Germanistik. Und Germanistik, das ist ja vor allem ... jo…
Jo brauch ma dn
... wollte sagen: Mein Kartonstich ist fast fertig; nun gut, es ist bis
zuletzt doch noch ein Kartonstich geworden. Das ist anständiger als ein
Papierstich, das ist gutes Deutsch. Das passt so durch und durch; kann man
auch pressen, wenn man will. Und schlägt man ihn etwa als eine Art
Kultur-Steckbrief an die Tür, dann blicken die besseren Zehntausend der
Donaugermanistik in ein vertrautes Gesicht.
Ein
Denkmal zu Ehren des fleißigsten Österreichers in Rumänien errichten? Hab
schon daran gedacht, dazu reicht aber der Marmor nicht. Doch mal kurz das
Profil eines Wiener Kulturmenschen (und Deutschlehrers) ausschneiden, der
sich auch in Bukarest die Füße zertreten hat und an dessen Gemüt immer noch
ein Haufen rumänisches Deutschtum klebt? Das kriegen wir mit einem tüchtigen
Stück Zeitungspapier hin. Und – wie gesagt – mit Germanistik. Denn die
leisetreterische Kraft und die Macht der Wissenschaft ...
Aber mir woin ja
net gleich an Schmäh machen – wobei die dem Autor dieser erbaulichen Zeilen
zur Verösterreicherung eines freilich auch ohne bereits a bisserl an einem
Übermaß an Gemütlichkeit (ja fast will einer da auch gleich sagen: an
Freizügigkeit) leidenden Diskurses rund um die deutsche Sprache und ihr
anhand eines Wiener Germanisten kristallisierendes Verständigungs- bzw.
Translationsvermögens zur Verfügung stehende Hintergrundinformation nur
allzuleicht in der Tat zu einem Schmäh einlädt. Wollen wir also vielleich
doch? ...
Nein,
begnügen wir uns ausnahmsweise mit diesem sauberen Kartonstich. Und
ziehen wir ganz einfach noch einmal den Hut. Servus, meine ich, der
erinnerungsreiche Kartonstichzauberer, eine vertraute Stimme aus meinem
immerhin leidlichen Papierknäuel mit beschränkter Haftung heraus zu
vernehmen. Und ich antworte mit einem Anflug von einschlägiger
G‘schichtlichkeit: G'schamsta Diener. |