"Das Theater kann
nichts an der Gesellschaft ändern, doch in einem
selbst kann es etwas ändern. Es kann einen persönlichen,
individuellen Aufruhr auslösen". (Andrei Şerban)
Nachdem
er Rumänien 1971 auf Ellen Stewarts Einladung zur Mitarbeit im New-Yorker
Theater LaMaMa verlassen hatte, kehrte der rumänisch-amerikanische Regisseur
Andrei Şerban im Jahre 1990, unmittelbar im Anschluss an die Revolution,
nach Bukarest als Direktor des Nationaltheaters zurück, um hier noch im
selben Jahr seine berühmte Inszenierung der Antiken Trilogie
auf die Bühne zu bringen. Diese hatte
ihm in den USA in den 70ern den Status eines der erfindungsreichsten
Künstler der Zeit eingebracht. Allerdings: Infolge einer Auseinandersetzung
mit dem Team des Theaters verließ Şerban 1993 zum zweiten Mal Rumänien.
Seine Rückkehr
im Jahre 2006 entpuppte sich
–
auch angesichts des 2005 kläglich gescheiterten Versuchs der
Wiedereingliederung in die rumänische Theaterszene mit einer Art
Sommerakademie "Andrei Şerban"
–
als höchst ersehntes Ereignis, besonders weil der Text, den Şerban diesmal
ausgewählt hatte, eine Überraschung darstellte: Bekannt für seine
Inszenierungen der Klassiker, verblüffte der Regisseur diesmal durch seine
Wahl des Stücks
Gesäubert/Cleansed der umstrittenen Autorin Sarah Kane. Das Theater in
Klausenburg/Cluj, das Gesäubert
produzieren sollte, war ein weiteres rumänisches Schauspielhaus, das sich
sehen lassen konnte. Fast parallel zur Arbeit an dieser Inszenierung waren
auch die Proben für eine Neuinszenierung von Tschechows Die Möwe
–
ein Stück, für das Şerban früher schon zwei Mal Regie geführt hatte
–,
am Theater in Hermannstadt/Sibiu im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt
2007 programmiert. Für die Besetzungen der beiden Stücke wurden mehrere
Probenserien angesetzt, zuerst in Bukarest, dann in Klausenburg und
Hermannstadt. Ein paar Rollen waren schon vorher vergeben – Arkadina für
Maia Morgenstern, mit der Şerban schon in den 90er Jahren u.a. an den
Stücken Die Antike Trilogie, Casting in Kursk, Der
Kirschgarten gearbeitet hatte, Trigorin für Mircea Rusu, mit dem Şerban
gleich nach der Wende zusammengearbeitet hatte, usw. Es handelte sich
meistens um Schauspieler, die dem Regisseur von Vertrauenspersonen und
Kennern der gegenwärtigen rumänischen Theaterszene empfohlen worden waren.
Beim Casting in Bukarest sollten zwei Schauspielerinnen deutlich
herausragen: Andreea Bibiri (Grace in Gesäubert und Nina in Die
Möwe) und Dorina Chiriac, mit der Şerban 2008 für seine ausschließlich
feminin besetzte Inszenierung des König Lear am Bukarester Bulandra
Theater
zusammenarbeitete: zwei junge, fragil aussehende Schauspielerinnen, die
damals beides junge Mütter und deshalb neuen Projekten gegenüber selektiv
eingestellt waren. Doch beide sind auch für ihr
vielfältiges Talent und die weite Bandbreite der Rollen, die sie darbieten
können, bekannt und sie zeigten sich
interessiert, mit Andrei Şerban zu arbeiten.
In
Klausenburg sollte Bibiri (als Grace) mit den jungen Schauspielern des
Nationaltheaters arbeiten. So etwa mit Cristian Grosu (der damals gerade
seinen Studienabschluss machte) in der Rolle des toten Bruders. Grace hofft,
sich mit ihm im Zuge ihrer Seelenwanderung zu identifizieren. Des weiteren
auch mit Ionuţ Caras und Adrian Cucu. Beide stellen ein homosexuelles Paar
dar, das gezwungen ist, sein Liebeskonzept zu verhandeln. Oder mit Ramona
Dumitrean als Peep-Show-Prostituierter, die nicht weiß, was Liebe
bedeutet; aber auch mit einem debütierenden Schauspielstudenten in der Rolle
des verrückten Adoleszenten, für den Grace die mütterlich-inzestuöse Liebe
darstellt, sowie zusammen mit dem Schauspieler des Staatlichen Ungarischen
Theaters in Klausenburg, András Hatházi, einem zurückhaltenden jedoch
kräftigen Darsteller für die Rolle des Tinker, der dem boshaften "Hirn" des
konzentrischen Raums der seelischen Experimente vorbehalten ist.
