Wer
sich von mir schöne Theorien zur Science Fiction erwartet, wird leider
enttäuscht werden; ich möchte hier nur einige einfache und – vielleicht in
doppelter Bedeutung – lose Worte zu unserem Thema von mir geben, wie ich die
Entwicklung des Genres in den letzten Jahren sehe. Ich werde also ein
bisschen den Advocatus Diaboli spielen und auch einige unschöne Dinge über
die SF verlauten lassen. Es gibt natürlich welche, die es für unfein, wenn
nicht gar für unanständig halten, wenn man vor einem Publikum, das doch nur
zum geringen Teil aus Anhängern und Eingeweihten der Sache besteht, gegen
die Sache spricht, in der man schließlich – als Herausgeber und Rezensent –
tätig ist, aber wie auch immer.
Es lässt sich nun einmal
beim besten Willen nicht verbergen, dass die Art von Literatur, von der hier
die Rede sein soll, zum überwiegenden Teil von schlechter Qualität ist, und
dass, was noch schlimmer ist, auch wenig Aussicht auf Besserung besteht. Ich
meine sogar, in den letzten Jahren ist die Lage noch wesentlich schlimmer
geworden. Angesichts dieser Situation gibt es, mangels verlässlicher Führer,
keine andere Methode, als sich durch die Massen von Taschenbüchern, die den
Markt noch immer verstopfen, durchzubeißen, um jene seltenen Werke
herauszusuchen, die eine nähere Beschäftigung lohnen und die die Ehre der
Gattung retten können. Denn sie Science Fiction besteht aus den
disparatesten Werken, die nur durch die weite, unscharfe und zuweilen
irreführende Klammer zusammengehalten werden, dass die Verlage sie zumeist
unter dem Namen "SF" anbieten und die Leser sie als solche konsumieren.
Diese Etikettierung ist natürlich nicht unveränderlich; es gibt auch
benachbarte Genres mit fließenden Grenzen wie Fantasy und Horror, und je
nachdem, was gerade populärer ist oder was irgendein Verlagsmensch für
populärer hält, werden ein- und dieselben Werke einmal als SF, dann wieder
als Fantasy oder Phantastische Literatur angeboten.
Dass nicht alles, was als
SF firmiert, gut ist, wird sogar von den begeistertsten Anhängern
eingestanden; zugleich aber wird oft das Vorhandensein dieser weniger
gelungenen Formen entschuldigt. Die schlechte SF, bekommt man oft zu hören,
erfülle zumindest die Aufgabe, sehr junge Leser, deren Geschmack noch
ungefestigt ist, zur SF heranzuführen. Später würden sich diese Leser dann,
so die Theorie, der besseren SF zuwenden. Ähnliche Erwartungen hegte man im
Zuge der SF-Filmwelle, als Massen von Zusehern in Filme wie Star Wars
und E. T. strömten oder sich TV-Serien wie Raumschiff Enterprise
ansahen. Nicht wenige erhofften sich davon auch neue Leser für die SF, ein
Ansteigen der Verkaufszahlen.
Alle diese Hoffnungen
erwiesen sich, zumindest im deutschen Sprachraum, als trügerisch. Leider hat
sich die Leserzahl der SF in den letzten Jahren schwerlich vermehrt, es hat
zeitweise nur einen enormen Ausstoß an neuen Titeln gegeben, die sich den
insgesamt eher schrumpfenden Markt teilen mussten, sodass die
durchschnittlichen Absatzzahlen der einzelnen Bücher im Gegenteil stark
zurückgegangen sind. Das Filmpublikum griff allenfalls zu den Filmbüchern,
die reißenden Absatz finden, jedenfalls unter sehr jungen Lesern, aber
offenkundig fühlen sich diese nicht bemüßigt, auch zu anderer SF zu greifen.
Auch eine allmähliche
Hinführung zur gehobeneren SF fand nicht statt; es gilt im Gegenteil eher
die Regel, dass jede anspruchsvolle Schreibweise die Autoren vielmehr zu
kleinen Auflagen verurteilt. Anders als beim Krimi, wo AutorInnen wie
Georges Simenon, Patricia Highsmith, Ruth Rendell und eine erkleckliche Zahl
anderer durchaus kritische Anerkennung finden, die sich mit hohen
Absatzziffern paart, sind die wirklich erfolgreichen und berühmten
angloamerikanischen SF-Autoren wie Isaac Asimov, Robert A. Heinlein oder
Arthur C. Clarke mit einem vergleichsweise bescheidenen Schreibtalent
ausgestattet, zuweilen sogar mit einer eklatanten Unbegabung für das
Schreiben.
Will man wirklich
interessante SF-Bücher lesen, so muss man zu wenig bis kaum bekannten
Autoren wie Philip K. Dick, Cordwainer Smith, J. G. Ballard, Thomas M. Disch
oder Walter M. Miller greifen. Die einzige Ausnahme ist hier Stanislaw Lem,
der zumindest im deutschen Sprachraum breite Anerkennung und hohe Auflagen
erreicht hat; im englischen Sprachraum ist es bei der kritischen Anerkennung
geblieben. Aber hier wie dort sind seine Leser kaum unter den typischen
SF-Lesern zu finden, die sich zuweilen wundern, was Kritiker eigentlich an
Lem finden, ihn allenfalls als einen unter vielen gelten lassen wollen. Lems
Leser rekrutieren sich meiner Meinung nach vor allem aus jenem
Personenkreis, der zwar gerne SF und ihre Themen lesen würde, sofern sie gut
dargestellt sind, denen aber die meisten SF-Produkte in der Ausführung zu
blöd sind.
Heute hat man das Gefühl,
dass die SF mit dem kommerziellen Erfolg, den manche Werke im
angloamerikanischen Sprachraum unzweifelhaft haben (und machen wir uns
nichts vor: die USA schreiben die Entwicklung vor; was dort ein Erfolg ist,
ist es meistens, mit vielleicht einiger zeitlicher Verzögerung, bald auch
anderswo) – einige sogar überreichlich –, zunehmend weniger risikofreudig
geworden ist. Man hört immer wieder, neben den Jubelmeldungen über neue
Vertragsabschlüsse, die sich zuweilen in Millionenhöhe bewegen, von anderen
Autoren, vor allem britischen, die zunehmend Schwierigkeiten haben, in
Amerika überhaupt einen Verleger zu finden.
