"Die
Betrogene", die sich in einen Mann verliebt, der ihr
"Sohn sein könnte" – das gibt
ihr ihre Tochter ausdrücklich zu bedenken –, trägt einen sprechenden oder
gewissermassen den duftenden Namen Rosalie:
"Die
Rosenzeit war ihre ganze Wonne. Sie zog die Königin der Blumen […] in
ihrem Garten, […] und immer standen […] auf den Etagèren und Tischchen
ihres Boudoirs Sträuße von wohlerquickten Rosen […]. Sie konnte lange,
mit geschlossenen Augen, ihr Gesicht in solchem Strauße bergen und, wenn
sie es wieder daraus erhob, versichern, das sei Götterduft; als Psyche
sich mit der Lampe über den schlafenden Amor beugte, habe sein Hauch,
hätten seine Locken und Wangen ihr Näschen gewiß mit diesem Wohlgeruch
erfüllt […]."
Angespielt ist hier auf
das Märchen von Amor und Psyche, wie es Apuleius von Madaura in seinen
Metamorphosen (2. Jh. n.Chr.) erzählt oder wie es Apuleius vielmehr gerade
nicht erzählt.
Denn genauer gesagt ist hier auf Psyches Verstoß
gegen das ihr auferlegte Verbot angespielt, den zu sehen, der bisher immer
nur im Dunkeln und identitätslos mit ihr schlief. Zwar könnte man sonst bis
in die Details aufzeigen, dass Die Betrogene eine einzige Nach-Erzählung,
Parodie oder Travestie des hier für einmal sogar namentlich aufgerufenen
Märchens ist. Aber ausgerechnet die eine Szene, in der das Märchen
ausnahmsweise bei den beiden Namen genannt wird, hat in diesem keine
Entsprechung. Nach "Wohlgeruch"
und "Götterduft" sucht man im
Märchen von Amor und Psyche ganz vergebens.
Dass
hier in Duft überführt wird, was Psyche dort nur sieht ("videt
[…] genas […] crinium globos"), entspricht dem
Verhältnis, in das Sehen und Riechen im unmittelbar folgenden Textabschnitt
geraten. Rosalie möchte, dass ihre Tochter, eine abstrakte Malerin, die
visual art dem Geruch dienstbar macht und "Düfte
in Farben" umsetzt. Im hieran wiederum unmittelbar
anschließenden Passus aber, der im Tagebuch den
Arbeitstitel "Düfte der Natur"
erhielt, integriert der Erzähler das Motiv der von der Protagonistin eben
noch so hoch geschätzten Gerüche dem eigentlichen, im Titel schon genannten
Thema des 'Betrugs', indem er
die "zweideutige Übergänglichkeit und Ambivalenz"
selbst des Wohlgeruchs vor Augen führt: "Aber auf
einem Spaziergang" ist die "Aus-dünstung"
von "Tierexkremente[n]" und
"Kadaver […] schon nicht mehr Gestank zu nennen,
sondern ohne Zweifel als Moschusgeruch anzusprechen".
Die Funktion des in der namentlichen Anspielung auf das Märchen
privilegierten, hier 'aber' so
trüglichen Geruchssinns lässt sich anhand dessen bestimmen, was in dieser
Anspielung zu Gunsten des Geruchs ausgeblendet, doch befremdlicherweise als
Ausgeblendetes immerhin noch benannt wird. Denn obwohl Rosalie selber in dem
der Märchenszene entsprechenden oder eben gerade nicht entsprechenden
'Augenblick' die Augen
ausdrücklich geschlossen hält und obwohl sie ihren Selbstvergleich mit
Psyche ja nur um des Wohlgeruchs willen zieht,
erwähnt sie darin dennoch Psyches Lampe. Dem Erklärungsbedarf, den diese
prima vista ganz überflüssige Erwähnung erzeugt, kann man über die
Interpretationsgeschichte des Märchens abhelfen, genauer gesagt über die
Bedeutung, die Johann Jakob Bachofen in seinem Versuch über die
Gräbersymbolik der Alten (1859) der Lampe, dem Licht und dem Blick der Frau
auf den Mann gab.