Die Proben
sollten sich nicht einfach gestalten! Es scheint, als ob Şerban seine
Akteure auf drehende Sockel stellen und sie vor dem Hinergrund einer
unendlichen Anordnung von geraden und im nächsten Moment wieder stark
verzerrten Spiegeln bewegen würde. Die Schauspieler müssen wählen: Welche
der Bilder, die man ihnen zeigt, stellen sie selbst dar? Welche davon sind –
und in welchem Ausmaß – "wahr", "gerechte Darstellungen", wie Şerban sie
nennen würde? Die letzten Spiegel schließlich sind die Zuschauer:
Meist ein paar Wochen vor der
Premiere organisiert Şerban immer
Proben mit Publikum, die kostenlos besucht werden können und während derer
der Regisseur direkt eingreift, die Vorstellung anhält, Anweisungen gibt und
Szenen wiederholen lässt. Dies ist gleichzeitig ein Test, den die Darsteller
bestehen müssen: "Fremden" Zugang zu ihrem eigenen Gestaltungsprozess zu
gewähren. "Diejenigen, welche die Kathedrale in Chartres gebaut haben, waren
keine Künstler, sie waren Handwerker, anonyme craftsmen, das sind die
wahren Meister. Künstler ist eine anspruchsvolle Bezeichnung, die ich
für mich nicht beanspruche", meint der Regisseur und verlangt von seinen
Darstellern, dass sie mit Professionalität akzeptieren, Handwerker der Bühne
zu sein.
Was
folgt, sind unüberarbeitete, stichwortartige Probenmitschriften der ersten
Proben zum Text der Sarah Kane, an einem ziemlich kühlen
Sommeranfang:
6. Juni 2006. Zuerst
eine Textfolge, dann Arbeit auf der Bühne (im Probesaal des
Nationaltheaters in Klausenburg, dem Saal Caragiale):
Die
Aufwärmübungen sind abgeschlossen. Im Kreis, Hände haltend, stehen die
Schauspieler und sprechen das indische Mantra, auf das Şerban so sehr
besteht, und werden mit Energie aufgeladen. Die erste Szene: das Treffen
zwischen Graham (Cristian Grosu) und Tinker (András Hatházi), dem
Drogensüchtigen, der eine Überdosis verlangt, weil er sterben will.
Feuerhypnose (für Graham). Es ist keine Einwegnadel, sie muss
sterilisiert werden. Die Gegenstände werden auf rituelle Weise
vorgezeigt: ein ovaler Badezimmerspiegel, eine Metalldose für Spritzen,
eine Plastikspritze, ein Messer, die Zitrone, ein Löffel und eine
Porzellantasse. Probenrequisite.
"Ich will
nicht wissen, woher du kommst," sagt Andrei zu ihnen. "Hab‘ ich euch
gesagt, dass es Feuer geben wird? " So werden Drogen aufbereitet.
Tödliche
Stille. Das Geräusch der geschnittenen Zitrone. Die phlegmatische
peinlich genaue Art des Hatházi, mit den Gegenständen zu hantieren. "Sei
nicht sehr schnell, der Entschluss ist gefallen, kannst dir Zeit
lassen", insistiert Şerban. Zwischen den beiden Schauspielern entwickelt
sich die Spannung des Fanatischen, der Schauder einer Entscheidung, die
nicht mehr zu ändern ist. Nicht Tinker, sondern Graham ist der
Mächtigere, weil er der ist, der weiß, was er will. Rückwärtszählung
(der tödliche Effekt der Droge): die Stimme Hatházis ist kalt, wie die
eines echten Arztes.
"Dein Kopf
fühlt sich leicht an." Alles muss innerlich gelebt werden, nichts soll
dem Publikum erklärt werden. Şerban scheint die ganze Zeit über das
visuelle Konstrukt der gesamten Vorstellung im Kopf zu tragen.