Die SF war schon immer
eine Gattung, in der es besonders viele Reihen, Fortsetzungsromane,
Serienwerke und auch das Zusammenwirken von Autoren gab Häufig wird dies
damit gerechtfertigt, dass sich die SF eben mit der Ausmalung anderer Welten
befasse, dass es sehr schwierig sei, sich bei jeder Geschichte eine komplett
andere, vollständige Welt auszudenken, und dass es daher Verschwendung wäre,
eine einmal geschaffene Welt nur einmal zu benutzen. Gerade in den letzten
Jahren, seit die SF von einem Mauerblümchen im Verlagswesen zu einem
kaufmännisch interessanten Marktsegment geworden ist, nimmt diese Neigung
aber überhand. Nicht nur, dass Autoren Fortsetzungen zu ihren eigenen
Geschichten schreiben, was oft einen ganzen Rattenschwanz nach sich zieht,
"leasen" oder "vermieten" sie anderen Autoren und Kollegen diese Welten. Mit
ihrem Talent, prägnante Begriffe zu finden, hat sich bei den Amerikanern
dafür die Bezeichnung "sharecropping" eingebürgert. Das ist nichts anderes
als ein System, bei dem zumeist alte, berühmte, erfolgreiche Autoren mit
einem hohen Marktwert ihre Weidegründe an jüngere, nicht ganz so
erfolgreiche Autoren sozusagen verpachten, die sie dann bestellen. Der
Latifundienbesitzer oder Padrone überlässt sein geistiges Eigentum, die von
ihm ausgedachte Welt, anderen Autoren zur Nutzung, die sie übernehmen und
weiterführen.
So erweitert Robert
Silverberg, keineswegs einer der erfolglosesten Autoren, drei
Kurzgeschichten Asimovs, darunter "Nightfall", zu kompletten Romanen; Asimov
überprüft dann nur, gegen geschätzte 50 Prozent Honoraranteil, die
Silverbergschen Werke auf ihre "wissenschaftliche Richtigkeit". Gregory
Benford, immerhin ein wohlbestallter Physikprofessor, schreibt für 300.000
Dollar Vorschuss eine Fortsetzung zu Arthur C. Clarkes altem Roman
Against the Fall of Night, den dieser selbst schon vor Jahrzehnten zu
The City and the Stars umgearbeitet hat. Arthur C. Clarke selbst
schreibt, für Millionenhonorare, mit einem NASA-Ingenieur namens Gentry Lee
eine Anzahl von Romanen, darunter zwei Fortsetzungen zu Rendezvous with
Rama. Vermutlich werden die Bücher von Gentry Lee, einem sehr mäßigen
Schriftsteller, der als eigenständiger Autor höchstens ein paar tausend
Dollar pro Buch bekäme, allein verfasst. Auf einer finanziell weniger
tragfähigen Ebene gibt es alle möglichen Fantasy- und SF-Reihen "in der Welt
von ...". man braucht nur die Namen einzusetzen: Marion Zimmer Bradley, C.
J. Cherryh, Piers Anthony, usw.
Am erfolgreichsten sind
natürlich die Romane, die im Gefolge von Fernseh- und Filmserien geschrieben
werden, vor allem die inzwischen kaum mehr übersehbaren Bücher um das
Raumschiff Enterprise. Die US-amerikanischen Autoren würden es nicht
gerne zugeben, aber sie tun nichts anderes, als was die erfolgreiche
deutsche Heftserie Perry Rhodan schon vor Jahrzehnten vorexerziert
hat: dass Teams von Autoren an einer gemeinsamen literarischen Welt werkeln.
Das Prinzip, das hier wirksam ist, ist natürlich allein das der
Profitmaximierung, und das Einzige, was an diesen Werken wirklich
interessant ist, sind die Summen, die Verlage dafür auf den Tisch zu
blättern bereit sind (anders als bei uns kassieren dort die Autoren zuerst
das Geld und beginnen dann erst mit der Arbeit).
Es entbehrt nicht einer
gewissen Ironie, dass der französische Autor Michel Butor vor vielen Jahren
einen damals von einigen SF-Autoren entrüstet abgelehnten Aufsatz schrieb,
in dem er unter anderen vorschlug, die Autoren möchten sich zusammentun, um
an einer gemeinsamen Vision der Zukunft zu arbeiten. Damals betonten die
Autoren ihre Individualität, dass sie ja die verschiedenartigsten und
gegensätzlichsten Zukunftswelten ersinnen würden, die sich sinnvollerweise
nicht leicht unter einen Hut bringen ließen, und überhaupt sei das eine
Einschränkung der künstlerischen Freiheit. Wenn aber Verleger mit Schecks
winken, sieht die Sache gleich anders aus. Butor hat jedenfalls den späten
Triumph, dass lange nach seinem Vorschlag sich viele Autoren unwissentlich
daran machen, seine Idee teilweise zu verwirklichen, wenn auch gewiss ganz
anders und aus anderen Motiven, als er es sich hätte träumen lassen.
Der deutsche Soziologe
Martin Schwonke verglich die SF-Autoren einmal mit Generalstäblern der
Zukunft, die nicht einen Schlachtplan für die kommenden Dinge entwürfen,
sondern Pläne für die verschiedensten Möglichkeiten und denkbaren Fälle. Die
Science Fiction
sei ja eine Literatur des Als-Ob, sie beschäftige sich nicht mit dem
Faktischen, sondern mit dem Raum hypothetischer Möglichkeiten, mit dem
Fakultativen. Sie erschüttere feststehende Gewissheiten, sie wage es, sich
auszumalen, dass die Welt auch anders sein könne als sie tatsächlich ist;
sie sei der unbequeme Mahner, die warnende Stimme, die rebellische Haltung,
die gegen den Stachel löcke und sich im Idealfall mit Dingen befasse, von
denen die übrige Literatur nichts wisse oder auch nichts wissen wolle.