Bachofen hatte das Märchen
von Amor und Psyche im Rahmen seiner dreistufigen Kulturgeschichte bzw. der
darin vorherrschenden Metaphorik interpretiert, durch die er jede der drei
von ihm postulierten Makroepochen mit einem Himmelskörper assoziierte. Diese
drei Epochen, der 'tellurische'
Hetärismus, das 'lunarische'
Mutterrecht und das 'solarische'
Vaterrecht, sind durch den Grad bestimmt, in welchem sie Licht ins Dunkel
der väterlichen Herkunft bringen und die Ungewissheit der Vaterschaft
beseitigen. Den im Kunstlicht der Lampe ermöglichten Blick der Frau auf den
jetzt identifizierbar gewordenen Mann verstand Bachofen nun als Überwindung
des finsteren Hetärismus, d.h. einer totalen Promiskuität, bei der es Väter
gar nicht geben kann. Lampe, Licht und weiblicher Blick stehen nach Bachofen
somit für den Durchbruch zum Mutterrecht. Dieses habe die monogame Ehe
etabliert, habe die Identität der Kinder aber noch matrilinear bestimmt und
sei deshalb seinerseits nur "Durchgangspunkt"
zum Vaterrecht, der "höchsten"
aller Kulturstufen – ein Superlativ, den Thomas Mann unterstrichen und mit
einer Bände sprechenden Randglosse versehen hat: "also
doch".
Wenn nun in seiner Anspielung auf "Psyche […] mit der
Lampe" der Blick der Frau fehlt und durch Riechen
verdrängt wird, so entsprechen dem sehr genau die anderweitigen Anleihen bei
Bachofen. Rosalie besitzt z. B. ein feines Sensorium "für
alles weibliche Leben"; sie hat die Fähigkeit,
"[e]ine Schwangerschaft […] im alleranfänglichsten
Stadium" auszuwittern (in der älteren Schicht der
Handschrift sogar "die Reinigungstage der Damen ihrer
Bekanntschaft"). Wie ihre Tochter lebt sie in
Ehelosigkeit; denn der Gatte und Vater starb einen fadenscheinigen
"Heldentod", "ganz
zu Anfang des Krieges, nicht im Gefecht, sondern auf recht sinnlose Weise
durch einen Automobilunfall, doch konnte man trotzdem sagen: auf dem Felde
der Ehre". Ihrer Tocher ist Rosalie ungleich näher
verbunden als ihrem Sohn, dem sie in kaum verhohlener Gleichgültigkeit
begegnet. Diese – von Bachofen so genannte – "Auszeichnung
der Schwester vor dem Bruder" zeigt sich besonders
auch in einem offenen Austausch über das weiblich Intime der Menstruation.
Deren Tabuierung übrigens lässt Sigmund Freud, ein anderer Bachofen-Leser,
kulturgeschichtlich mit der "Entwertung der
Geruchsreize" zusammenfallen: "Deren
Rolle" habe an dieser absoluten "Schwelle
der menschlichen Kultur" der Blick "übernommen".
Das alles weist auf eine
'hetärische' Kulturstufe hin.
Für diese, so Bachofen an einer von Thomas Mann wieder angestrichenen
Stelle, seien "Mythen von der Mischung des Sohnes mit
der Mutter" typisch. Und der natürliche
"Prototyp des ehelosen Muttertums"
sei die "wilde [ ] Sumpfvegetation".