Die erste
Szene zwischen Carl (Ionuţ Caras) und Rod (Adrian Cucu), den beiden
homosexuellen Verliebten. Das Moment scheint auf den ersten Blick/bei
der ersten Probe eine melodramatische Atmosphäre zu haben, es ist ein
Sinnesspiel: der Ring, den Carl Rod als Zeichen der ganzheitlichen
Vereinigung schenkt, verwandelt sich in eine Suche nach dem emotionalen
Begriff des Ringes/Eheringes, wobei das Wort an sich in den Vordergrund
treten soll. "Spiele nicht das, was du sagst", verlangt Andrei. Es
braucht etwas mehr Ungeduld, etwas mehr Manipulation. Das Hauptproblem
ist, dass sowohl Caras als auch Cucu ein Problem mit dem Thema
Homosexualität zu haben scheinen, so dass sie eine Parodie der
homosexuellen Person darbieten. Die Schauspieler distanzieren sich
dadurch von der szenischen Situation.
Die
Schlüsselrepliken des Dialogs ("würdest du für mich sterben?" – "Ja")
klingen gleichzeitig irgendwie peinlich und ergreifend. Andrei trinkt
Unmengen von heißem Tee, denn im Saal Caragiale herrscht eine
schreckliche Kälte.
7. Juni. Wieder im Saal
Caragiale. Die Szene des Händeabhackens (an Carl):
An Hatházi:
"Du bist ein Rattenfreund. Du weißt, dass sie diese Delikatesse schätzen
werden."
An Caras: "Du
siehst seine Axt, du fürchtest dich sehr, hast Angst, du weichst
zurück." Andrei steht auf und spielt selber vor.
Estera
(technische Regie) bringt ein Beil – die Klinge muss versteckt werden,
keiner soll sie sehen. (Bei der Vorstellung sollte aus dem Beil eine
Kettensäge werden, die wegen ihrer Größe und ihren Stromkabeln unmöglich
versteckt werden konnte).
Der
Schauspieler hantiert alleine mit gefährlichem Werkzeug. "In Amerika
kann man so was nicht machen, jeder technische Mitarbeiter würde
streiken. Wahr ist aber auch, dass sie auch immer da sind, wo es
notwendig ist".
"Aaaaaalleeee
steeeeerben" (die im Chor gesprochene Replik während der szenischen
Zerfleischung des Gay-Paares) klingt wie das Miauen einer ohnmächtigen
Katze.
Der
Krankenhauskittel des Tinker – ist es der Kittel eines Arztes oder eines
Patienten?
Andrei hat
schon entschieden, dass das Beil schließlich eine Kettensäge sein wird,
und fragt danach. Hatházi benutzt vorerst die Axt als Mikrophon. "Tu’
das irgendwie stilisierter, ritualisch, wie im Traum."
Die Mauer
(eine echte Kachelwand, die so schwer war, dass sämtliches Hängesystem
des Theaters erneuert werden musste) schließt sich, die Falltür erhebt
sich für die Szene des Peepshows; jetzt ist es ein Holzkäfig, bei der
Vorstellung wird es ein Käfig aus Plexiglas sein. Jedes Erscheinen des
Peepshow-Moments muss mit dem Geräusch einer fallenden Münze anfangen
(provisorisch wird eine Münze in einen Metallkübel geworfen). Hatházi:
"Da lag ein Feuerzeug im Kübel, als ich die Münze hineinwarf. Jetzt ist
es gebrochen und es riecht nach Gas".
Die Bonbon-Szene –
Tinker-Robin
Ein
naturalistisches Moment, Silvius schluckt jedes Bonbon, und das braucht
Zeit. Tinker schmeißt acht Schokoladenbonbons auf den Boden, die letzten
vier stopft er Robin mit Gewalt in den Mund, und dieser übergibt sich
über seinen Kittel. (Es handelt sich hier um eines der naturalistischen
Elemente der Vorstellung, die Şerban immer wieder geneigt ist
einzusetzen: Es sollten noch aus Schwamm gebastelte Ratten mit blutigen
Augen erscheinen, die durch ein System von kleinen elektrischen Autos
bewegt werden, weiters sollte es Kunstgras und -blumen, Urin und Blut
auf der Bühne geben).