Auf die Spitze getrieben,
und es hat solche Fanatiker gegeben, verkündet diese Absicht, dass wir es in
der Science Fiction mit einer Literatur zu tun hätten, wenn nicht mit einem
Denksystem, das so einzigartig sei, dass man die gewöhnlichen literarischen
Maßstäbe nicht darauf anwenden könne. Das führt zu absonderlichen und
sektiererischen Ansichten, zu einer Abkapselung von der übrigen Literatur,
die angesichts der wahren Errungenschaften der Gattung befremden, wenn nicht
Spott auslösen muss.
Es gibt meines Erachtens
keine eigenen Maßstäbe für die SF, die nur für sie und keine andere
Literatur Gültigkeit hätten; literarische Schwächen sind in ihr so wenig
entschuldbar wie anderswo, und zuvorderst ist auch die SF gute oder
schlechte Literatur und erst in zweiter Linie auch als SF bedeutsam oder
nicht.
Eine gewisse Berechtigung,
von der Sonderrolle der SF zu sprechen, gibt es nur da, wo man die
Frage etwas anders stellt, nämlich: Was ist jene einzigartige Qualität,
jenes spezifische Charakteristikum, das die SF auszeichnet? Wenn es keine
solchen Qualitäten gibt, dann erhebt sich zwangsläufig die Frage, wozu man
dann überhaupt die SF als eigenes Genre von anderen Literaturgattungen
abgrenzen sollte. Nur um des Marktes willen, um dem Leser eine leichte,
vorläufige Orientierung zu ermöglichen, damit er nicht um Gottes Willen
vielleicht an einen ganz gewöhnlichen Roman gerät?
Man muss vernünftigerweise
doch annehmen, dass es etwas gibt, was die SF von anderer Literatur
unterscheidet. Diese Eigenart kann sich meines Erachtens aber nur aus
inhaltlichen, nicht formalen Gegebenheiten ableiten lassen, die von der SF
erfüllt sein müssen. Denn erfüllt die SF nicht eine Aufgabe, beschäftigt sie
sich nicht mit Inhalten, die man in der übrigen Literatur schwerlich erfüllt
findet oder denen diese nur unzureichend nachkommt, wozu braucht man dann
eine SF?
Natürlich kann die SF, wie
jeder Text, den verschiedensten Zwecken dienen, etwa die Wissenschaft zu
popularisieren (oder sie zu verspotten), oder gewisse allgemeine
wissenschaftliche oder philosophische Thesen auszudrücken; sie kann ein
Gesellschaftssystem verteidigen oder es kritisieren, indem sie ein Zerrbild
jener Zustände entwirft, gegen die sie sich wendet. Sie kann verkleinern,
vergrößern, die Perspektive verrücken, um Dinge schärfer in den Blick zu
bekommen. Sie kann aber auch den Namen, den sie trägt und den viele für eine
unglückliche, sogar irreführende Bezeichnung halten, ernst nehmen und sich
tatsächlich mit der Wissenschaft beschäftigen. Das kann auch wieder auf die
verschiedenste Art geschehen. Nicht sehr anspruchsvoll ist die blauäugig
popularisierende Art belehrender Schriften für die Jugend, in denen mit
mahnendem Zeigefinger dieses oder jenes Faktum (keineswegs immer richtig)
dem Leser, der das Geschriebene mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen
verfolgt, zur Kenntnis gebracht wird.
Es kann aber auch auf der
sehr komplizierten, wissenschaftstheoretischen, philosophischen Ebene
geschehen, wie es etwa in Stanislaw Lems Die Stimme des Herrn der
Fall ist, der dem Autor fast zu einem philosophischen Essay gerät, welcher
den Grundlagen und Dilemmata hochtheoretischer Probleme nachspürt und sich
letztlich mit allzeit aktuellen, nie an Brisanz verlierenden Fragen wie "Was
ist Wahrheit?", "Was ist Realität?" oder "Woher wissen wir, was wir wissen?"
beschäftigt; etwa auch in Solaris von Lem oder vielen Büchern Philip
K. Dicks. Und dazwischen gibt es natürlich alle möglichen Stadien der
Komplexität.
Eine solche Ansicht, die
auf dem Namen "Science Fiction" beharrt, ist aber nicht, und derzeit
vielleicht weniger als je zuvor, in der SF-Literatur populär. Die
Wissenschaft, vorbelastet durch den pedantischen Umgang, den Hugo Gernsback,
einer der hausbackenen Stammväter der modernen SF, mit ihr pflegte, wird
verworfen, die Autoren wollen sich vielmehr mehr mit "menschlichen"
Problemen auseinandersetzen, etwa mit soziologischen oder "psychologischen".
Dagegen ist zweierlei zu sagen. Einerseits begeben sich die SF-Autoren damit
in Wettbewerb zu Schriftstellern wie, sagen wir, Musil oder Dostojewskij,
und man muss sich als Leser fragen, warum man dann nicht gleich zu den
anerkannten Meistern auf diesem Gebiet greifen soll; andererseits ist die
Absage an die "Wissenschaft" häufig nur ein Vorwand, von vornherein auf
etwas zu verzichten, ohne dafür auf anderem Gebiet etwas Vollgültiges
anzubieten, denn die gepriesene Psychologie gerät häufig sehr diffus
fantasy- und klischeehaft.