Das Bild oder vielmehr der Geruch des Sumpfs, der in seiner Zwanghaftigkeit
keinem Bachofen-Leser entgehen kann, spielt denn auch in jenen Passus
"Düfte der Natur" hinein. Der
"Genuß" solcher
"mit Feuchte"
"getränkt[er]" "Düfte"
wird explizit mit "feucht-warme[r]"
Witterung und unterschwellig, aber ziemlich unmissverständlich mit dem
weiblichen Genital assoziiert: Die Gerüche dringen aus dem "Schoße"
"der Natur" und
"eine[r] gestreckte[n]",
"dicht bewachsen[en]"
"Bodenfalte".
Eine "Sumpfzypresse" sodann,
die an einen "feuchten Wiesenweg"
zu stehen kommt, findet sich als einziger unter allen aufgezählten Bäumen in
keinem der für die Ausarbeitung der Erzählung herangezogenen Texte. Und die
Schwäne in einem Teich, für Bachofen kultursymbolisch bedeutungsträchtige
"Tier[e] der Sümpfe" und
"Sumpfgewässer", sind in einem
dieser Texte zwar schon vorgegeben, schwimmen hier aber, anders als dort, in
gleichsam versumpfendem, nämlich auf "schleimige[m]
Gewässer".
Auf
die "Sumpfstufe" des
Hetärismus weist bereits die zeitlebens notorische Promiskuität des jetzt
toten Vaters. "[D]essen öftere Abweichungen von der
Richtschnur ehelicher Treue" werden gleich im ersten
Abschnitt vermerkt und dort eigens als "Merkmal"
"nur" eben "überschüssiger
Rüstigkeit" und also keiner jemals innigeren Bindung
gewissermaßen entschuldigt. Auf dieselbe
"Sumpfstufe" deutet auch die
Blume, die Rosalie im Namen führt: "Die schnell
verriechende Rose" figuriert bei Bachofen, in
unmittelbarem Zusammenhang mit den Mythen "von der
Mischung des Sohnes mit der Mutter", als
"Sinnbild" des Hetärismus
(auch diese Stelle hat Thomas Mann angestrichen). Und auf den Hetärismus
spielt vollends der kultische Aufwand an, den Rosalie mit dieser
"Königin der Blumen" betreibt
– eine im Kontext matriarchaler Phantasien natürlich ihrerseits vielsagende
Metapher –; und zwar betreibt sie solchen Aufwand im "Boudoir"
als einem Männern per definitionem verschlossenen Bereich. Den deutlichsten
Hinweis aber auf den Hetärismus gibt die unmittelbar zuvor erwähnte
"Windbestäubung"; handelt es
sich dabei doch um "eine Art der Befruchtung",
bei der die 'Paarung' von
"Blütenstaub[ ]" und
"weibliche[r] Narbe" gänzlich
dem Zufall überlassen bleibt und welche so das Prinzip aller Vaterschaft
ausschließt: "eine Art der
Befruchtung, die ihr, Rosalie, "besonders anmutig
schien".
Weil sich im Motivarsenal der Betrogenen so viele 'hetärische'
Elemente finden und weil Thomas Mann andererseits die eminente Wichtigkeit
des Lichtmotivs in der Rezeptionsgeschichte des Märchens von Amor und Psyche
genau kannte, muss der 'blinden'
Stelle in der Anspielung auf dieses Märchen ein hoher Bedeutungswert
zukommen. Dieser ergibt sich aus Bachofens ideologischen Voraussetzungen.
Denn Bachofens Kulturtheorie lässt nicht einfach nur Männerphantasien und
-ängste erkennen, sondern ineins damit auch etwas von der sozialen Identität
des Autors. Bachofen stammte aus dem Basler Teig; und aus einer tief
sitzenden Revolutionsangst dieser so schmalen wie hoch privilegierten
Oberschicht scheint schon die Grundvoraussetzung seiner Kulturstufenlehre
gespeist zu sein: "Jeder Wendepunkt in der
Entwicklung des Geschlechterverhältnisses" sei
"von blutigen Ereignissen umgeben, die allmähliche
friedliche Fortbildung viel seltener als der gewaltsame Umsturz".