Was
für einen Terror übt Tinker über Robin aus? Die Antwort ist einfach, es ist
die gleiche Art der Faszination, die Şerban selber auf die Schauspieler, die
seiner persönlichen "Diktatur" ausgesetzt sind, ausübt. Er betreibt die
Arbeit bis zur Erschöpfung. Denn wenn dem Verstand die Kraft fehlt, sich
bewusst zu widersetzen, dominiert der theatralische Instinkt, die
Kreativität in ihrer Urform, das szenische Verhalten.
Şerban
liebt den Widerspruch und das Paradoxe, er glaubt an den wunderbaren
Charakter des Zufalls, und wenig von dem, was in den ersten Probetagen
skizziert wird überlebt die letzte Probewoche vor der Premiere. Es gibt
zahllose Beispiele. In Die Möwe, der fast parallel zu Gesäubert
entstandenen Vorstellung, waren die Federn, die an den Dekorwänden montiert
waren, eine späte Idee des Bühnenbildners Andu Dumitrescu und erschienen ein
paar Tage vor den Proben vor Publikum.
Bis kurz vor dem
Abschluss der Proben hatte der Vorhang im Bühnenhintergrund (in der
Arbeitsphase durch ein weißes Tuch
dargestellt, das von einer Stange
hing) in einer Ecke eine Möwe gezeigt, und ursprünglich sollte auch der
Tisch im dritten Akt aufgemalte Möwen zeigen ("Die Probe" wurde mit einer
Schablone des Bühnenbildners auf einem Tisch in der Theaterwerkstatt
gemacht). Doch Şerban hat alles im letzten Moment verworfen. "Die Möbel"
dieses dritten Aktes wurden nicht speziell für diese Vorstellung entworfen:
Die beiden extrem durchgesessenen Sessel, die von Anfang an auch bei den
Proben benutzt worden waren, wurden für Trigorin und Arkadina aus dem
improvisierten Raucherraum des Theaters gebracht, während der lange Tisch
aus einer anderen Produktion stammt, dem Stück Das Haus an der Grenze
von Slawomir Mrozek, das von einem anderen in Rumänien sehr geschätzten
Theatermenschen, dem Regisseur Gábor Tompa, inszeniert worden war. In
Gesäubert blieben die Ziffern ("30x7x52" – die Jahre, Wochentage und
Wochenanzahl, die er zwischen den Mauern des Gefängnishospizes noch zu leben
hatte), die der junge Robin an der Kachelwand (die den Waschraum einer
Pseudo-Universität darstellte) fast bis zu den Proben mit Publikum als
solche erhalten. Bis Şerban auf einmal beschloss, das Endergebnis (10.920)
zu notieren und den Moment erklären zu lassen.
Şerban
steigt auf die Bühne und interpretiert selbst die bewegten Repliken, was auf
seine Art an ein Relikt des Schauspielers
anmutet, der Şerban hätte sein können
–
wenn er nicht auf Empfehlung des Professors Radu Penciulescu die
Schauspielerei nach zwei Studienjahren aufgegeben hätte, um Regie zu machen.
Indem er "vorzeigt", gibt der Regisseur keine Anweisungen, sondern
provoziert den Schauspieler zu einem dialektischen Verhältnis; das, was er
vom Schauspieler erwartet, ist keine Nachahmung von Betonung und Bewegung,
sondern eine Übernahme mit anschließender eigener Überarbeitung. Eine
Theatervorstellung ist ein lebendiger Organismus, ein immerwährender
Prozess, und der Schauspieler soll sich nie auf den Komfort der schon
beherrschten und ad nauseam
wiedergegebenen Sache verlassen können. Die Angst vor dem Neuen, die Angst
vor dem, was er nicht beherrscht – das ist es, was in einem Schauspieler
getötet werden muss.
Nach fünf
Nominierungen und zwei Auszeichnungen (für die Beste Schauspielerin in einer
Hauptrolle – Andreea Bibiri – und Bestes Debüt – Cristian Grosu) und nach
einem Jahr Vorstellung am Nationaltheater wieder zurück in Klausenburg,
nimmt Şerban von Neuem die Proben zu Gesäubert auf, ändert den
Spielrhythmus und die Abfolge der szenischen Situationen, so dass die
Vorstellung um mehr als eine halbe Stunde gekürzt wird. Morgen könnte etwas
anderes passieren.
Übersetzung aus dem Rumänischen mit
freundlicher Unterstützung von

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