Gewiss hat der russische
Satiriker Wladimir Woinowitsch, der die Science Fiction verachtet (auch wenn
er für seine Satire Moskau 2042 diese Form wählen musste), recht,
wenn er sagt: Wenn man einen Roman liest, in dem sich jemand rasiert, so
wird uns keine Beschreibung geboten, wie dieser Rasierapparat funktioniert,
und das interessiere den Leser ja auch gar nicht. Und doch ist die Science
Fiction eine Literatur, die sich nicht mit der sichtbaren Oberfläche
begnügt, sondern sehr wohl berichtet, wie etwas funktioniert, wobei es wohl
ziemlich witzlos wäre, a priori Regeln aufzustellen, was die SF beschreiben
soll und was nicht. Gute Science Fiction versucht aber sehr wohl zu zeigen,
wie eine wissenschaftliche Theorie funktioniert, wie es um das soziale
Umfeld der Wissenschaft bestellt ist, wie eine ganze Gesellschaft
funktioniert (und nicht nur, welche Probleme der Einzelne hat); kurzum, es
gibt da einen theoretischen Hintergrund, der in manchen Romanen sehr
gewichtig und auch sehr interessant ist.
Als Beispiel führe ich
hier einen Roman an, der wohl SF ist, auch wenn er nicht als SF angeboten
wurde, und von einem Mann stammt, der sich einerseits in den
Wissenschaften auskennt (er ist der Ausbildung nach theoretischer Physiker),
andererseits aber auch durchaus literarischen Ehrgeiz zeigt. Ich meine den
Österreicher Michael Springer, der einen Roman namens Leonardos Dilemma
geschrieben hat. Darin gibt es eine Menge biologischer Erörterungen,
zuweilen kleine, lebendige Essays, aber die Hauptrichtung seines Romans geht
doch anderswohin: zu den Zwängen, vor allem den finanziellen, denen die
moderne Wissenschaft unterworfen ist, einerseits von der chemischen
Großindustrie, die sich neue, hoffnungsträchtige Produkte erwartet,
andererseits von den Militärs, die sich neue Waffen wünschen, und der
Deformierung, zu der diese Konstellation führt. Das ist es, was Springer
"Leonardos Dilemma" nennt.
Überdies findet man in
seinem Roman einige scharfsinnige Beobachtungen über die kleinen
menschlichen Schwächen und Eitelkeiten von Wissenschaftlern und über ihre
Fähigkeit, "sich zu verkaufen". Eine Fähigkeit, die sie haben müssen, um
ihre Projekte durchziehen zu können. Vom Feuilleton wurde der Roman schlecht
behandelt, besonders wegen seines wissenschaftlichen Gehalts, der den
meisten Rezensenten wohl nichts sagte; auch die Öffentlichkeit nahm ihn kaum
zur Kenntnis, weil er nicht als SF deklariert war.
Für den genauen Gegensatz
zu einem Roman wie Leonardos Dilemma halte ich den vor einigen Jahren
so erfolgreichen "Cyberpunk" in der SF, dessen wichtigster Vertreter William
Gibson mit seinen Romanen Neuromancer, Count Zero und Mona
Lisa Overdrive ist. Diese Romane beschreiben eine japanisierte,
hochcomputerisierte Zukunft, in der die Computer zu so alltäglichen
Gebrauchsgegenständen geworden sind – wie der von Woinowitsch angeführte
Rasierapparat –, dass niemand sich mehr über Prinzipien den Kopf zerbricht.
Kybernetik, was ist das? Man bedient sich ihrer einfach. Es gibt Fachleute,
die der Meinung sind, dass die Romane Gibsons ein wahres Abbild der zu
erwartenden Entwicklung sind, dass die Computer immer einfacher zu bedienen
sein werden, zugleich aber immer kompliziertere Aufgaben lösen können, ohne
dass die Anwender das Geringste von Kybernetik oder Programmieren zu
verstehen bräuchten.
So sind denn Gibsons
Helden auch keine gut ausgebildeten Spezialisten, sondern glorifizierte
"Hacker", Naturtalente, die im Grunde gar nichts von den Dingen verstehen,
aber alles intuitiv erfassen und anwenden können. Es sind Randexistenzen,
Ausgestoßene der Gesellschaft, Söldnertypen, Rauschgifthändler, gewalttätige
Straßenjungen; sie schalten sich einfach in Computernetze ein und führen
dort irgendwelche Operationen aus (meist solche, die hauptsächlich Kämpfe um
Geld und Macht zwischen Großfirmen betreffen). Sie bilden eine Halbwelt
voller Glanz und Glitter der kriminellen Szene. Schriftstellerisch ist das
zuweilen recht beachtlich, weil bildhaft und exotisch, eindrucksvoll wie
manche "hard-boiled" Thriller (die Helden geben sich auch alle abgebrüht) –
aber ernst genommen ist diese Art von Literatur in meinen Augen nichts als
Schaumschlägerei und ein modernes Märchen von Macht- und Gewaltphantasien.
Die amerikanische Kritik
lobt beispielsweise meist Gibsons soziale Phantasie, was merkwürdig ist,
denn es gibt in seinem Romanen überhaupt keine Gesellschaft. Es gibt nur die
meist japanischen Großkonzerne, die von exotischen, vor bizarren
Gewohnheiten strotzenden reichen Männern und Frauen kontrolliert werden
(Ähnliches findet man schon bei Alfred Bester), und andererseits gibt es die
Halb- und Unterwelt der Söldner, Computer-Cowboys, der illegalen Organ- und
Rauschgifthändler – nicht allzu verschieden von der heutigen amerikanischen
Rauschgiftszene.
Aber Gesellschaft gibt es
in dem Roman eigentlich keine, das heißt keine Leute, die arbeiten und
normale Berufe ausüben; zumindest interessieren solche Leute Gibson nicht,
wohl, weil sie nicht farbig genug sind. Das sind also Romane, die nichts als
bunte Oberfläche bieten, eine quasi-naturalistische SF, die zwar ihren
unstrittigen Unterhaltungswert hat, aber in der Hauptsache nichts ist als
durchgestylter Zeitgeist, der mit den wirklichen Problemen der Zukunft wenig
zu tun hat. Das ist, meine ich, nur eine technologisch gestylte Variante der
Fluchtliteratur, im Grunde genauso eskapistisch wie die
pseudo-ritterromantischen Welten vieler Fantasy-Schöpfungen. Dass aber die
ganze Auffassung vom Computer, der sich in diesen Romanen des "Cyberpunks"
zeigt, doch nicht ganz veristisch und realistisch ist, selbst wenn man die
Meinung des Autors teilen sollte, dass Intuition wichtiger ist als
rationales Kalkül, dass es mehr auf die Einfühlung ankommt als aufs Denken,
sieht man an der Tatsache, dass Gibson dem Cyberspace eine ontologische
Existenz zuschreibt, die er schwerlich haben wird.