Den im Rahmen solch einer
Katastrophentheorie scharf eingrenzbaren Kulturepochen ordnete Bachofen
bestimmte politische Systeme zu: dem Vaterrecht z.B. das römische Kaisertum
und dem Hetärismus mit seiner "Abwesenheit jedes
Eigentums" und seiner "allgemeine[n]
Brüderlichkeit aller Menschen" den "Fluch
der Demokratie". Diese Gleichung wiederum, neben die
Zeichen der Zeit gehalten – Bachofen und Marx gehörten ein und derselben
Generation an –, drohte das ganze Konzept der Stufenlehre zu widerlegen, die
optimistische Vorstellung eines irreversiblen Fortschritts vom Hetärismus
zum Prinzipat der Patriarchen und Patrizier. Den Widerspruch zwischen den
Tendenzen der Zeitgeschichte und seiner Kulturtheorie bewältigte Bachofen,
indem er den für seine Theorie grundlegenden Fortschrittsgedanken gegebenen
Orts, und auch diese Stelle hat sich Thomas Mann angestrichen, kurzerhand
durch die fatalistische Konzeption eines zyklischen Geschichtsverlaufs
ersetzte: "Das Ende der staatlichen Entwicklung
gleicht dem Beginn des menschlichen Daseins. Die ursprüngliche Gleichheit
aller kehrt zuletzt wieder. Das mütterlich-stoffliche Prinzip des Daseins
eröffnet und schließt den Kreislauf der menschlichen Dinge."
Dass die Privilegierung des Geruchssinns in der Betrogenen vor genau diesem
Hintergrund zu sehen ist, lassen schon die ersten Worte der Novelle
vermuten, die als einziges Werk des Autors mit einer Zeitangabe beginnt:
"In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts".
Die 'hetärische' Anwandlung
der deutschen Aristokratin wird auf die aus dem verlorenen Krieg
hervorgegangene Republik festgelegt, die deutschen Frauen z.B. das Wahlrecht
brachte und welche hier in gewissermaßen ursächlichen
Zusammenhang mit der unwiderruflichen Abwesenheit der Vaterfigur, mit
Rosalies rechtlicher und ökonomischer Selbständigkeit zu stehen kommt. Die
Leidenschaft der Frau für einen viel jüngeren und sozial tieferstehenden
Mann bricht im Zeichen einer historischen Periode aus, die Bachofen als
Rückfall auf "[d]as mütterlich-stoffliche Prinzip"
bezeichnet hätte.
Die
Blendung des Blicks und die Privilegierung des 'primitiven'
Geruchssinns stehen also nicht nur in Zusammenhang mit dem Betrug und
Selbstbetrug der "Betrogene[n]",
welche das "Tageslicht"
ausdrücklich als "ein so falsches, so gänzlich
irreführendes Licht" denunziert und sich weigert, der
Aufforderung ihrer Tochter zu folgen und ihren sehr durchschnittlichen
Geliebten auch "nur einen Augenblick"
in diesem "Tageslicht"
"zu sehen". Über die sozusagen
negative Anspielung auf das Märchen von Amor und Psyche und dessen
Bachofensche Deutung geraten Geruch und Duft in eine prägnante Beziehung zur
Zeit des Geschehens. Der 'blinde'
"Genuß" "betäubend[er]"
Düfte erscheint als Regression in den Hetärismus. Er gewinnt dadurch eine
Bedeutung, die bei Bachofen so zwar eben nur ansatzweise vorgegeben ist, die
sich aber aus Bachofens Apuleius-Interpretation ganz von selbst ergibt. Die
Bedeutung, welche Thomas Mann in seinem letzten vollendeten Werk dem Geruch
verliehen hat, lässt sich so gelesen auf die Formel einer Marginalie
bringen, mit der er selber Bachofen einmal glossiert hatte:
"Reaktionärer Pferdefuß."
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in: "UniPress" (Universität Bern).
www.kommunikation.unibe.ch/publikationen/unipress.html |