Durch Gehinrkontakte und
Nervensonden schalten sich die Helden nämlich direkt in den Cyberraum ein
und agieren dort ähnlich, wie eine gezeichnete Figur in einer Comicwelt
agiert; wenn sie einander im Computer töten, ist das nicht nur ein Spiel,
sondern beeinflusst die Realität, und sie bleiben auch in Wirklichkeit tot.
Das ist ungefähr so, wie wenn man jemanden durchs Telefon umbringen wollte –
und in der Tat hat es in der Anfangszeit des Telefons einige navie
Kriminalromane gegeben, in denen Leute durch telefonische Fernwirkung
getötet worden sind. Heute werden dem Computer dieselben magischen
Eigenschaften zugeschrieben, er ist zu einer fast allmächtigen
Handlungsfigur geworden, zu einer Art säkularisiertem Gott.
Ich meine, dass diese
angeblich "wissenschaftliche" Fiktion, die sprachlich, im Erfinden von
Computer-Jargon, teilweise ja sehr beachtlich ist, nur eine andere Facette
der Abkehr vom Denken und der Vernunft ist, wie eine andere, die
Fantasy-Welle mit ihren magischen Kräften und Welten, nur hightech-gestylt;
und die Magier und Hexenmeister der Fantasy sind hier zu den
Konsolen-Cowboys geworden, die schicke Schlitten fahren und deren Körper
auch mit Maschinen durchsetzt sind (so haben sie zuweilen elektronische
Augen, und manche Frauen zeichnen sich durch einziehbare, mörderische
Stahlkrallen unter den Nägeln aus).
Intellektuelle
Herausforderung liegt darin keine, denn so wenig wie die Helden kann der
Leser wissen, was jene tun; es gibt keine nachvollziehbaren Überlegungen,
nur eine Bilderwelt von größter Beliebigkeit und Willkürlichkeit.
Auch in diesem Fall würde
ich dafürhalten, dass die beschworene Fremdartigkeit und Andersartigkeit der
SF-Welten zumeist nur eine mechanisch heruntergebetete Phrase ist. Im Grunde
wollen die Fans nicht etwas wirklich Neues und Fremdartiges, sondern es gibt
nur wechselnde Moden, wie das Produkt verpackt und angeboten wird, und sie
wollen im Grunde nur immer mehr vom Vertrauten. Echte Fremdartigkeit würde
sie ratlos machen und erschrecken.
Ein Indiz in dieser
Richtung sehe ich auch in der Prädominanz angloamerikanischer SF in so
ziemlich der ganzen Welt, die so weit geht, dass praktisch keine SF ins
Englische übersetzt wird. Wenn die Behauptungen vom Drang nach dem Neuen,
Fremden ernst gemeint sind, sollte man erwarten, dass die SF einen besonders
günstigen Nährboden gerade auch für fremdsprachige Literatur böte.
Ein SF-Autor aus China
oder Japan lebt nun einmal in einer Welt, die dem durchschnittlichen
europäischen oder amerikanischen Leser, auch wenn er noch gar nicht gezielt
eine Verfremdung anstrebt, schon sehr unvertraut vorkommen muss, also
irgendwie SF-artig an sich. Wie erst dann, wenn diese Autoren absichtlich
nach Fremdartigkeit streben! Und doch gibt es chinesische oder japanische SF
nicht in englischer Übersetzung, und europäische kaum. Was die SF-Fans
wollen, ist nur die vertraute SF, die Welten der ihnen teuer gewordenen
Autoren, die zumeist vertrauten, vorhersehbaren Mustern folgen, die schon
aus unzähligen anderen Romanen verwendet wurden. Sehr richtig hat Donald A.
Wollheim, ein amerikanischer SF-Herausgeber und Verleger, in seinem Buch
über die SF behauptet, dass die SF auf der SF aufbaut; anders gesagt, die
treibende Kraft der SF-Entwicklung ist nicht die Interaktion mit der realen
Welt, sondern die literarische Inzucht, die Kenntnis dessen, was andere
Autoren im Genre schon geschaffen haben und was dann nur variiert und
abgewandelt wird.
Die Auswirkungen des
Fortschritts der Naturwissenschaften auf die Science Fiction werden zumeist
überschätzt, sie beschränken sich häufig nur auf das Augenscheinlichste, das
schon den Weg ins Feuilleton gefunden hat. Früher waren in der SF die
sogenannten Blaster oder Strahlpistolen und zuvor überhaupt alle Arten von
Todesstrahlen sehr beliebt; die sind jetzt völlig verschwunden und von den
Lasern abgelöst worden, die zwar so ziemlich die gleichen Eigenschaften wie
ihre Vorgänger haben und kaum je beschrieben werden, aber so allgegenwärtig
sind wie seinerzeit die Blaster, so dass man daraus wohl schließen darf,
dass sich an der Sache nur die Benennung geändert hat.
Kaum mehr fortzudenken aus
der SF sind die Schwarzen Löcher, deren Kenntnis man sich bequem aus der
Presse aneignen kann – obwohl es auch Autoren gibt, die mehr beizusteuern
haben. Erwähnt sei hier der amerikanische Physiker und Autor Robert L.
Forward und auch Peter Schattschneider mit seinem Roman Singularitäten
gehört dazu.
Selbstredend erfreut sich
auch die Gentechnik großer Popularität, weil man auf dem Gebiet ebenfalls
mit sehr wenigen Vokabeln auskommt, wenn man sich den Anstrich von
Wissenschaftlickeit geben will. Gene sind sehr handlich, denn während einige
Kritiker und Leser, wenn auch nicht allzu viele, immerhin wissen, sie sich
Menschen psychologisch verhalten, gibt es keine Möglichkelt, wie man die
Gene eines fiktiven Charakters untersuchen könnte, weshalb die Autoren sich
gerne auf genetische Eigeschaften berufen. Bei Frank Herbert zum Beispiel
heißt es oft bedeutungsvoll, das sei der "Bene-Gesserit-strain".
Meist geht es den Lesern
und Autoren auch nicht um den Erkenntnisgewinn eines Gedankenexperiments,
den die Kritiker meinen, und der ja durchaus auch mit Lustgewinn verknüpft
ist, weil ein streng und schlüssig durchgeführtes Gedankenexperiment auch
ästhetische Befriedigung bedeutet, sondern bloß um Farbigkeit, den
Unterhaltungswert, der sich aus der Kombination möglichst exotischer
Elemente ergibt und der der überwiegenden Mehrzahl der Leser genügen dürfte.
Jene Leser, die
Unterhaltung erst aus einer geistigen Anspannung schöpfen, sich erst durch
eine höhere Stufe intellektuellen Spiels unterhalten lassen, sind leider
eine kleine Minderheit. Die meisten Leser empfinden solche Werke als zu
schwierig oder langweilig. Gerade die Psychologie und Soziologie in der SF
besteht zum Großteil aus Rankünen und Hintertreppengeschichten und jenen
Konflikten, die sich beim Schädeleinschlagen ergeben. An Erkenntnis bringen
sie schwerlich etwas, weil die "Lösungen" so willkürlich und so vage sind
wie die Prämissen, auf denen diese "Experimente" beruhen, bei denen Ablauf
und Ergebnis schon vorgegeben sind – durch die Spannungsmechanismen der
Trivialliteratur.
Vor allem muss man den
meisten Experimenten in der SF vorwerfen, dass sie ziemlich müßig sind, vor
allem, weil sie dem Komplexitätsgrad von Situationen des realen Lebens
selten nahekommen. Gerade in der SF sind die schrecklichen Vereinfacher am
Werk.
Beliebte Spielwiese der
Autoren sind denn auch gewisse Grenzgebiete wissenschaftlichen oder nicht so
wissenschaftlichen Forschens, bei denen praktisch keine Entwicklung
feststellbar ist, ja bei denen heute noch so umstritten ist wie je, ob es
den Gegenstand der Forschung überhaupt gibt. Ich meine hier das ganze Gebiet
der parapsychologischen Kräfte, die sehr schön in Schubladen abgelegt sind,
die da heißen Telepathie, Hellsehen, Telekinese, usw., von denen aber
niemand mit Sicherheit weiß, ob sie überhaupt funktionieren und wenn ja,
wie.
Gerade diesen Kräften aber
widmet sich die SF mit großer Begeisterung, und sie sind zu einem festen
Bestandteil unzähliger Zukunftsromane geworden, nicht wegen ihrer
gedanklichen Bedeutung, sondern weil sie wohlfeile und praktisch unbegrenzte
dramatische Möglichkeiten eröffnen. Und die natürlich gewissen menschlichen
Denkweisen, die offensichtlich unausrottbar sind, entgegenkommen: jenen
magischen Denk- und Wunschvorstellungen, die sich seit alters her in Mythen
und Märlein niedergeschlagen haben und die auch die Triebkraft sehr vieler
SF-Produkte sind, nur notdürftig mit dem Mäntelchen der Wissenschaft
versehen.
Ich habe gesagt, dass es
vielfach so ist, dass ein Autor umso geschätzter ist, je besser er das von
seinen Vorläufern und Kollegen geschaffene Repertoire beherrscht, zu dem er
neue Tricks und Haken hinzufügt. Die Erwarungshaltungen der Leser haben sich
im Lauf der Zeit verfestigt, sind eher versteinert als aufgebrochen worden,
so dass heute in den meisten europäischen Ländern, auch in denen, wo es
genügend Vorläufer im eigenen Land gibt, die SF als typisch
angloamerikanisches Phänomen gilt und Autoren aus anderen Ländern große
Vorbehalte entgegengebracht werden.
Wolfgang Jeschke, der
SF-Herausgeber bei Heyne, der umfangreichsten und erfolgreichsten SF-Reihe
im deutschen Sprachraum, hat einmal in einem SF-Magazin von seinen
Erfahrungen berichtet, wie die Leser auf die Publikation deutscher Autoren
reagieren. Nun darf man gewiss nicht verkennen, dass diese Romane und
Kurzgeschichten oft nicht sehr gut waren, und als Herausgeber ist man
zuweilen geneigt, gewisse Zugeständnisse zu machen, um hoffnungsvolle
Autoren, deren Werke vielleicht noch nicht voll befriedigen, die aber gute
Ansätze erkennen lassen, zu fördern.
Aber was es da an
Reaktionen der Leser gab, Protestbriefe an die Verlagsleitung zum Beispiel
und Beschimpfungen, warum denn dieses Zeug gebracht werde, was auf Kosten
der erstklassigen und reichlich vorhandenen angloamerikanischen SF gehe, das
geht auf keine Kuhhaut. Man solle doch diesen profilierungssüchtigen
Herausgeber hinausschmeißen, hieß es da etwa.
Am Niveau kann es
schwerlich liegen, denn nun ist die vielgepriesene amerikanische SF
handwerklich gesehen im Durchschnitt gewiss von weit besserer Qualität; nach
strengeren Maßstäben beurteilt aber auch wieder nicht so eklatant besser.
Die Ablehnung muss eher daran liegen, dass die Leser inzwischen ganz zur
amerikanischen Art von SF erzogen worden sind. Das Schicksal des Experiments
"New Wave" in England ist ja auch ein Beispiel dafür, wie wenig
experimentierfreudig das allgemeine geistige Klima in der SF und gerade bei
den eingeschworenen "Fans" ist.
Will man nun die ideale SF
beschreiben die man gerne hätte, die es aber kaum gibt, kann man sich
durchaus an die Bücher von Martin Schwonke (Vom Staatsroman zur SF),
H, J. Krysmanski (Der utopische Roman) und vor allem Lems Phantastik
und Futurologie halten, doch soll man sie, mit Ausnahme von Lems Abrechnung
mit der SF, nicht als Beschreibung des Ist-Zustandes nehmen, sondern als
Postulat.
Ich persönlich bevorzuge
durchaus auch jene SF, die man als Gedankenexperiment, als Ausprobieren und
Durchspielen neuer Möglichkeiten auf dem Papier, in der Fiktion, bezeichnen
könnte. Literatur also als Versuchslabor, gerade auch im Zusammenhang mit
wissenschaftlichen Möglichkeiten – das ist etwas, was man in der übrigen
Literatur kaum findet. Vielleicht, weil diese Dinge den Leser gewöhnlich
nicht interessieren, vielleicht auch, weil ihm die nötigen Kenntnisse
fehlen.
Damit füllt die Science
Fiction eine Lücke und hat (oder hätte) eine echte Funktion. Das Problem ist
nur, dass sie die "großen" Themen, die sie aufgreift, meist auf erbärmliche
Weise behandelt. Oft ist auch schon der Ansatz falsch; die Autoren
beschäftigen sich dann mit Dingen, die von vornherein nur zweitklassige
Literatur ergeben können. Poul Anderson hat beispielsweise einmal als Beweis
für "Wissenschaftlichkeit" angeführt, über biologische Möglichkeiten zum
Aufbau feuerspeiender Drachen nachzudenken. Wenn das mit vollem Ernst
beschrieben wird (humoristische und ironische Varianten sind eine andere
Sache), ist das Ergebnis ziemlich kläglich, nicht das jedenfalls, was ich
mir als Gedankenexperiment wünschen würde.
Oder die Autoren nehmen
eine Aussage buchstäblich, stellen also die Wissenschaft und die Magie
gegeneinander, nicht auf metaphorische Weise, als zwei verschiedene
Denksysteme, die um den Geist des Menschen ringen, sondern wortwörtlich:
Irgendwo in einer anderen Welt oder zu einer anderen Zeit ringen dann
Wissenschaft und Magie tatsächlich um die Vorherrschaft, wobei beide
gleichermaßen, wenn auch auf verschiedene Weise, funktionieren – nicht so
wie in unserer Welt, wo sich das Problem (außer in den Augen der Gläubigen)
sehr rasch dadurch lösen lässt, dass die Wissenschaft Resultate erbringt,
die Magie hingegen auf Menschen angewiesen ist, die an die Ergebnisse
glauben.
Eines ist auffällig an den
meisten Experimenten der SF: dass sie meist von Prämissen ausgehen, die eine
beachtliche Vorliebe für primitive, wenig entwickelte Gesellschaftsformen
aufweisen. Vor Kurzem las ich zum Beispiel einen von der amerikanischen
SF-Kritik recht gut aufgenommenen Roman, Nancy Kress' An Alien Light,
in dem sich auf einem anderen Planeten die Nachfahren irdischer Kolonisten
in verschiedene verfeindete Gemeinwesen aufgespalten haben. Eine
außerirdische, insektenhafte, mit Gruppenbewusstsein ausgestattete
außerirdische Rasse sammelt Vertreter dieser Gruppen ein und unterzieht sie
gewissen Tests, die ein groteskes Unverständnis für den Menschen verraten.
Natürlich kommen sie am Schluss zu der für sie überraschenden Erkenntnis,
dass die Menschen, so verfeindet sie sein mögen, doch auch zusammenarbeiten
können.
Nun ist es ja eine der
vornehmsten Aufgaben der SF, das Vertraute stellvertretend durch fremde
Augen zu sehen und es durch Perspektivwechsel, wie unter einem Mikroskop,
schärfer in den Blick zu bekommen. Der fremde Blick mag aufdecken, dass
Verhaltensmuster, die uns völlig vertraut und selbstverständlich sind und
deswegen nicht in Frage gestellt werden, keineswegs naturgegeben, sondern
historisch bedingt sind, von einer anderen Warte aus sogar lächerlich
erscheinen mögen. Das ist ja
die Methode Swifts in Gullivers Reisen und Voltaires in Micromegas;
aber wenn nur Banales zutage gefördert wird, wenn der bissige Witz fehlt,
ist die Sache mäßig. Aber häufig werden in der SF Selbstverständlichkeiten
und Binsenwahrheiten als große Entdeckung und tiefe Weiselt ausgegeben.
Streng genommen ist es ja so, dass viele der Probleme,
mit denen sich die SF beschäftigt, also etwa Entwürfe von Übermenschen, das
Schicksal ganzer Zivilisationen, der Kontakt mit außerirdischen denkenden
Wesen, die Schöpfung künstlicher Intelligenz, ganz außergewöhnlich behandelt
werden müssten; bloßer Durchschnitt ist hier zu wenig. Streng genommen ist
SF also etwas Außergewöhnliches, oder sie ist – anders als der Kriminalroman
– gar nichts.
Es ist leicht einsehbar,
dass ein Genre der Unterhaltungsliteratur, in dem jährlich mehrere hundert
Titel erscheinen, keineswegs solche Spitzenleistungen am Fließband erbringen
kann. Dem Leser bleibt nur die undankbare Aufgabe, aus dem vielen Geröll die
wenigen Edelsteine herauszusuchen, wobei es auch bei den besseren Autoren
die allergrößten Niveauunterschiede gibt. Verlässliche Führer gibt es leider
kaum, weil die Kritik die SF ignoriert und die meiste Kritik, die es gibt,
wiederum von Insidern verfasst wird, die meist selbst Autoren sind oder aus
dem SF-Umfeld stammen, so dass ihre Urteile häufig auch vom Parteiengeist
geprägt sind. Das Kriterium, das in der Praxis des Verlagswesens meist
allein zählt, ist die Verkäuflichkeit, nicht der Sinn oder die literarische
Qualität, weshalb die wenige informierte Kritik, die es gibt, keinerlei
Einfluss auf die Verlagspolitik hat. Und die Masse der Leser interessiert es
absolut nicht, was einige Wenige sich unter guter SF vorstellen oder ob
Autoren wissenschaftlich vertretbare und rein phantastische Elemente bunt
vermischt den Lesern vorsetzen.
Ich meine, dass an dieser
stärkeren Hinwendung zum Fantasyhaften sicher auch der Umstand eine Rolle
spielt, dass die SF, ursprünglich eine fast rein männliche Domäne (wiewohl
es welche gibt, die Mary Shelleys Frankenstein für das erste SF-Werk
halten), heute zunehmend von Frauen geschrieben wird (in den Lektoraten
dominieren Frauen sowieso) und dass immer mehr Frauen SF lesen. Frauen aber
bevorzugen romantische Stoffe und die Fantasy noch vor der SF im strengen
Sinne. Auch die männlichen Autoren reagieren auf diese Entwicklung, und es
geschieht immer häufiger, dass die Helden von SF-Romanen Heldinnen sind,
auch bei Autoren der sogenannten "hard science" von Carl Sagan (Cosmos)
bis zu Orson Scott Card, Gregory Benford und Greg Bear.
Ich frage mich, ob diese
Autoren wirklich so sehr mit dem Feminismus sympathisieren oder ob sie nur
opportunistischerweise dem Zeitgeist folgen, weil ihnen ihre Verleger und
Agenten gesagt haben, das könne sich absatzmäßig lohnen. In meinen,
vielleicht etwas voreingenommenen Augen hat das zur Folge, dass es jetzt
eine Unzahl dummer Frauengestalten in der SF gibt, und manchmal wundere ich
mich, wieso Feministinnen nicht gegen die Verunglimpfungen der Frau, die im
Namen der Frauenemanzipation erfolgen, protestieren.
Aber offensichtlich sind
auch die SF-Leserinnen in erster Linie Fans und kritische Leser erst in
zweiter, wenn überhaupt. Boshaft übertrieben sieht die beliebteste
Charakterisierung in der SF ja so aus, dass der Held einen Idioten mimt, von
ihm aber behauptet wird, er habe einen IQ von 10.000, wiewohl doch seine
Taten und das, was er (oder sie) sagt, eher auf fortgeschrittenen
Schwachsinn hinweisen. Also, um es kurz zu machen: Es gibt wohl einige neue
Entwicklungen in der SF, aber beileibe keine Aufwärtsentwicklung, sondern
bloß wechselnde Moden der Strickmuster. Als Unterhaltungsliteratur ist die
SF im Durchschnitt wohl glatter geworden, aber gewiss nicht substanzvoller
und problembezogener, und wirklich originelle Gedanken und Einfälle sind
eher im Schwinden.
Was sich vielleicht noch
stärker geändert hat als die SF selbst, ist die Kritik der SF, vor allem die
akademische, die es im deutschen Sprachraum kaum gibt, die aber in den USA
gewaltige Ausmaße angenommen hat Jetzt erscheinen jedes Jahr mehr
Sekundärwerke zur SF als es Anfang der 1950er Jahre Primärwerke gab. Aber
sie ist deswegen nicht kritischer geworden, sie verleiht nur akademische
Respektabilität (in gewissen Grenzen), und man könnte die Damen und Herren
Professoren im Lande des "publish or perish" genüsslich fragen: Ja, wenn die
SF nichts taugt, wie Sie sagen, warum beschäftigen Sie sich dann mit ihr?
Auch sind die ehemals kleinen Leser inzwischen groß geworden, und manche
davon sind eben auch Literaturprofessoren geworden, ohne die alten Vorlieben
abgelegt zu haben.
Der Hauptfaktor der
Entwicklung ist aber doch der, dass, was einst ein unwichtiger Nebenzweig
des Taschenbuchmarktes war, inzwischen zu einem nicht mehr zu übersehenden
Faktor in der Verlagsindustrie geworden ist, mit etlichen echten
Bestsellern. Bezieht man das verwandte Horrorgenre mit ein, gibt es unter
den Autoren sogar einige Superseller. Alle diese Entwicklungen sind der
literarischen Qualität wenig förderlich.
Einen Grund, warum jemand
unbedingt SF lesen müsste, kann ich nicht sehen. Es gibt so viele exzellente
Literatur, dass niemand im Leben die Zeit hat, sich auch nur mit einem
Bruchteil davon vertraut zu machen. Es ist in hohem Ausmaß eine Sache der
Vorliebe und der Neigung. Wer sich aber für gewisse Problematiken und
Sichtweisen der Welt interessiert, wird nicht umhin können, zumindest zu
einigen SF-Werken zu greifen, weil die übrige Literatur gewisse Dinge, die
in unserer Welt sehr wesentlich sind, einfach nicht zur Kenntnis nimmt.
Nicht jeder, der liest, will unbedingt die Nabelschauen von Schriftstellern
lesen.
Es gibt in der SF einige
interessante Entdeckungen zu machen, aber man muss sich auf harte Arbeit
gefasst machen, um die interessanten Werke zu finden. Ich glaube, die alten
Meister werden am wenigsten enttäuschen, also H. G. Wells, Karel Capek, Olaf
Stapledon; von den neueren sind Arkadi und Boris Strugatzki, Philip K. Dick,
J. G. Ballard – übrigens kein wissenschaftlicher Autor, aber ein wunderbarer
Symbolist – und vor allem Stanislaw Lem zu nennen, der sich wirklich mit den
Konsequenzen wissenschaftlichen Denkens auseinandersetzt, aber auch ein
Schriftsteller von überbordender Phantasie, Sprachwitz und Einfallsreichtum
ist.
Dieser – erweiterte und aktualisierte –
Artikel ist ursprünglich
erschienen in: Science Fiction. Werkzeug oder Sensor in einer
technisierten Welt. Hg. von Karlheinz Steinmüller und Peter
Schattschneider. Passau: Erster Deutscher
Fantasy Club e.V., 1995. S. 85-94. |